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Die transparente Dame

Am gleichen Abend erlitt ich gegen zehn Uhr im Kabarett »Grüner Pinsel« ganz plötzlich jenen Blutsturz, über den die Presse ja berichtet hat – übrigens in einer Weise, die mich nicht sehr geschmackvoll berührte. Der Komiker Kontack, ein Mann mit einem Holzkopf, aber mit einem goldenen Herzen, sang gerade das populär gewordene Schiebercouplet vor einem Auditorium von Schiebern, das sich rasend gebärdete und den Refrain heiser mitbrüllte. Da geschah es.

Ich saß im Publikum. Man kannte mich nicht. Ich hatte die Hände an die Stirn gelegt und fühlte mein Blut hämmern: da sah ich zwei Augen auf mich gerichtet, von denen ich wußte, daß sie mich schon lange gesucht hatten. Vielmehr: ich sah diese Augen zuerst nicht, sondern ich spürte, daß zwei Augen im Saal die meinen sehen wollten. Wenn du hinsiehst, sagte ich mir, so geschieht etwas. Die Decke fällt ein. In Berlin bricht die Pest aus. Europa geht unter. Du bekommst einen Herzschlag. Oder du bist gezwungen, vor diesen Augen, vor diesem Publikum zu exhibitionieren. Irgendetwas Fürchterliches, Unvorstellbares würde geschehen. Denn diese Augen sind die einzigen Augen, vor denen ich nicht bestehen kann. In diesen Augen liegt: mein ganzes Leben. Meine Schuld. Meine Sehnsucht. Meine Verzweiflung, meine Liebe, mein Verbrechen.

Diese Augen sind ihre Augen.

Und es schauderte mich, wenn ich daran dachte: daß sie ja tot sei – aber ihre Augen noch am Leben sein müßten, denn diese Augen waren scharf, hell und klar auf mich gerichtet.

Augen an sich, so meditierte ich aber sofort, vermögen nicht zu leben. Augen schweben nicht in der Luft wie Schmetterlinge, obgleich diese Augen etwas Falterhaftes an sich hatten. Augen, wenn sie sehen sollen, müssen in einem Menschenkopf sitzen, müssen durch den Sehstrang und Sehnen mit dem Hirn verbunden sein. Augen sind nicht an sich da.

Diese Meditation gab mir den Mut, mit einem Ruck in ihre Augen zu sehen – und ich mußte über meine Furcht, meine Beklemmung lächeln. Die Augen, in die ich sah, lächelten mir liebend und lieblich zu. Sie gehörten einer jungen Dame von etwa achtzehn Jahren, die ein paar Tische von mir entfernt saß mit einem Herrn, dessen Gesicht mir verbarg, weil es von dem breiten Rücken eines dicken Lederhändlers oder derben Butterschiebers verdeckt war. Da hörte ich, wie sie halblaut zu ihrem Partner, mit einem schnellen Blick zu mir, sagte:

Das ist er –

Der Schweiß trat mir auf die Stirn.

Was bedeutete dieser Ausspruch?

Was wußte die mir völlig unbekannte Dame, daß sie es wagen konnte – war sie eine Detektivin? Die Kriminalpolizei soll sich neuerdings modernisiert haben: vielleicht war die junge blonde Dame ein Detektiv.

Da begann das Publikum zu klatschen, die Dame klatschte heftig mit, indem ihre Blicke mich mehrmals leise streiften, und nun wußte ich, was sie mit ihrem mysteriösen Ausspruch gemeint hatte – ich war wirklich schon recht nervös, daß ich hinter den einfachsten, klarsten Vorgängen Doppeldeutigkeiten und Doppelsinn suchte. –

Kontack hatte ja soeben ein Couplet von mir gesungen, und daß die Dame mich, vielleicht vom Kabarett her, da ich selbst in meinen Couplets aufzutreten pflege, kannte: das war nicht gar so erstaunlich. Es kannten mich wohl noch mehr Leute im Saal, das heißt: man kannte mich ganz oberflächlich. Von meinem wirklichen und wahren Leben hatte niemand auch nur die geringste Ahnung oder Vorstellung. Ich mußte im Gedanken daran, daß niemand mich kannte, laut lachen, was einige Gäste veranlaßte, entrüstet »Pst« zu rufen. Ich dämpfte mein Lachen zu einem Lächeln, das ich zu jener blonden Dame hinüberschickte und erhob mein Weinglas, um ihr heimlich zuzutrinken.

Sie bemerkte den Gruß und erwiderte ihn leicht. Ein hübsches Abenteuer, dachte ich mir. So ganz mein Geschmack. Sie ist jung, schlank, blond, und da sie weiß, wer ich bin, wird sie auf mich fliegen. Es wird keine Schwierigkeiten und langen Auseinandersetzungen geben. Dafür bin ich nicht zu haben. Es blieb bloß noch zu bedenken, wie ich sie von dem Mann am Tisch loszureißen vermöchte.

Plötzlich stand sie auf.

Ah! ein erfreuliches Zeichen. Famos, das läßt sich gut an. Sie warf mir einen Blick aus saphirblauen Augen hinter langen Wimpern zu und schritt – sie saß am rechten Tisch an der Bühne rechts – vom Bühnenlicht hell aus dem dämmerigen Zuschauerraum gehoben, an der Bühne vorbei.

Und da geschah es.

Sie hatte das Licht im Rücken.

Jetzt wandte sie mir die Vorderseite zu, nachdem ich sie einige Schritte im Profil gesehen.

Und ich sah, das Blut erstarrte und gefror mir in den Adern, die Dame völlig transparent. Ich sah durch ihre Kleider und ihr Fleisch hindurch und ich sah nur: ein Skelett und einen Totenkopf, und in dem Totenkopf brannten ihre Augen.

Ich hatte mich ursprünglich erhoben, ihr zu folgen, da fühlte ich plötzlich, wie das starre Blut in meinen Adern sich löste, ein Feuerstrom begann in mir zu rasen, im Nu hatte ich den Mund voll heißen Blutes, das aus der Tiefe meines Leibes stieg, als wäre ich ein Vulkan, und schon brach auch der Blutstrom über meine Lippen und mitten im Kabarett fiel ich der Länge nach wie ein Klotz zu Boden.


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