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Der Weg ins Freie

Am nächsten Morgen erwartete ich Marianne am Ausgang der weiblichen Abteilung.

Sperlinge und Kinder schrien und tanzten in der Sonne, es war über Nacht Frühling geworden, irgendwo – Wunder der Großstadt – schlug eine Nachtigall.

Marianne ging neben mir, hüpfend, sie zählte die Straßensteine ab und spielte das uralte Spiel Himmel und Hölle im Schreiten.

Ich trug das Kind auf dem Arm, das mit beiden Händen in die Sonne griff.

Ich würde und wollte Arbeit finden, ganz gewiß. Mit dem Leben mußte Ernst gemacht werden. Ach, jetzt begann es ja erst: in den Augen dieses schönen Mädchens, dieses heitern Kindes; noch nie war dieses Leben, Rausch der Liebe, Fanfare der Pflicht, Himmel über tausend Höllen, gelebt. Mit diesem Frühlingstag heute würde es beginnen. Eine neue Weltepoche würde ab heute datieren. Das erste Jahr begann. Meine Lunge dehnte sich:

Freiheit! Nicht mehr zurückblicken! Die Ketten waren gesprengt. Noch strahlte die Sonne, noch atmete meine Lunge, noch schlug mein Herz: wie eine Nachtigall.

Um für heute Geld zu haben, etablierte ich mich als wilder Kofferträger am Anhalter Bahnhof. Ich verdiente fünfzig Mark.

Als wir am Abend in einer kleinen Wirtschaft gegessen hatten, auf dem Weg zu einer billigen Unterkunft im Norden waren und die Brücke am Reichtagsufer überquerten, lag dort unter der Laterne ein Mann.

Ich dachte zuerst, er sei besoffen.

Ich gab das Kind Marianne, trat näher und fuhr zurück.

Ich glaubte, wie in einem Spiegel mein eigenes Gesicht gesehen zu haben.

Der Mann, der da lag, war tot. Und der Tote hatte eine wunderliche Ähnlichkeit mit mir.

Da durchzuckte mich blitzschnell eine wilde Freude, ein mystischer Plan.

Der Tote war elegant und konnte für mich in meinen früheren abgelebten Zeiten wohl gelten.

Ich faßte in seine Brusttasche, öffnete die Brieftasche: sie enthielt einen Paß, lautend auf Andreas Z....., geboren 1891, berufslos. Ich nahm den Paß an mich und steckte meinen Heimatschein, der mich bisher legitimiert hatte, dem Toten in seine Tasche.

So hieß ich denn von jetzt ab Andreas Z..... und war mein erstes Ich gestorben und begann mein zweites, anderes Ich.

Das Kind auf dem linken Arm, den rechten um Mariannes Schultern gelegt, über die die langen blonden Zöpfe niederrollten, daß sie aussah wie ein Schulmädchen, ging ich am nächsten Morgen zum Schlesischen Bahnhof, in das erste Frührot eines lauen Frühlingstages hinein.

Aus der Asche des Yenkadi stieg ich phönixhaft zu neuem Flug.

 

Die Morgenblätter brachten die Nachricht, daß der Doktor X....., der kürzlich einen schweren Blutsturz erlitten, weiteren Kreisen als origineller Coupletdichter sowie auch von seinen Gastspielen auf dem Podium her bekannt, in der vergangenen Nacht auf der Brücke am Reichtagsufer tot aufgefunden worden sei.

Da der Verstorbene nicht beraubt und kein Anzeichen eines gewaltsamen Todes festgestellt wurde, müsse man einen Schlaganfall vermuten. Mit lebhaftem Bedauern nehme die Presse von seinem unerwarteten Hinscheiden Kenntnis.

 

Ich trage mein Schicksal nicht auf den Händen vor mir her. Diese Augen brennen nach innen, und dieses Herz schlägt unter der Haut. Weil diese Stirn so glatt: ist das Hirn innen um so verrunzelter, und dieses klare Auge ist mit dunklen Schmerzen erkauft. Viel Tränen, die kein Mensch erblickte, haben es so klar gewaschen. Wenn man aufmerksam zusähe, würde man unter meinen blonden Haaren einige weiße finden. Die Spuren meiner Gefängnis-, Kranken- und Irrenhauszeit sind verwischt und verweht im Sande wie Fuchsschritte im märkischen Kiefernwald.

Wind und Wolke und Welt streiche ich mir von den Wimpern, wenn ich will. Wer kann mir in den Magen sehen, daß er Risse hat vom Hungern?

Ich stehe an der Schwelle des dreißigsten Jahres, und sehe und höre ich zurück, so braust und rast ein brauner Strom mit weißen Gischtkämmen: wie Inn oder Bober im Hochwasser. Und sehe ich nach innen: so ist's der gleiche Strom, nur von fremden Lichtern bestrahlt, die von weither fliegen wie exotische Glühkäfer. Und lausche ich nach vorn: es ist das gleiche Rauschen. Aber ich schreite über den Wassern wie einst Christus auf dem See Genezareth. Ich tanze, ich hüpfe, ich springe und ich schreite. Ich falle ins Knie, aber ich springe wieder auf die Füße: und schreite. Und unten saust der Strom, über den ich Charon die Seelen von Maria und Marianne zutreiben sollte. Ich höre Charon staken und fluchen. Sein Boot ist leer. Der Strom trägt mich wie ein trottoir roulant.


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