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Im Obdachlosenasyl

Todmüde vom Hin- und Herlaufen ohne Zweck und Ziel betrat ich spät abends das Obdachlosenasyl.

Als ich in den Baderaum sah, erwachte das Reinlichkeitsbedüfnis mit mehr als physischer Kraft in mir. Du mußt wieder rein werden, dachte ich, ja, das mußt du: ein sauberer, ein reiner, ein reinlicher Mensch.

Ich schloß mich der Kolonne an, die in den Baderaum strömte. Ich zog mich aus. Währenddessen wurden meine Kleider in einem riesigen, dampfenden Kessel entlaust.

Dann stand ich eine Viertelstunde unter der kalten Dusche. Ach, das tat wohl.

Am Eingang des Schlafsaales empfing ich einen Eßnapf und eine dünne Decke. Es herrschte eine dicke, stickige Wärme: wie damals, als ich durch den wunderlichen Wald schritt. 0! wie lange war das her! So sehr ich mich auch anstrengte: ich konnte mich nicht mehr besinnen.

Ich lag an der Wand der Frauenstation.

Eine vernagelte Türe trennte sie von der Männerstation.

Klopfsignale von beiden Seiten.

»Kamerad«, sagte einer neben mir, der sein Hemd beim trüben Licht flickte, »wart' das Dunkel ab. Dann brechen wir die Tür ein. Liegen hübsche Weiber drüben.«

Jemand spielte Mundharmonika.

»Frühmorgens, wenn die Hähne kräh'n –«

Einige sangen mit.

Da klang Gesang aus der Frauenabteilung.

Die Mundharmonika verstummte.

Und klar und vernehmlich klang es durch die Wand:

Ich war'n junges Ding,
Man immer frisch und flink,
Da kam von Borsig einer,
Der hatte Zaster und Grips.
So hübsch wie er war keiner
Mit seinem roten Schlips.
Er kaufte mir 'nen neuen Hut
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber. Tralala.

Ich immer mit'n mit.
Da ging der Kerl verschütt.
Als ich im achten schwanger,
Des Nachts bei Wind und Sturm,
Schleppt ich mich auf'n Anger,
Vergrub das arme Wurm.
Es schrie mein Herz, es brannte mein Blut,
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber. Tralala.

Jetzt schieb ich auf'n Strich.
Ich hab' nen Ludewich.
In einem grünen Wagen
Des Nachts um halber zwee,
Da ha'm sie mich gefahren
In die Charité.
Verwest mein Herz, verfault mein Blut,
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.

Schwamm drüber. Tralala.
Krank bin ich allemal.
Es ist mir allens ejal.
Der Weinstock, der trägt Reben,
Und kommt 'n junger Mann,
Ich schenk ihm was für's Leben,
Daß er an mich denken kann.
Quecksilber und Absud,
Wer weiß, wie Liebe tut.
Berlin, o wie süß
Ist dein Paradies.
Unsere Vaterstadt
Schneidige Mädchen hat.
Schwamm drüber. Tralala.

Es wurde dunkel und still, hüben und drüben.

Röcheln, Atmen, Husten, Schnarchen, Seufzen.

»Du«, jemand stieß mich im Dunkeln ungeschickt an. »Kamerad, hilf, wir brechen die Tür zur Frauenabteilung auf ...«

Wir stemmten uns.

Einer kommandierte wie beim Pfählerammen oder Steinepflastern, aber ganz leise:

Eins – hupp – eins – hupp –

Die Tür gab nach.

Wie Wanzen liefen fünf, sechs Männer herüber und hatten bald ein Weib im Arm.

Ich kroch langsam und tastete mich an ein Frauenlager, gleich an der Wand, dem meinen gegenüber.

Und wie ich mein Gesicht dicht über die ruhig und tief schlafende Frau beuge, die ein Kind im Arm hält, erkenne ich, daß Marianne es ist, die ich mit meinem Herzen als Kompaß und mit meiner Sehnsucht gesucht habe alle die Tage: Marianne, mein Mädchen, und unser Kind.

Und schweigend halte ich wie der Cherub Wache an ihrem Lager.


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