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Der steinerne Gast

Ich zog mir meinen Mantel an und ging auf die Straße. Der erste Schnee hatte das Pflaster mit einer dünnen weißen Glasur überzogen. Die Engel im Himmel zupften Scharpie. Es gab so viele Wunden zu verbinden: in allen Welten, bei allen Wesen: dies- und jenseits. Am Halleschen Tor kaufte ich bei einer Zeitungsverkäuferin, wegen ihres roten Gesichtsausschlages Tomate genannt, eine Zeitung. Die neuesten politischen Ereignisse interessierten mich nicht, ich blätterte nur hinten im Anzeigenteil nach den Trauerannoncen, ob einer gestorben sei, der meinen Namen trüge. Ich bin abergläubisch wie ein Wilder. Der Tag fing mit einer schlimmen Vorbedeutung an. In der Tat: es war jemand gestorben. Der Direktor einer Aktiengesellschaft. Fünf Nachrufe waren abgedruckt: von der Familie, dem Aufsichtsrat, den Beamten, dem Büropersonal, der Arbeiterschaft. Fünfmal las ich meinen Namen mit einem Trauerrand umgeben. Ich nahm den Hut ab. Die Tomate meckerte: »Sie werden sich den Kopf erkälten, Herr. Es schneit.« Ich bog in die Belle-Alliance- Straße. Der Friedhof lag mitten in der Stadt, wie eine mittelalterliche Festung von einer roten Mauer umgeben. Noch im Tode werden die Menschen kaserniert. Außerhalb der Mauern haben, im Leben wie im Tode, nur die Verfemten, die Verbrecher, die Mörder und Juden ihre Stätte. Ich klinkte das verrostete Friedhofstor, das sich ächzend in den Angeln drehte wie eine überjährige Tänzerin. Ich schritt den Hauptgang entlang. Alle Gräber hatte der Schnee mit zartem, weißem Spitzentuch bedeckt. Ihr Benedeiten! Ihr Seligen! Ihr ruht! Ich taumle, fiebere, brenne noch immer. Ihr himmlisch Kühlen! Paradiesisch Schweigsamen! Ich fühle eine Schlinge um meinen Hals, eine Schlange um meinen Hals wie ein Derwisch. Die Schlinge über das Horn des Mondes geworfen – und die Erde muß von hoch oben betrachtet tief unten aussehen.

– Ich spürte, daß ein Schatten hinter mir her war. Der Friedhof menschenleer.

»Wer bist du?« rief ich.

»Weder Freund noch Feind«, tönte die Antwort.

Ich wagte nicht, mich umzusehen.

»Du verfolgst mich.«

»Du ziehst mich hinter dir her.«

Ich verließ die Hauptallee und trat in einen Seitengang, der bis zur Mauer führte. Dort an der Mauer lag ein Grab, das ich liebte und fürchtete. Das ich seit Monaten nicht mehr besucht hatte. Eine weiße Marmortafel wies den Namen: »Maria«, sonst nichts.

Ich setzte mich auf die Umfassung des Grabes.

Der Schnee fiel auf die Erde, durch die Erde auf den Sarg, durch den Sarg auf das Herz. Schnee fiel auf das Herz.

Der Schatten stand drohend hinter mir.

Drüben auf der Straße, über der roten Mauer, war ein Fenster offen. Eine Klavierlehrerin übte mit einem Zögling die Don-Juan-Ouvertüre.

»Hier liegt Donna Anna, Donna Maria begraben«, sagte der Schatten. Ich spürte seinen eisigen Atem im Nacken. »Du hast sie unter die Erde gebracht. Hüte dich, daß der steinerne Gast dich nicht zum Totenmahl ladet.«

Ich blickte auf.

Neben mir stand die steinerne Statue eines Roland über einem Soldatengrab. Der steinerne Ritter musterte mich feindselig. Jetzt bewegte er die Wimpern. Ich hörte seine Rüstung knacken. Sein Auge blinzelte schwer gegen das Schneelicht. Dann hob er schwerfällig und plump die Beine und stieg vom Sockel. Das Schwert in seinen beiden Armen erhoben, wankte er auf mich zu. Schreiend sprang ich auf und floh in der Richtung des Ausgangs. Am Portal hielt ich atemlos inne. Das Geklingel einer vorbeifahrenden Straßenbahn beruhigte mich. Wie lächerlich ich war. Daß ich meine Nerven schon gar nicht mehr in der Gewalt hatte. Ich fieberte. Vermutlich darum sah ich schon am hellen Tag Gespenster.

Ich sah mich vorsichtig um.

Der steinerne Gast war mir gefolgt.

Das Herz stand mir still. Ich konnte ihm nicht mehr entgehen. Er trat auf mich zu:

»Darf ich um Feuer bitten?«

Es war der Friedhofswächter, eine kurze Pfeife im Mundwinkel. Er trug einen weißen Schafspelz.


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