Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

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Zweites Kapitel

Eine Überraschung eigener Art

Den jungen Jäger widerten diese Auseinandersetzungen an. Sobald es die Höflichkeit erlaubte, machte er Semilasson eine Verbeugung und eilte, dem langsamen türkischen Fahrzeuge voranzukommen, was auch seinen raschen Füßen gelang. Der Deutschtürke blieb im Schritte, so daß der Jäger ihn bald weit zurückgelassen hatte. Dieser sah nach einer Stunde das sogenannte Schloß auf seinem kahlen Hügel liegen. Schon die Straße mit den ausgerissenen Steinen und den grundlos gewordenen Geleisen hatte ihn sonderbar überrascht, noch mehr aber setzte ihn das Ansehen des Gebäudes in Erstaunen. Er zweifelte einen Augenblick, ob er auch an der rechten Stelle sei. Als er aber die beiden Wappenlöwen sah, den stehenden und den liegenden, so mußte er sich davon überzeugen. Nun schritt er über den Schloßhof auf das Haus zu. Es war ganz still in demselben und um dasselbe her; nur die Bachstelzchen liefen an der Pfütze im Hofe auf und nieder. Er klinkte an der Türe; sie war zwar nicht verschlossen, aber von innen verrammelt, und Lärmen wollte er doch nicht gleich zur Eröffnung der Bekanntschaft machen. Er ließ also von weiteren Versuchen gegen diesen Eingang ab. Das Loch neben der Türe war ebenfalls mit Tonnen und Kisten verstellt; auch hier hätte er nur polternd und ungestüm eindringen können; er glaubte das gleichfalls unterlassen zu müssen. Selbst die Fenster des Hauses, nämlich die praktikabeln, nicht die mit Brettern oder Läden geblendeten Fensterhöhlen waren sämtlich verschlossen, nur eins stand offen, und er hörte in dem Zimmer, zu dem es gehörte, heftig schnarchen, ein Beweis, daß ein Lebendiger in dem Zimmer war. Eine Leiter stand in der Nähe, so daß die Möglichkeit vorhanden war, sich mit diesem Lebendigen in Verbindung zu setzen. Indessen konnte ihm auch dies nicht recht anständig vorkommen. Er beschloß daher, geduldig in einem Hofe der Nachbarschaft zu warten, bis das verwünschte einsame Kastell zugänglich werden würde. Vorläufig aber setzte er sich auf einem Stein, der im Hofe lag, zur kurzen Rast nieder, denn der Weg seit frühmorgens – und jetzt ging es schon auf Mittag – hatte ihn ermüdet. Von diesem Steine überblickte er den Schauplatz. Er sah den verwilderten unordentlichen Platz voll Nesseln, Disteln und Wegerich, die zerstörte Pforte, das elende, klüftige, verfallene Haus mit dem durchlöcherten Dache. Alles das sah in dem nun schon heranwehenden grauen Haarrauche noch unheimlicher und jammervoller aus, als gewöhnlich.

Und dennoch ergriff unseren jungen Jäger bei dem Anblicke dieses bettelhaften Elendes eine fromme Rührung, welche die zwiespältigen Empfindungen in seiner Brust verwischte, die von den sonderbaren Begegnissen des Morgens hervorgerufen worden waren. Denn er erinnerte sich an die anmutigen Beschreibungen, die ihm Lisbeth von dieser Zerstörung gemacht hatte, die er nun vor Augen sah. – »So gibt es denn Gemüter, für welche das Häßliche nicht da ist, weil sie in allem nur das Schöne erblicken!« rief er freudig aus. »So blüht eine Unschuld des Geistes, welche rosengleich auch den ödesten Schutt überwächst und zudeckt. – Ich las einmal in einem Aufsatze von Ranke, der alte ehrwürdige Pius sei ein Charakter gewesen, der in allem nur das Tröstliche gesehen habe. Ich las das damals, wie man manches liest, ohne mir dabei eben viel zu denken. Nun aber habe ich etwas Ähnliches erlebt und nicht an einem alten Manne, sondern an einem jungen Mädchen, und was das Süßeste bei der Sache ist, an meinem Mädchen.«


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