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Das Nachtpfauenauge

Es ist halb zwölf Uhr mittag. Ich sitze an meinem Tisch. Ich habe nur einen Tisch: er ist mein Arbeits-, mein Spiel-, mein Eßtisch. Die kleine gelbe Lampe brennt: mein Zimmer geht nach hinten auf den Hof und hier wird es nie Tag. Auf dem Hof stehen die seit vielen Wochen nicht abgeholten Mülleimer. Die Müllkutscher streiken. Ich darf das Fenster kaum öffnen, sonst weht der Wind eine gelbe, samumähnliche, übel duftende Wolke in mein Zimmer. Ich bin sehr früh aufgestanden heute. Sonst pflege ich bis zwei, drei, ja manchmal bis vier, fünf im Bett zu bleiben.

Das heißt: ein Bett besitze ich nicht. Dazu hat das Zimmer keinen Platz. Es ist eine Art Schlafsofa.

Es ist kalt im Zimmer. Draußen pfeift der Ostwind. Das gelbe Licht der Lampe tut mir wohl. Es erinnert mich an ein Zimmer weit unten im Süden, wo man nicht fror und wo der gleiche gelbe Lampenschirm um die Lampe hing. Maria selbst hatte ihn aus einem Fetzen Seide zurechtgeschnitten. Seitdem ist mir die Sonne zuwider und dieses gelbe Licht mir grade recht.

Bis jetzt hielt ich die Augen geschlossen. Nun öffne ich sie und sehe ein wenig verwundert mich wieder in die Welt gestellt. An der Wand ein Kupferstich: Liebesfrühling. Ein Portokassenkavalier in römischer Tunika, der sich über ein etruskisches Barmädchen neigt. Ein Bücherschrank mit einer Glastür, dahinter man die Büchertitel lesen kann. Der Schrank ist stets verschlossen. Denn die Bücher gehören meinem Wirt.

Das Zimmer riecht ein wenig nach aromatischem Essig; damit reibe ich mich früh ab, weil ich des Nachts leicht in Schweiß gerate.

Es hat vorhin geklingelt, und ich habe das Gefühl, daß irgendein Telegramm oder ein Expreßbrief für mich auf dem Korridortisch liegt. Ich habe dem Mädchen verboten, mich zu stören. Soll ich nachsehen? Es ist wohl gleich. Manchmal mache ich Telegramme vier Wochen nicht auf. Vielleicht ist das Haus mit den Eselsköpfen eingestürzt oder eine Brandkatastrophe hat es verheert. Es ist mir alles gleich. Womit ich keine Banalität gesagt haben will. Sondern: es – ist – alles – gleich. Ich bin mein Schicksal, und dieses Telegramm wird mich so wenig aus dem Gleichgewicht bringen wie der Tod eines geliebten Menschen oder mein eigener Tod. Ich bin über den Tod und über mich hinaus. Ich habe zu viel gelitten. Es ist alles nur noch da, mich zu bestätigen: der Ostwind, der aromatische Essig, die gelbe Lampe, die geliebte Frau, der Tod.

Als ich Maria zu lieben begann, da wußte ich mit einer schmerzlichen, bitteren und süßen Gewißheit vom ersten Tage an: daß ich sie töten würde. Töten: ohne Absicht, ohne Bewußtsein um Zweck und Ziel. So wie Munk mich hatte töten wollen, als er mit einem Messer auf mich losging, weil ich um eine Antwort verlegen war.

Das Schicksal stellte eine Frage an mich, und ich tötete Maria – weil ich um eine Antwort verlegen war. Ich wehrte mich mit aller meiner seelischen Kraft gegen die Todeswünsche, die ich gerade in den holdesten Augenblicken der Erfüllung und Vollendung für sie hatte. Als wäre es gestern geschehen, so erinnere ich mich jener Sommernacht am Silbersee. Ein betäubender Wohlgeruch von Blumen und Sternen lag in der Luft. Die Blumen strahlten. Die Sterne dufteten. In meinen Ohren zirpen noch die sommerlichen Grillen. Wir lagen auf der Veranda, nur in die veilchenblaue Dämmerung gehüllt. Maria lächelte, daß ich ihr Lächeln körperlich spürte: »So glücklich bin ich, daß dieses Glück nicht dauern kann.« Ich wandte den Kopf.

Der gleitende Flügel eines Nachtpfauenauges hatte mich berührt.


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