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Der erste Gehversuch

Da stand ich allein im ungeheuren Raum und wußte nichts mit meiner Existenz anzufangen. Der Raum wölbte sich über mir wie eine Kuppel des Michel Angelo, gigantisch in seinen Maßen, streng in seinen Gesetzen, vollendet und doch endlich. Ein Riese mußte mit seinem Kopf dröhnend an das Gewölbe des Himmels schlagen.

So wenig es eine ewige Zeit gibt, die Ewigkeit, so wenig gibt es einen unendlichen Raum, die Unendlichkeit, dachte ich. Wir leben in einem Weltenraum, der 999 Millionen Sonnensysteme umfaßt; in einem von diesen Systemen spielen wir auf der Erde unsere jämmerliche Rolle: Schmierenschauspieler, die sich als Könige und Propheten mit goldenen Flittern und bunten Fetzen auftakeln. Wir sollten unsere Nase einmal über das Mikroskop beugen und den Wassertropfen beobachten: da ziehen wie die Sterne im Weltenraum Infusorien und Rädertiere die gleiche Ellipsenbahn. Und jeder Erdkrümel zeigt den gleichen Pendelgang an. In der Pflanze wandert der Protoplast mit Kern und Körnern unermüdlich. So wandert auch der Mensch wie Stern, Infusorie und Protoplast und jede Zelle des Menschen in ihrem Kreise wieder für sich sie gleiche Wunderbahn. So wandert die Seele: und sieht vom Stern auf den Erdkrümel, und sie bekommt Schwindelgefühle. Und blickt vom Rädertier im Erdkrümel zum Menschen empor, und ihr wird seekrank.

Wehr- und hilflos war ich der wilden Welt wieder preisgegeben.

Keine Mauern waren mehr da, die mich behüteten. Kein kleines Fenster, das das Licht abblendete und nur gedämpft und gefiltert in meine kranken Augen ließ.

Unerträglich brannte die Sonne. Ich mußte jeden Augenblick die Augen schließen.

Ich machte kehrt und läutete am Anstaltsportal.

Der Kopf des weißhaarigen Portiers mit seiner alten zerschlissenen Soldatenmütze zuckte wie ein phantastischer Schlangenkopf aus dem kleinen Fenster.

»Was wollen Sie?«

Ich kniete nieder:

»Nehmen Sie mich wieder in meine Zelle auf – die mich beschützte – vor der Welt – vor mir selbst.«

Der Portier feixte.

»Sind Sie verrückt? Sie sind entlassen. Die Irren-, Krankenhäuser und Gefängnisse sind überfüllt. Wir können keine überzähligen und überflüssigen Kostgänger brauchen.« Sein Mund zog sich wie ein Ochsenmaul breit:

»Stehlen Sie ein Fahrrad oder schlagen Sie jemand tot und dann kommen Sie wieder!«

Das Fenster klirrte.

Ich taumelte durch die Straßen.

Die Leute sahen mir nach, wie ich mich an den Häusern entlangtastete und Furcht hatte, über einen freien Platz zu gehen.

Einige Ladenmädchen, die aus dem Geschäft kamen, lachten. Aber da traf sie ein Blick von mir, daß sie erschraken.

Was sollte ich tun? Was sollte ich denken? Ich wußte es nicht.

Die Dämmerung stieg wie grauer Nebel aus dem Pflaster auf.

Ich gelangte in einen öffentlichen Park.

Ich suchte die dunkelste Bank und setzte mich.

Ich weiß nicht, wie lange ich gesessen hatte, als eine zarte Stimme neben mir fragte:

»Willst du mich lieben?«

Ich sah auf und sah die Silhouette eines Mädchens.

Ich sah weder ihr Gesicht noch ihr Alter.

»Ich kann nicht mehr lieben, Mädchen. Ich habe allzusehr geliebt.«

»O«, sie lachte leise, »wenn es weiter nichts ist.«

Sie tastete nach mir und begann zu spielen.

Dann setzte sie sich zärtlich auf mich, hüpfte ein wenig und liebte mich, als wäre ich eine Frau und sie ein Mann. Ich ließ es schweigend geschehen.

Ein wenig passives, physiologisches Glück – was weiter? Hatte ich noch einen Willen zum Glück?

Sie setzte sich neben mich und brachte ihr Gesicht dicht an das meine:

»Glaubst du nun, daß du noch lieben kannst?«

Ich schwieg.

»Warum schweigst du?«

Sie sah, daß ich einen kurzgeschorenen Kopf hatte.

»Wo kommst du her?«

Ich schwieg.

»O, ich weiß es, wo du herkommst. Du kommst aus dem grauen Haus. Ist das wahr oder nicht?«

Ich schwieg.

»Du brauchst mir gar nicht zu antworten, ich weiß es bestimmt. In diesem Park sitzen immer auf den dunkelsten Bänken die, die eben aus dem grauen Haus entlassen sind, das ein paar Straßen von hier liegt. Sie wissen noch nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Sie suchen das Dunkel. Aber – ich zeige ihnen im Dunkel einen Stern. Den Stern der Hoffnung.«

Ich fand das, was sie sagte, reichlich sentimental und schwieg noch immer.

Sie machte eine Pause, dann:

»Bist du ein Zuhälter? Willst du der meine werden? Ich brauche einen starken Kerl. Und schwach bist du im grauen Haus nicht geworden.«

Sie prüfte meine Muskeln.

Ich brach das Schweigen.

»Ich bin ein Mörder.«

Ich fühlte, wie sie stutzte.

Dann pfiff sie leise durch die Zähne.

»O lala, das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Da bekomme ich ja allen Respekt vor dir. Ich war mal mit einem Mörder verlobt, der hieß Munk. Und ich habe auch ein Kind von ihm, das heißt Christian, der schönste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Er ist jetzt siebzehn Jahre alt und leider etwas blödsinnig. Wie lange hast du denn Knast geschoben?«

»Ein Jahr.«

»Totschlag mit mildernden Umständen?«

»Nein.«

Sie stutzte wieder.

»Dann hast du dem Vater Philipp Ade gesagt, ohne ihn zu fragen?«

»Nein – ich bin freigesprochen worden.«

Sie lachte.

»Junge, Junge, hast du ein Glück. Das müssen wir feiern. Hast du Geld?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Macht nichts. Ein paar Kröten habe ich noch. Geben wir sie dem ›Blauen Affen‹ zu schlucken.«


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