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Der Mann mit dem Handkarren

Ein Mann mit einem Handkarren trabte vorüber.

Als er mich im Schnee knien sah, die Hände nach vorn gestützt – von weitem mußte ich wie ein Hund aussehen – hielt er an:

»Nanu? Sind Sie besoffen? Sie haben wohl in der Charité zuviel Kleinkinderspiritus gesoffen? Oder haben Sie einen Sechser im Schnee verloren?«

Da erblickte er die Blutlache im Schnee.

Er schüttelte den Kopf.

»Du lieber Gott – was es doch heutzutage für hartherzige Menschen gibt. Da läßt man einen armen Schwindsüchtigen so einfach mir nichts dir nichts im Schnee verrecken.« Er nahm mich unter meine Arme, zerrte mich hoch und verfrachtete mich auf seinen Handkarren.

Mit einem alten Überzieher, der auf dem Karren gelegen war, deckte er mich zu, und als Kopfkissen diente ein Pappkarton, der klapperte und schepperte, als er ihn unterschob.

»Wo wohnen Sie?«

Ich nannte ihm meine Hausnummer.

»Das ist ganz in meiner Nähe ... hier, den Sack müssen Sie aber festhalten, daß er nicht herunterkullert.«

Und er schob neben mich auf die Karre einen ziemlich schweren Leinwandsack.

Als ich ihn wie ein Kind in meine Arme nahm, spürte ich durch die Leinwand hindurch eine eiskalte Menschenhand.

Und diese Hand war zart und schmal wie ihre Hand.

Ich war einer Übersteigerung von Gefühlen wie Schmerz, Entsetzen, Ekel, Furcht, nach den Erlebnissen dieses Abends nicht mehr fähig.

Still und steif lag ich da.

Ein eisiger Wind wehte über meine Stirn: in blitzschnellen, scharfen Stößen.

Mir war, als stände ich auf Mensur, ohne Waffe, wehrlos, und alle paar Sekunden führe mir der scharfe, spitze Schläger meines Gegners in Stirn und Wangen.

Aber kein Blut rann. Es schien in der grauenhaften Kälte sofort zu gefrieren.

Wer war mein Gegner? Wer strebte, mich unerbittlich zu vernichten?

Gott! Gott!

Vom Teufel war ich ausgesandt als funkelnde Fregatte und landete bei Gott als abgetakeltes Wrack.

Der Mann schob den Karren.

Der Wind ließ nach.

Die Wolken in den Lüften lösten sich. Immer mehr Sterne kamen zum Vorschein. Sie ordneten sich symmetrisch in goldenen Facetten zu einem riesigen Fliegenauge, das starr auf mich herniedersah.

Am Reichstagsufer hielt der Mann an.

Er horchte in die Nacht.

Das Fliegenauge war verschwunden. Wie Eisblumen glitzerten die Sterne am Himmelsfenster: dahinter Musik erklang, kaum hörbar, wie wenn in weiter Ferne Grillen zirpen.

Die Spree floß leise.

Verschlafen und fröstelnd drückten sich die Häuser aneinander.

Mit einem Ruck hatte der Mann den Sack vom Wagen gerissen und über das Geländer der Brücke gestülpt.

Ein dumpfer, stumpfer Fall auf die klatschenden Wasser. Er lauschte wieder einen Moment.

»Gut takko!«

Er rieb sich die vor Frost blauen Hände und schob den Karren auf den Straßenbahngleisen weiter.

»Sind Sie ein Verbrecher?«

Ich fragte es müde und irgendeiner Auflehnung, Aufregung oder Empörung nicht mehr fähig.

Er sprach vor sich hin als spräche er nur zu sich selbst:

»Da liegt die alte Frau im Sterbehemd aufgebahrt auf der Chaiselongue. Es hat geschneit den ganzen Tag, jetzt ist es Abend, und die Sonne stürzt und stürmt mit einem goldenen Aufschrei durch das geöffnete Fenster. Ein junges Mädchen, meine Braut, steht vor dem Spiegel und kämmt sich die langen Haare, Tränen in den Wimpern. Die alte Frau hat schneeweißes Haar. Es hat geschneit den ganzen Tag. Ihr ganzes Leben lang. Ihr Körper ist der eines jungen Mädchens: zart, schlank und von erstaunlichem Teint. Das Mädchen am Spiegel wendet sich zuweilen zu der Toten und je nachdem ihr Blick auf deren Gesicht oder Brust fällt, lächelt sie oder verzieht schmerzlich oder ein wenig böse die Lippen. So werde ich auch einmal da liegen, auf andere Weise gestorben, aber Tod ist Tod, denkt sie: in einigen Jahrzehnten – oder Jahren – oder Monaten? Wer weiß? Übermorgen ist Tanz in den Zelten und ich werde tanzen gehen.

Ich sitze am Bett und denke, wen ich schon alles sterben sah, und daß das Sterben wohl bitter, daß aber der Tod, wenn sich nach Stunden die Glieder vom Todeskampf gelöst haben, süß sein müsse. So wie die Glieder auseinanderfallen, wenn man endlich eingeschlafen ist.

Das Mädchen am Spiegel probiert ihre Frisur.

Dann wendet sie sich zu mir und sagt:

Komm, wir müssen gehen.

Ihre Stimme erstirbt, denn sie hat Furcht.

Ich drücke ihr die Hand, sehr fest, und ich bemerke, daß ich keinerlei Mitleid habe mit der Toten. Es gibt Schmerzen, die jede Fähigkeit zu einer weiteren Steigerung ausschließen und die alle Schmerzen, die andere empfinden könnten, als geringfügig ansehen lassen. Zwei Jahre sind es her, daß mein geliebtes Wesen mir dahinstarb, und was damals starb: das war Jugend, Glück, Zukunft. Hier auf der Ottomane liegt eine alte Frau, die ihre Bestimmung erfüllt hat und von der man in der Erinnerung sprechen wird: Die gute, alte Frau. Aber damals sagte man: Die schöne, junge Frau ... Was damals starb, starb unter dem siderischen Zeichen. Der Genius löschte seine Fackel in der Erde. Die Sonne erlosch. –

Ein Luftzug weht durchs Fenster.

Einige Schneeflocken fallen auf das schneeweiße Haar der toten alten Frau.

Das Mädchen tritt vom Spiegel.

Sie tritt ans Bett und küßt, ein wenig schaudernd, der Toten die Stirn und dem Lebenden, küßt mir die Lippen.«

Er schwieg und schob den Karren.

Der Karren knirschte im Schnee.

Ich öffnete die Augen, die ich während der Erzählung geschlossen gehalten hatte.

»Haben Sie keine Furcht, daß ich Sie verraten könnte?«

Der andere schüttelte den Kopf.

»Als Sie da im Schnee lagen – in ihrem Blut – fühlte ich, daß Sie ein Kamerad von mir seien. Ich sah Ihre Augen einen Moment im Schein der Gaslaternen.«

»Und –?«

»Sie haben ein linkes Auge, das man nicht vergißt, wenn man einmal hineingesehen. Und dieses linke Auge – es ist das Auge über dem Herzen – verrät dem, der sehen kann, wer Sie sind.«

Ich lächelte schwach.

»Und was haben Sie in meinem linken Auge gesehen?«

»Das Bildnis einer ermordeten Frau hängt in der Pupille ...« Ich machte keinen Versuch zu einer Widerlegung dieser abenteuerlichen und phantastischen Behauptung.

Ja: konnte ich sie überhaupt widerlegen?

Ich schwieg.

Der Karren knarrte.

Die Sterne begannen wie kleine silberne Glocken zu klingen.

»Wer war das, den Sie über die Brücke warfen?«

Er drehte den Kopf in einer Spirale wie ein widerkäuender Papagei.

»Eine gute alte Frau. Neunundsiebzig Jahre. Sie wohnte in der Krausnickstraße 23. Wir warteten in ihrer Wohnung, bis sie nach Hause kam. Dann stieß ich ihr das mit Aether getränkte Taschentuch in den Mund. Sie besaß ein kleines Winkeljuweliergeschäft. In dem Pappkarton, auf dem sie liegen, sind einige Schmuckstücke, die mich interessierten: eine lederne Tasche aus schwarzer Menschenhaut, eine Halskette aus javanischen Kinderknochen, in Platin gefaßt, und ein goldnes Halsband, dessen einzelne Glieder echte, verglaste Menschenaugen sind.«


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