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Das blutende Herz

Als ich erwachte, fand ich mich in einem dahinjagenden Auto. Ist dies etwa eine Kinoaufnahme und fährt das Auto vielleicht gar nicht wirklich und wird es vielleicht nur von zwei Männern hin und her geschaukelt, um die Illusion des Fahrens hervorzurufen?

Ich beugte mich ein wenig nach vorn.

Ich sah den Chauffeur durch das Glasfenster. Sah Häuser und Bäume und Menschen und Haltestellen der Straßenbahn vorüberlaufen.

Das Auto fuhr wirklich.

Ich lehnte mich im Polster zurück – da spürte ich eine Hand auf meinem Hinterkopf.

Ich wandte mich zur Seite:

Eine mir völlig unbekannte Dame saß mit mir im Auto. Ich wollte sprechen, da legte sie den Finger auf die Lippen zum Zeichen, daß ich schweigen solle.

Und da spürte ich auf einmal einen faden süßlichen Geschmack im Munde – wie damals, als ich mit Munk Blutsbrüderschaft getrunken hatte – und nun besann ich mich wieder: Ich hatte im Kabarett einen Blutsturz gehabt – aber was war vorher gewesen?

Ich konnte mich nicht besinnen.

Ich schloß die Augen. Schlug sie wieder auf und bemerkte, daß noch ein dritter im Auto anwesend war: ein Herr, dessen Züge ich nicht zu enträtseln vermochte, weil er im Schatten der Dame saß.

Durch einen zarten Händedruck wurde ich an ihre Anwesenheit erinnert. Ich erwiderte den Händedruck zärtlich. »Wer sind Sie, die Sie sich meiner so liebreich annehmen?«

Die Dame legte die Finger an die Lippen:

»Sprechen Sie nicht! Sie müssen sich schonen. Übrigens geht es Sie nichts an, wer Sie lieb hat.«

Und aus dem Dunkel tauchte die Stimme des Herrn:

»Hyacinthe, sage dem Herrn, er soll schweigen. Wenn er redet, wird er wieder einen Blutsturz bekommen.«

Ich schwieg, denn diese Stimme hatte einen Klang, der zum Schweigen fast zwang. Sie klang aber weder angenehm noch peinlich, weder gut noch böse, weder schön noch häßlich, sondern gänzlich irrelevant.

Ich sah aus dem Fenster.

Das Auto fuhr durch den Tiergarten.

Schnee lag auf dem Rasen und Eis hing an Zapfen von den Bäumen.

Schnee mildert den Schmerz, dachte ich, und wußte nicht, warum ich das dachte.

Schnee fällt aufs Herz wie Erde auf den Sarg und wie Tränen aufs Sterbebett.

Ich zermarterte mir den Kopf.

Einmal müssen Tränen am Sterbebett geflossen sein.

Einmal muß Erde auf den Sarg gefallen sein. Einmal muß Schnee aufs Herz gerieselt sein.

Vor meinen Augen spannen sich rosafarbene Schleier. Rote Spinnen saßen an den Punkten, wo die Fäden sich knüpften. Alles, was ich sah, war in zarte rosa Karos geteilt, wie ein Bauernlaken, wie ein Schachbrett. Schach der Dame, dachte ich.

Ich konnte nicht weiter denken. Ich war von dem Blutsturz allzu benommen.

Aber wie ich mich zu der Dame an meiner Seite kehrte: weiteten sich meine Augen vor Entsetzen.

Ich sah nichts als ihre schwarze Silhouette und in dieser schwarzen Silhouette ein rotes zuckendes Herz.

Und dieses Herz – blutete.

Schnee fiel draußen hinter dem Wagenfenster und schien in das blutende Herz zu fallen, wo die weißen Schneeflocken sich in blutrote Tränen verwandelten.

Weinte wer um mich?

»Es ist nicht wahr«, schrie ich, »ihr Herz lebt nicht mehr! es kann nicht mehr leben! da ich es in einer Winternacht im Schnee vergrub –«.

Das Herz brannte wie eine rote Ampel im schwarzen Wagen.

Der Schnee fiel: auf die Welt, auf den Wagen, auf mich.

Schwarz ist die Nacht,
und rot ist das Herz,
und weiß, so weiß ist der Schnee –

Bis an den Hals ging mir der Schnee, da sank ich in Ohnmacht.


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