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Die kleine Glocke klingt

Am nächstem Morgen brachte der Bademeister mir einen mit Bleistift geschriebenen Brief.

Er wog sonderbar schwer in der Hand.

Es war eine mir unbekannte Damenhandschrift.

Ich stutzte, erbrach ihn –

Eine Metallmarke vom Kriminaldienst der Polizei fiel heraus, darauf war diese Nummer gestanzt:

Nr. 13

und auf der andern Seite:

Morddezernat des Kgl. Polizeipräsidiums.

So hatte also meine Stunde geschlagen.

Die Polizei war mir auf den Fersen.

Nun, ich war bereit und gefaßt.

Als die Nachtigall durch das Fenster geflogen war, als ich Marianne, die selber noch ein halbes Kind war, das Kind an die jungfräulichen Brüste gelegt, als der Teufelsbeschwörer den Teufel in mir beschwor, da hatte ich den Entschluß gefaßt: mein Verbrechen an Maria zu sühnen, mich selbst dem Gericht zu stellen, und die Strafe, die die Gesellschaft über mich verhängen würde, in Demut und Würde zu ertragen.

Und ich las den Brief:

»Lieber Mensch!

Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Als ich am Bett der kindlichen Wöchnerin Dein schrankenloses Bekenntnis vernahm und Deinen Willen zur Buße; ja, Du warst die Buße selbst: die Sünde ohne Sünde – da fühlte ich auf einmal brennend meine unlöschbare Schuld.

Ich war Deine Schwester gewesen, und ich hatte Dich betrogen vom ersten Tage meines Schwesterntums an, ja, noch vorher. Ja, noch mehr: ich hatte Dich belogen mit meiner Liebe, Dir meine Liebe vorgeheuchelt und vorgespielt, und das schlimmste getan, was ein Mensch dem andern anzutun vermag. Ich glaubte, meine Pflicht zu tun gegenüber Gott und den Menschen – und ich genügte nur dem Gebot einer verrotteten und verkommenen Gesellschaft, die sich von den armseligen und bemitleidenswerten Schächern und Verbrechern, die sie selbst erst gezüchtet und großgezogen, dadurch befreit, daß sie ihnen Bluthunde auf die Spur hetzt. Ach, der Abschaum der Menschheit sind die, die diese Blut- und Polizeihunde ableiten und ausschicken.

Ich war ein solcher Bluthund, eine solche Bluthündin, auf deine Spur gehetzt, weil die Gesellschaft, durch Denunziation aufgestachelt, deinen Kopf forderte.

Ich sollte Dich überführen; revolutionärer Umtriebe sowie des Mordes an Deiner Frau.

Ich sollte Beweise schaffen, Indizien, gleichviel, Deinen Tag und Deine Nacht, Deine Träume und Deine Fieberphantasien ausspionieren. Ich sollte mich Dir, ging's anders nicht, hingeben und mit vergifteten Küssen Deine Lippen lösen.

Du bist ein Mörder – vielleicht – aber ein Mörder ohne Tat. Der Mord, der geschah, geschah ohne einen Täter. Es sei denn, daß Gott es war. Er ließ es zu, daß Kain den Abel erschlug und daß man seinen Sohn ans Kreuz nagelte.

Ich aber bin ärger als ein Mörder.

Ich habe Dich betrogen mit meiner Liebe – bis ich Dich eines Tages wirklich lieben lernte.

Man forderte Deinen Kopf – ich fand Dein Herz.

Ich sollte Judith spielen. Aber ich bringe mich um meinen eigenen Kopf. Denn ich spielte sie schlecht und Holofernes wird noch lange den seinen auf den Schultern tragen.

Als ich meine unsühnbare Schuld Dir gegenüber erkannte, da stürzte ich aus dem Zimmer, in dem ein leidendes Menschenweib lag wie ich, in dem der Teufelsbeschwörer Dich beschworen hatte, ein abgeschmackter Charlatan und tiefsinniger Weiser zugleich – wie wir alle. Da stürzte ich heraus, mein Herz zerbrach und mein Hirn ergriff ein hitziges Fieber.

Das Fieber hat mich heute verlassen.

Ich weiß, was ich zu tun habe.

Ich war irregeleitet.

Du hast mich auf den rechten Weg gebracht.

Hab Dank.

Komm ein letztes Mal zu mir auf Zimmer 13 heute Abend, wenn die kleine Glocke klingt.

Hyacinthe.«

Und eine Visitenkarte lag in dem Brief, die war mitten durchgerissen. Ich legte die Hälften zusammen und las:

Eva Zumbusch,
Detektivin,
vom Kriminaldienst Abt. III.

– Die Tränen, die ich weinte, waren Freudentränen.

Ich hatte eine Schwester und Geliebte verloren – und in reinerer, edlerer Gestalt wiedergefunden.

Ich wartete den ganzen Tag auf das Glockenzeichen.

Abends gegen neun begann die kleine Glocke zu läuten. Und ich ging durch die nur halb beleuchteten Gänge.

Mein Körper warf bedrohliche Schatten, vor denen ich mich fürchtete, an die Wände: Teufelsfratzen, Gorillas, Riesenkänguruhs, Höhlenmenschen, Tiere aus dem wunderlichen Wald.

Ich klinkte leise an Nr. 13, ohne zu klopfen:

Da lag Hyacinthe, still und blond und schön wie je. Ein unirdisches Lächeln blühte auf ihrem blassen Antlitz wie eine weiße Hyacinthe. Es duftete nach Hyacinthen.

Ich ging auf den Zehenspitzen auf sie zu: »Hyacinthe,« flüsterte ich, »du hast mich gerufen, da bin ich ...«

Sie antwortete nicht. Nur ihr Lächeln antwortete.

Ich faßte ihre Hand, die über den Bettrand hing.

Sie war kalt wie damals, als ich sie im Sanitätsauto in der meinen hielt.

Ich küßte ihre Lippen: zum ersten und letzten Mal.

Unaufhörlich bimmelte die kleinen Totenglocke.

Draußen, im Park, sang eine Nachtigall.


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