Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

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Intermezzo

Während der Schriftsteller sich in der Krypte seinen zur Zeit noch verbotenen Gedanken ergab, trug sich in der nahen Schenke eine derbe Szene des Lebens zu. In der Stube nämlich fuhr durch einen Kreis gaffender Bauern eine Gestalt, deren auffallender Anzug durch die Eile, womit sie ihr Ziel verfolgt hatte, in Unordnung geraten war. Sie hatte eine Erkundigung angestellt, welche ihr von den Bauern nicht hatte gegeben werden können, und war darauf rasch zur Türe hinaus wieder dem Ziele ihrer Verfolgung nachgeeilt. Obgleich diese Gestalt die wunderlichste und lächerlichste Figur bildete, so lachten die Bauern dennoch nicht, sondern standen in stummen, nachdenklichen und zum Teil verlegenen Gruppen umher. Einige strichen sich das Haar glatt, andere sagten: »Hm!« und zwei legten den Finger an die Nase. In der Mitte aber stand ein Mann, dessen Anzug eine etwas höhere Beschäftigung anzeigte, denn er trug einen abgeschabten grauen Frack und eine gelbe Nankingmütze mit einer Troddel. Dieser hatte eine besonders nachdenkliche Miene angelegt, er öffnete endlich seinen Mund und sprach: »Hab' ich's Euch nicht hundertmal gesagt, Leute, die Natur steckt voller Wunder, hab' ich's nicht? Schock, Gegenschock, das ist ein großes Geheimnis.«

Die Bauern gaben ihm teils mit Worten, teils durch Gebärden recht, denn er erfreute sich unter ihnen einer großen Autorität. Er war der Chirurgus, welcher Lisbeth verbunden hatte und erklärte alle Übel, welche den Menschen treffen können, aus dem Schock und Gegenschock, wie er sich in seiner Terminologie ausdrückte.

»Zum Beispiel«, fuhr der Chirurgus fort, indem er ein Glas Wachholderbranntwein gegen den bösen Nebel trank; »die Natur draußen wird im Herbst, oder so gegen das Frühjahr rheumatisch, das tut ein Geschnaube von Winden hin und her, in diesem Augenblicke warm, im nächstfolgenden kalt, Regnen und Graupeln vom Himmel, Feuchtigkeit – mit einem Worte: Katarrh draußen – Schock – Gleich die Natur inwendig auch zu schnauben angefangen – Hitze, Kälte, Augen tränend und fließend – Katarrh inwendig – Gegenschock! Verstanden, Leute?«

Die Bauern bejahten und gaben dem Chirurgus vollkommen recht, denn sie hatten seine Theorie an Feier- und Werkeltagen oftmals vortragen hören, und sie mit ihrem Spruche: »Wie du mir, so ich dir«, vollkommen übereinstimmend gefunden. Aber wie die Anwendung derselben auf die Person zu machen sei, welche soeben das Zimmer verlassen hatte, darüber waren sie weniger im klaren. Sie erwogen in ihren Gesprächen, wie das Fräulein, worüber sie immer, wo sie sich gezeigt, wegen ihren »gecken« Reden gelacht, nun auf einmal so gefaßt und ganz bei sich unter sie getreten sei, sie gefragt habe, ob sie keinen Mann in roter Uniform vorbeikommen gesehen, wie das Fräulein sie beschworen habe, ihr die Wahrheit zu sagen und zu glauben, daß sie wohl wisse, was sie tue, denn sie habe zwar früher viel an einen Fürsten gedacht und an ein Stiftskreuz, aber es könne sein, daß dergleichen nur Lüge von einem anderen, oder eine Einbildung von ihr gewesen sei, den Mann jedoch habe sie plötzlich an seiner roten Uniform und an einem Liede wirklich und wahrhaftig wiedererkannt, und diesen Mann müsse sie ausforschen, denn er habe ihr einst großes Unrecht zugefügt, und dafür müsse er ihr Genugtuung leisten, sollte sie ihn auch bis an das Ende der Welt verfolgen. – »Sie brachte das alles so erbärmlich und anzüglich und so recht adrett heraus, daß man ihr glauben mußte, und daß wir ihr gern den Roten entdeckt hätten, wäre er uns nur bekannt gewesen«, sagte der alte Bauer, der sich am gesprächigsten in jenen Erläuterungen gezeigt hatte. – »Aber wo liegt hier der Schock?« setzte er fragend hinzu.

»Ja, und absonderlich der Gegenschock?« fragte ein jüngerer Bauer.

Der Chirurgus ließ sich noch ein Glas Wachholderbranntwein geben, um seine Darstellungskräfte zu schärfen, so taten auch die Bauern um ihre Fassungsgaben zu stärken. Nachdem die Gläser geleert und dem Wirte zurückgegeben worden waren, erhob der Chirurgus wieder seine Stimme und sprach: »Das wißt Ihr doch alle, Leute, daß es sich bei den Frauenspersonen lediglich und ganz allein um den Punkt dreht, ob sie einen Mann kriegen oder ob sie keinen Mann kriegen?«

»Versteht sich!« riefen die Bauern ohne den mindesten Zweifel.

»Nun also. Ein Frauenzimmer, wie à propos das Fräulein, hat keinen Mann, aber vor alters einen Liebhaber gehabt. Der Liebhaber ist weg – Einsamkeit – lauter Einbildungen, Geckereien – pure Verrücktheit – Fürst – Stiftskreuz. – Plötzlich von draußen der alte Liebhaber wieder da – Schock –«

Freudig riefen die Bauern: »Aha! Inwendig im Frauenzimmer auch nichts als der simple Liebhaber – schlechtweg – Frauenzimmer wieder klug – Gegenschock!«

Der Chirurgus sah mit großer Genugtuung umher und empfand ein außerordentliches Behagen, daß seine Lehren in diesem Kreise schon so tiefe Wurzeln geschlagen hatten und daß die Bauern mit einer leichten Nachhülfe von seiner Seite fertig zu argumentieren wußten. Das Gespräch zwischen ihm und den Bauern setzte sich nun über denselben Gegenstand, nämlich über die Verwandlung des Fräuleins, fort, und mancher Wunsch wurde laut, daß es ihr gelingen möge, ihren roten Liebhaber einzuholen, obgleich es, wie einige bemerkten, verwunderlich sei, daß eine so alte Person hinter einem Manne her durch die Welt laufe. – »Sie sah aber auch heute im Gesicht ganz anders und jünger aus«, bemerkte einer. »Das kam von der kalten Luft«, versetzte ein anderer. »Nein, vom Gegenschock«, sprach der Chirurgus mit Ansehen und schloß durch dieses Wort die Debatte.

Während der Gespräche, deren Inhalt soeben notdürftig angeführt worden ist, fütterten vier Pferde vor dem Eingange zur Schenke aus Krippen, die ihnen untergestellt worden waren und in welche der Postillion Brot einschnitt, in der Wirtsstube aber saß ein ernster Mann hinter dem Tische in der Ecke. Die Pferde gehörten zu einer glänzenden Reiseequipage, welche an den Schlägen ein adeliches Wappen zeigte, unten und oben Magazine und hinten einen Sitz hatte, in welchem eine schlafende Kammerjungfer saß, während der Kammerdiener, der mit ihr sonst den Sitz teilte, neben dem Schlage stand und in dieser vom Dienst freien Pause eine Zigarre rauchte. Denn die Herrschaft war ungeachtet des dichten Nebels nach einer nahen romantisch gelegenen Klippe gehüpft, um so viel zu sehen, als eben zu sehen war. Gehüpft – muß es heißen, denn sie gingen nicht, sondern sie hüpften, wann sie aus dem Wagen stiegen. Es waren junge vornehme Gatten, die unmittelbar nach der Vermählung ihr frisches Glück durch die Welt spazierenführten.

Der Mann in der Stube saß dagegen sehr ernsthaft hinter einem Buche und las. Er war ein alter Bekannter, sogar ein Stück von einem ehemaligen Nebenvormunde der jungen Dame. Zufällig hatte sie ihn einen Tag nach ihrer Vermählung mit dem Kavalier aus den österreichischen Erblanden getroffen, von ihm erfahren, daß auch er eine Rheinreise anzustellen im Begriff stehe und ihm sogleich einen Platz in ihrem Wagen angeboten. Der junge Ehemann machte zwar über diesen Zeugen seiner Flitterwochen ein etwas verdrießliches Gesicht, die junge Dame spürte einen Augenblick später aus gleichem Grunde eine leichte Reue, aber Verdrießlichkeit und Reue kamen zu spät, denn der ernste Mann hatte das liebenswürdige Erbieten schon angenommen. Man mußte sich also zusammen auf den Weg begeben und ineinander zu schicken suchen, wie es gehen wollte. Nicht wenig lachte die junge Dame, als sie erfuhr, welches der eigentliche Reisezweck ihres Begleiters sei. Sie meinte, es sei wunderseltsam, daß die Vernunft hinter der Torheit her jage, das Einholen sei zweifelhaft, denn die Vernunft habe Elefantenfüße und die Torheit federnde Sohlen. Und als er über diese leichten Reden ein verstimmtes Gesicht machen wollte, so hatte sie mutwillig gerufen: »Was gilt die Wette, daß Sie der einzige von uns allen sind, welcher auf dieser Reise Schwabenstreiche begeht?«

Nie war eine verschiedenartigere Gesellschaft zusammen auf Reisen gewesen. Die jungen Gatten wollten immer weiter, immer weiter, in Mainz sprachen sie von Rotterdam, in Koblenz von Amsterdam, in Köln sprach der junge Kavalier von England, was besucht werden solle, seine Dame rief: »Nein, Schottland muß ich wenigstens sehen!« – Der ernste Begleiter sehnte sich dagegen schon nach den ersten zwanzig Meilen in seine Amtsstube zurück. Den jungen Gatten war kein Turm zu hoch und kein Felsen zu steil, sie mußten ihn erklimmen; er blieb dagegen meistenteils unten, und suchte sich so leidlich als möglich im Tale auf seine eigene Hand zu unterhalten. Wenn die Dame nun davon hörte, so kannte ihre Munterkeit keine Schranken. Doch waren ihr und dem Gemahle die besonderen Neigungen, denen ihr Gefährte unterwegs nachging, nicht gerade unlieb, denn er störte sie deshalb weniger, als sie anfangs befürchtet hatten.

Dieser Mann besaß ein sehr ehrliches, wohlgebildetes, aber etwas aschgräuliches Gesicht, und zwischen Nase, Wangen und Kinn die Runzel, welche man die Aktenrunzel nennen kann. Er mochte in der Mitte der Dreißig stehen, sah jedoch viel älter aus. Er gehörte zu einer Klasse von Reisenden, die Yorick nicht in der Vorrede im »Désobligeant« aufzählt, und die immer mehr ausstirbt; er war der Geschäftsmann auf Reisen.

Der Oberamtmann Ernst vom Schwarzwalde – denn so wird er wohl heißen – hatte unterweges nur Gedanken an sein Amt, an seinen alten Actuarius und an die gelb angestrichenen Schränke seines Archives. Ihn verließ der Ärger darüber nicht, daß er es bei seiner Oberbehörde nicht hatte durchsetzen können, die Formulare zu den gewöhnlichen Expeditionen lithographieren lassen zu dürfen, wodurch nach seiner innigsten und pflichtmäßigsten Überzeugung nicht allein Zeit, sondern selbst Aufwand an Kosten erspart werde; ein Punkt, der ihm beinahe das Herz abstieß, »denn«, pflegte er für sich zu sagen, »wenn der Unverstand zu breit regiert, so wird er dem ruhigsten Staatsbürger unerträglich.« – Gern wäre er schon bei Frankfurt wieder umgekehrt, und nur die Vorstellung, daß diese Reise ein Geschäft sei, hielt ihn bei ihr fest. Ihr Ende wünschte er jedoch mit Sehnsucht heran.

Indessen sollte sein Beharren doch auch einen Lohn empfangen, der ihn einigermaßen schadlos hielt für die Felsen, Burgen, Kirchen, Sammlungen, die er, wie er vielleicht nicht ganz unrichtig bemerkte, daheim schon ebensogut gesehen hatte. In der Nähe des Rheins und den Strom entlängst begannen nämlich die Reste der französischen Verwaltung und die öffentliche Gerichtspflege, welche ihm neu war, seine Aufmerksamkeit zu fesseln und nahmen bald sein ganzes Interesse in Anspruch. Nun gab es kein Regierungs- und kein Justizhaus, was er nicht besuchte, ja seine Wißbegierde erstreckte sich bis zu den Friedensrichtern und Polizeibüros hinunter. Er stellte sich überall selbst als den Oberamtmann Ernst vom Schwarzwalde vor und in diesem dienstlichen Charakter gelang es ihm, mit Geschäftsleuten mannichfaltige Verbindungen anzuknüpfen, die ihm bisweilen auf Spaziergängen am Strome unter Klippen und Trümmern, oder byzantinischen Portalen und Weinhügeln vorbei zu schönen Aufschlüssen über Stempelsachen verhalfen, oder ihn mit dem Mechanismus der Sicherheitspolizei bekannt machten. Dann und wann hatte er selbst den Trost, seinen Gram über die nicht zu erlangen gewesene Lithographierung der Formulare in den vertrauten Busen eines Friedensrichters auszuschütten, der ähnliche Gebresten über die Kurzsichtigkeit seiner Vorgesetzten ihm verstohlen entdeckt und ihm dadurch eine Zuversicht aufgeregt hatte. So konnte er denn eher die Beschwerden dieser Reise ertragen. Er ließ das junge Ehepaar, wie er sich ausdruckte, umherrasen nach Belieben, und fing an, sich in der Fremde mehr zu Hause zu fühlen. War er auf sein eigenes Selbst angewiesen, so las er in dem Buche, welches er mitgenommen hatte, nämlich im württembergischen Gesetzbuche. Er war, nachdem er sich so eingerichtet hatte, jetzt zuweilen recht munter. Nur darüber empfand er Kummer, daß in keiner der Rheinstädte, welche die Reise berührte, gerade Assisen gehalten wurden. Denn einer solchen Verhandlung beizuwohnen wäre seine höchste Freude gewesen, weil er nicht zu begreifen vermochte, wie man einen armen Sünder bloß so mündlich und ohne wenigstens hundert Protokolle zum Schafott befördern könne. Von Köln war er, wie er dem Jäger früher angekündigt hatte, rechts abgegangen nach Westfalen. Gern wäre er allein gereiset, aber die junge Dame Clelia bekam plötzlich die Laune, ihren Vetter, den sie sehr lieb hatte, auch sehen zu wollen, und so mußte er sich mit einem sauersüßen Gesichte unendlich glücklich schätzen, noch länger die Ehre des Zusammenseins mit ihr zu haben.


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