Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

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Das Roß des Trygäos und die blaue Schwärmerin lebten bei diesen Ermahnungen in ihren Besserungslöchern ein trauriges Leben. Sie waren beide schlichte, rohe Naturwesen ohne alle Theorie, praktischen Trieben ergeben. Anfangs rasten sie wie wahnwitzig brummend und schnurrend in den Kerkern umher, da ihnen dieses aber nichts half, so wurden sie still und hörten den Reden ihrer Verbesserer zu. Von denen verstanden sie nun aber nicht das mindeste, als, daß der Käfer Lilien und Rosen fressen, die Fliege sich zu Feigen wenden solle – Zumutungen, die Roß und Schwärmerin außer sich setzten, weil sie ihnen das Beleidigendste dünkten, was ihnen nur gesagt werden konnte. ›Seelenverkäufer! Seelenverkäufer!‹ brummte der Käfer. – ›Warum soll denn unsereins nicht fressen, was unsereinem schmeckt?‹ – ›Ich such', such', such' Geruch!‹ summte die Fliege. Am meisten ärgerte es die beiden Kandidaten der Sittlichkeit, daß sie ihre Besserer draußen behaglich in Laub und Feigen knarpen hörten, und daß denen die tugendhaften ermahnenden Reden gleichsam nur dienten, sich der Verdauung halber nach dem Essen eine Bewegung zu machen. Indessen nahmen die Dinge für beide eine sehr ernste Gestalt an, denn sie bekamen natürlich nicht das allergeringste zu essen und fielen daher während ihrer Bearbeitung zu einem reineren Leben jämmerlich ab. Das Trygäosroß wurde so matt, daß es kaum noch auf den Füßen stehen konnte; die blaue Schwärmerin ließ kraftlos die Flügel hängen.

In dieser traurigen Verfassung überkam sie der den Tieren eingepflanzte schlaue Trieb der Selbsterhaltung. Sie setzten sich vor zu heucheln, und gaben klägliche und melancholische Töne von sich. ›Höre!‹ rief Solon dem Plato zu (denn Felsritze und Feigenbaum waren einander nahe;) ›das Laster schlägt in sich, die ersten Kennzeichen der Reue sind zu spüren.‹ – ›Meine arme Gefallene ächzt auch schon über ihr Unheil‹, versetzte Plato. Nach einiger Zeit prüften die beiden ehrwürdigen Ziegengatten den Sinn der Bekehrten, indem Plato ein Stückchen Feige, welches noch am Baume gehangen hatte, vorsichtig in das Astloch schob, Solon aber ein Lilien- und Rosenblättchen unter den Kiesel in die Felsritze zu bringen wußte.

Roß und Schwärmerin erbebten vor Grimm bei dieser Darlegung abscheulicher Anträge, wie sie ihnen vorkommen mußten. Die Schwärmerin wich entsetzt vor dem Feigenstücklein in die letzte Ecke des Astloches zurück, das Roß stieß die Blätter, deren Geruch ihm den Atem raubte und die Luft seines Wohnortes ihm zu verpesten schien, mit den kurzen, kräftigen Beinen von sich ab. – ›Niederträchtiger Gestank!‹ brummte es. – ›Sollte man's glauben, daß es Narren gibt, die an dem gräulichen Zeuge Behagen finden? Ich ersticke! O meine Ambrosia!‹ – ›Feigen! Feigen! Feigen! Kinderpapp! Kinderpapp!‹ tosete die Schwärmerin.

Aber ihre Lage war zum Äußersten gediehen. Die Besserer draußen, das begriffen die Opfer der Sittlichkeit drinnen, konnten es bei guter Nahrung mit ansehen, wenn sich das Geschäft auch noch so sehr in die Länge zog. Hunger tut weh, Verstellung tat not, die draußen zu täuschen. Der Käfer überwand sich und fraß unter Verwünschungen und Zuckungen etwas Lilien und Rosen, welches er aber alsobald wieder von sich gab, so übel bekam ihm der höhere und reinere Lebensgenuß! Die Fliege bezwang ihr schauderndes Gemüt und verrichtete über der Feige einigermaßen und gleichsam zur Probe das, was von ihr im Namen der Tugend gefordert wurde. Plato und Solon hatten gelauscht und an dem Geräusche, welches drinnen entstanden, abgenommen, daß etwas Entscheidendes vorgefallen sein müsse. Öffnend jetzt die beiden Verliese, sahen sie Lilien und Rosen angenagt, das Feigenstücklein beschmeißt, Roß und Schwärmerin aber halbohnmächtig auf dem Rücken liegen. Solon und Plato umarmten einander mit den Vorderbeinen und riefen: ›Triumph! die Tugend hat gesiegt! Das Laster ist aus dem Busen dieser sittlich Verwahrloseten gewichen, sie werden nie wieder in ihre schimpflichen Angewöhnungen zurückfallen!‹

Der Jubel drang zu den übrigen Ziegengatten, welche ungeachtet ihrer Ehrwürdigkeit den frohen Fall mit einem herrlichen Reigentanze in den kühnsten Sprüngen feierten. Auch die Mütter und uns Zicklein und Böcklein zog das Getöse herbei. Die Mütter wurden mit wenigen freudigmeckernden Worten von dem Gelingen der Versittlichung in Kenntnis gesetzt, sahen Roß und Schwärmerin die Füße von sich strecken und vergossen Tränen der Rührung. Wie die Frauen denn immer mit blitzschneller Ahnung das Höchste, Richtigste treffen, so ging auch in den helikonischen Ziegen damals die Blüte des versittlichenden Wirkens auf. – ›Laßt uns aus diesen beiden der Tugend gewonnenen Wesen ein Paar machen!‹ riefen die Ziegen begeistert. ›Verheiraten wir sie miteinander, und als Aussteuer geben wir ihnen so viele Lilien, Rosen und Feigen, als sie am Helikon finden können!‹

Ein unglaublicher Sturm des Entzückens folgte diesem Vorschlage. Zwar wollte der ehrwürdige Moschus den Zweifel erheben, ob selbiges Ehebündnis wohl fruchtbar ausfallen möchte, und der kritische Bion erst die Neigungen von Braut und Bräutigam prüfen; aber die erwähnten Bedenken fanden keinen Anklang, vielmehr rief der Chorus der übrigen einhellig: ›Wo die Tugend zusammenführt, kommt es auf Neigung und Fruchtbarkeit nicht an!‹

Man wollte sogleich zu diesen Hymenäen im Namen der Sittlichkeit schreiten. Plato und Solon nahmen das Trygäosroß und die blaue Schwärmerin auf ihren Rücken. Sie schritten voran, die ehrwürdigen Gatten folgten ihnen paarweise, denen folgten die rechtschaffenen und wohltätigen Mütter, hinter den Müttern sprangen wir Zicklein und Böcklein, und so setzte sich der Zug nach dem Platze an der Hippokrene in Bewegung, wo die Hochzeit gefeiert werden sollte.

Dort angekommen, nahm die alte verständige Sisi das Roß zwischen ihre Lippen, die gute Quiqui aber tat desgleichen mit der Schwärmerin. Sie trugen demnächst das Brautpaar zu einem hohen Steine, stellten die beiden jungen Leute, welche von der freien Luft erfrischt, wieder stehen konnten und überhaupt mit jedem Augenblicke munterer zu werden schienen, auf den Stein nebeneinander, und darauf schlossen wir alle, jung und alt einen weiten Kreis um das Paar. Das in der Eile entworfene Programm der Festlichkeiten ordnete diese Reihenfolge derselben an: Strophe; Reden von Solon und Plato; Gegenstrophe; Zeremonie, Schlußgesang, gymnisches Spiel, Reigentanz, Festmahl.

Eine der kleinen lahmen Grillen, die einzige, welche mit dem Kunsthackebrettlein aus Blättchen und Dörnchen hatte fertig werden können, war zur Festsängerin ernannt worden. Als daher der Kreis sich gebildet hatte, schritt oder hüpfelte vielmehr diese Dichterin des Wohltätigkeitsvereins zur heiligen Quelle, netzte darin ihre Freßzangen ein weniges, verdrehte darauf die goldgelben Äugelein im Kopfe, erreichte mit einem lahmen Sprunge das Gezweig einer Tamariske, nach vergeblichen Bemühungen, auf einen der Lorbeerbäume, den niedrigsten unter allen, zu gelangen, stimmte das Hackebrettlein, putzte die Freßzangen an demselben ab, und sang nun, das Kunstinstrumentlein schlagend, begeistert folgende:

Strophe

›Der Käfer ist ein Schweinichen,
Brumm! Brumm!
Die Fliege hat sechs Beinichen,
Summ! Summ!
Die Fliege hat den Käfer lieb,
Der Käfer ist ein Herzensdieb;
Summ! Summ! Brumm! Brumm! Brumm! Brumm!‹

›Herrliche Poesie! Nahrung für Gemüt und Gefühl!‹ meckerten die Ziegen. – ›Reines Gefühl, mit keinem Gedanken belastet! Echt lyrisch!‹ murmelten die Böcke. – Solon und Plato traten in den Kreis vor das Brautpaar und redeten nacheinander. Sie hielten ihm in eindringlichen Worten die Schändlichkeit seines früheren Lebenswandels vor, dann führten sie aus, daß die Göttin der Tugend eine gute alte Mama sei, immer zum Verzeihen bereit, dann kamen sie auf Lilien und Rosen, Feigen, Felsritzen und Astlöcher. Im ersten Teile machten sie das Brautpaar herunter, im zweiten erhoben sie es, in der Nutzanwendung wußten sie selbst nicht mehr, was sie wollten – ihre Sermone hätten gleich als Muster von Kasualreden abgedruckt werden können.

Ich glaubte zu bemerken, daß das Brautpaar auf die Reden nicht achtete, sondern nur Leib und Flügel einzuüben scheine, teilte diese Beobachtung meinen Nachbarn mit, die jedoch, ganz in die Würde des Festes versenkt, meiner Worte nicht achteten. Nach den Reden sang die Grille folgende

Gegenstrophe:

›Und ist er denn ein Schweinichen,
Brumm! Brumm!
Und hat sie denn sechs Beinichen,
Summ! Summ!
So reicht einander jetzt die Füß'
Und sei der Ehestand Euch süß;
Brumm! Brumm! Summ! Summ! Summ! Summ!‹

Indem es aber nun zur Zeremonie kommen sollte, und die Ziegen Sisi und Quiqui das Paar ersuchten einander die Füße zu geben, nahm die Feierlichkeit eine plötzliche unerwartete und unglückliche Wendung. Denn zur Rechten wurde in der Entfernung der Hufschlag eines Pferdes hörbar, und zur Linken kroch unten durch einen Bergspalt ein Fuchs, oder ein Wolf oder ein anderes Raubtier. Ich weiß nicht, was dem Pferde begegnen mochte, das aber sah ich, weil ich auf der äußersten Linie des Kreises stand, daß das Raubtier ein Stück Fleisch im Rachen trug. Alsobald drang in die beiden jungen Leute auf dem Steine eine konvulsivische Bewegung, ihren scharfen Sinnen brachten die Lüfte von weitem verführerische Botschaft zu, Roß und Schwärmerin sammelten ihre letzten von der Sittlichkeit verschont gebliebenen Kräfte, spreiteten die Flügel aus, und mit dem Gebrumm: ›Mist! Mist! Mist!‹ und mit dem Gesumm: ›Luder! Luder! Luder!‹ flog der Bräutigam rechts, die Braut links davon, ungerührt von Besserungsversuchen, Reden, Rührungen, Strophen und Gegenstrophen das alte Lasterleben von vorn zu beginnen.

Die entsetzte Überraschung der Freier, als Odysseus plötzlich aus Bettlerlumpen mit sieghafter Hoheit hervorleuchtete und die tötenden Pfeile vor sich hingoß, kann nicht größer gewesen sein, als der Schreck der Mütter und ihrer Gatten bei diesem Anblicke, welcher ebenfalls sozusagen die Hoheit der Natur aus Lumpen hervorscheinen machte. Anfangs standen sie da, stumm, starr, regungslos, gleichsam ein großes Viehstück aus Stein, dann aber ergriff sie der haltungsloseste Taumel, und sie rannten nach allen Richtungen ebenfalls auseinander, entweder, weil sie die sittlich Verwahrloseten wieder einfangen wollten, oder auch nur überschattet von dem Dämon, welcher sich ungeheurer Augenblicke zu bemächtigen pflegt. Die Zicklein und Böcklein folgten, so daß die den Gipfel hinan und hinunter rennenden, springenden, stolpernden, stürzenden Tiere demselben ein Ansehen gaben, wodurch er mehr der Kuppe eines thessalischen Zauberberges, als der heiteren musischen Höhe glich.

Was mich betrifft, so war ich an der Quelle zurückgeblieben. Warum sollte ich hinter Käfer und Fliege herlaufen? Mein eigenes Schicksal machte mir bange. Ich fürchtete die Rückkehr der Herde.

Die Mütter hatten mir nämlich schon vor einigen Tagen angekündigt, daß, um auch die letzten Reste der verhaßten Menschlichkeit in mir auszutilgen, ich nächstens aus der weiblichen Erziehung entlassen und den Händen der Gatten übergeben werden solle. Dagegen sträubten sich nun aber jene Reste mit aller Macht und vielleicht eben so heftig, wie die Neigungen des Trygäosrosses gegen Lilien und Rosen. Denn mir blieb ein physischer Abscheu gegen die Gatten beiwohnen, so sehr ich ihre ehrwürdigen Eigenschaften achtete. Aber letztere hatten gewisse natürliche Begabungen an ihnen nicht zu tilgen vermocht, und ich empfand das innigste Grauen vor dem Augenblicke, der mich ihrer Atmosphäre so nahe bringen sollte. Indessen standen ganz andere Dinge in den Sternen geschrieben.

Der Hufschlag des Pferdes näherte sich, und es kam ein ältlicher, dicker Mann, dem ein dünner folgte, nach der Stelle zu geritten, wo ich stand. Der Mann trug einen gelben Hut, einen gelben Rock, eine gelbe Hose und eine gelbe Weste, sah sehr blaß und aufgedunsen und äußerst verdrießlich aus. Schon sein Ansehen und der völlig gleichgültige Blick, mit dem er die Gegend überschaute, würde mich gelehrt haben, von welchem Volke dieser Fremdling sei, wenn ich ihn auch nicht sobald hätte reden hören. Der Diener half seinem Herrn vom Pferde, führte ihn zu dem Steine, auf welchem das Brautpaar gestanden hatte, ließ ihn niedersitzen, gab ihm ein spanisches Rohr in die Hand, schob dessen Knopf unter sein Kinn, und richtete auf diese Weise gleichsam die Statue eines gefühllosen Naturbeschauers zu. Der Herr ließ nämlich alles phlegmatisch mit sich vornehmen und antwortete nur spärlich auf die Reden des Dieners, welcher ziemlich gesprächig war.


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