Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ermüdete unsern alten Baron die häusliche Einförmigkeit, so machte er mit Gemahlin, Kammerjungfer, Garderobiere, mit den fünf oder sechs Dienern und diesem oder jenem Hausfreunde, welcher auch der Erholung bedürftig war, und ihn um Mitnahme ansprach, interessante Reisen in die benachbarten fremden Länder, von denen er dann neugestärkt zu seinen Gastereien, Jagden und Spielen zurückkehrte. Diese stillen Familienfreuden mundeten ihm nach solchen Ausflügen immer doppelt wohl.

Der Himmel hatte seine Ehe mit einer einzigen Tochter gesegnet, welche in der heiligen Taufe den Namen: Emerentia erhielt. Dieses Kind war von jeher ausnehmend schwärmerischer Art, es verdrehte schon als Säugling die Augen auf eine wunderbare Weise. Als die kleine Emerentia größer wurde, hörte sie ihre Mutter fast von nichts andrem erzählen, als von den Damen der Linien Schnuck-Muckelig und Schnuck-Puckelig, welche die Geliebten der Fürsten von Hechelkram gewesen waren. Die Mutter zeigte auch dem Kinde diese Damen unter den Familienbildnissen; lauter schöne Frauenzimmer mit hohen Frisuren, gelben, grünen oder roten Adriennen, großen Blumensträußen und entblößten Schultern! Da sie nun immerfort von den Geliebten hörte, und die Frauenzimmerbildnisse ihr gar zu wohl gefielen, so setzte sie sich in den Kopf, daß sie ebenfalls zu einem solchen Berufe ausersehen sei, ein Gedanke, der noch mehr befestigt wurde, als der Fürst Xaverius Nicodemus der Zweiundzwanzigste von Hechelkram das Schloß besuchte. Er nahm die damals dreizehnjährige Emerentia auf den Schoß, liebkoste ihr zärtlich, und fragte sie: »Willst du mein Bräutchen werden?« Sie bedachte sich nicht lange, sondern versetzte rasch: »Ja, wie alle die Damen, die da hangen.« Der Fürst hob die Kleine vom Schoße und sagte lächelnd zu ihrer Mutter: »Ah, la petite ingénue!«

Die Zeit verwischte zwar den Fürsten Xaverius Nicodemus den Zweiundzwanzigsten, da sie ihn nicht wiedersah, allgemach aus ihrem Herzen, dagegen setzte sich in ihr die Standesvorstellung, die Vorstellung an sich, daß sie bestimmt sei, mit einem Hechelkramischen Fürsten in zärtliche Verhältnisse zu treten, immer fester in ihr, wobei sie sich durchaus nichts Arges dachte, woran sie aber mit solcher Innigkeit hing, wie ihr Vater an seinen Geheimenrats-Gedanken. Weil nun das Herz nicht in das Leere seinen Drang versenden mag, sondern gern an liebevoll-gediegner Wirklichkeit ausruht, so hatte ihre schwärmende Phantasie nach einigem Umherschweifen im leeren Raume auch bald den sichtbaren Gegenstand gefunden, der ihr den künftigen Liebhaber unter den Fürsten von Hechelkram vorbilden mußte. In der Tat war dieser Gegenstand ganz geeignet, die Einbildungskraft eines fühlenden Mädchens zu entzünden. Von schöner, gedrungner, proportionierlicher Gestalt, sprach sich in allen seinen Gliedern männliche Kraft aus, aus seinem glänzenden, hellroten Gesichte mit breiten, festen Kinnbacken leuchtete der Entschluß, auch die härteste, vom Geschick ihm vorgelegte Nuß zu knacken, der Mund wollte zwar seines Berufes wegen für die Gesetze reiner Verhältnisse etwas zu groß erscheinen, aber ein schwarzer Schnurrbart von wunderbarer Fülle, welcher über den Lippen hing, machte diesen Übelstand wieder gut. Die großen, grellen, himmelblauen Augen blickten sanft und grade vor sich hin, und ließen auf eine Seele vermuten, in welcher die Milde bei der Stärke wohnte.

Bekleidet war dieser idealisch-schöne Nußknacker mit einer rotlackierten Uniform und weißem Unterzeuge; auf dem Haupte aber trug er einen imponierenden Federhut. Emerentia hatte ihn zu ihrem Namenstage geschenkt bekommen. Sobald sie seiner ansichtig wurde, erzitterte sie, erseufzte sie, errötete sie. Niemand verstand ihre Regung. Sie aber trug den Nußknacker auf ihr einsames Zimmer, stellte ihn auf den Kamin, blickte ihn lange glühend und weinend an, und rief endlich: »Ja, so muß der Mann aussehen, dem sich dieses volle Herz zu eigen ergeben soll!« Von der Zeit an war der Nußknacker ihr vorläufiger Geliebter. Sie hielt mit ihm die zärtlichsten Zwiegespräche, sie küßte seinen schwarzen Schnurrbart, sie hatte dem ganzen Verhältnisse eine so tiefe Beseelung gegeben, daß sie jederzeit des Abends, wenn sie sich zum Schlafengehen entkleiden wollte, schamhaft zuvor ihrem Freunde auf dem Kamin das Haupt mit einem Tuche verhüllte. Nußknacker ließ sich das alles gefallen, stand zuversichtlich auf seinen Füßen, und blickte mit den großen, blaugemalten Augen mildkräftig vor sich hin.

Emerentien hatte diese schöne Liebe rasch gereift. Von der Natur war sie, wenn auch nicht mit Reizen, doch mit blühenden Gesichtsfarben und runden Armen ausgestattet worden; es konnte ihr daher an Verehrern unter den benachbarten Landjunkern nicht fehlen. Aber sie schlug alle Bewerbungen von der Hand und sagte, sie folge ihrem Ideal und gehöre der Zukunft an. Unter dem Ideal verstand sie den auf dem Kamin und unter der Zukunft einen Hechelkramischen Fürsten.

Ihre Eltern ließen ihr ganz freie Hand. Sie sagten, in den Linien Schnuck-Muckelig und Schnuck-Puckelig seien alle Gefühle seit Jahrhunderten der heraldisch-richtigen Bahn gefolgt. Es lasse sich also nichts daran ändern und modeln, was ihre Tochter empfinde.

Um die Zeit der vielfältigsten und heißesten Bewerbungen machte ihr Vater mit den Seinigen eine der obengedachten Erholungsreisen zur Stärkung auf die Beschwerden der Jagd und des Spiels. Der Ausflug war diesmal in die Bäder von Nizza gerichtet. Die Familie reiste unter fremdem Namen, denn sechs feurige Landjunker hatten geschworen, dem Fräulein nachzueilen bis an das Ende der Welt, und sie wollte allein sein, allein mit ihrem Nußknacker, dem heiligen Meer und den ewigen Alpen gegenüber.

Die Familie hieß in Nizza die von Schnurrenburg-Mixpickelsche. Eines Tages gehen Schnurrenburg-Mixpickels am Strande spazieren; das Fräulein geht etwas voran, den Freund im Ridicüle. Plötzlich sehen die Eltern sie wanken; der Vater springt zu, und empfängt die Tochter in seinen Armen. Bleich ist ihr Antlitz, aber von Entzücken strahlen ihre Augen, sie liegt wie eine Selige am Busen des Vaters. Ihre Blicke dringen schüchtern in die Ferne, und kehren dann wie mit goldnen Schätzen der Wonne beladen, in sich zurück. Auch die Eltern erstaunen, als sie den Blicken der Tochter in die Ferne folgen. Denn von der andern Seite des Strandes schreitet ihnen eine Gestalt entgegen, Nußknacker im großen, weiße Unterkleider, rote Uniform, Federhut, grellblaue, und doch milde Augen, hellrotglänzendes Gesicht, wie lackiert, breiter Mund, verborgen von der wunderbaren Fülle des schwarzen Schnurrbarts, eine schöne gedrungne Gestalt, Kraft in allen Gliedern, kurz Nußknacker in jeder Miene, Form, Falte.

Besorgt tritt er hinzu und fragt, was der Dame fehle? Der Vater fragt ihn seinerseits: Mit wem er die Ehre habe...? »Ich bin«, versetzt der Fremde, indem er die Nasenflügel zitternd bewegt, und mit den Augen zwinkert, »Signor Rucciopuccio, von Geburt ein Sanese, in Kriegsdiensten Seiner Majestät, des Kaisers aller Birmanen, bei den Truppen auf europäische Art, Kommandeur der sechsten Elefantenkompanie.«

»Ei der tausend, da sind Sie wohl verteufelt weit her?« fragte der alte Baron. »Es geht noch«, erwiderte der Fremde, indem er sich in den Hüften zurechtrückte, daß die Gelenke knackten.

Der Alte fragte ihn über die Birmanen aus, die Mutter musterte die Stickerei an seinem Kragen, Emerentia flüsterte, in einem Abgrund von Glück verloren, nichts als: »O Rucciopuccio!...« So kamen sie in das Hotel der Familie, wo sich der Fremde nach kurzem Verweilen beurlaubte mit der Bitte, seine Besuche wiederholen zu dürfen, und nachdem er die Augen nochmals bedeutend-zwinkernd auf Emerentia geworfen hatte.

Laßt mich von ihr schweigen! Der Traum ist Wahrheit geworden, das Herz hat sich seinen Wunsch verkörpert, und in die Sichtbarkeit ausgeschaffen! Am andern Tage läßt sich der Kommandeur der sechsten birmanischen Elefantenkompanie wieder anmelden. Wo das Schicksal gesprochen hat, sind die Menschen über Worte hinweggehoben. Er tritt in die eine Türe, sie tritt in die andre; er zupft am Schnurrbart, sie zupft am Schnupftuch; heut wird er blaß, und sie wird rot, er breitet die Arme aus, sie breitet die Arme aus, er neigt sich zu ihr, sie neigt sich zu ihm, und: »Füreinander geschaffen!« ist der erste Laut, den ihre glühenden Lippen nach der Wonne des ersten Kusses finden. »Füreinander geschaffen!« wiederholt Rucciopuccio beteuernd, indem er abermals mit den Augen zwinkert und die Nasenflügel zitternd bewegt.

Aber diesem rascherblühten Lenze der Liebe folgte ein verheerender Sturm, der alle Rosen jählings zu knicken drohte. In Emerentien erwachte nämlich die ganze Dialektik feinfühlender weiblicher Herzen, wenn sie nicht wissen, was sie wollen. Die Arme fühlte sich durch einen scharfen Konflikt der Gefühle zerspalten. Der Nußknacker war ihr Ideal, ein Fürst von Hechelkram ihre Zukunft, der Birmane Rucciopuccio aus Siena die Gegenwart und Wirklichkeit. Sollte sie dem Ideale und der Zukunft untreu werden um Gegenwart und Wirklichkeit? Sollte sie Wirklichkeit und Gegenwart opfern und bei Ideal und Zukunft vielleicht eine alte Jungfer werden? Böse Wahl, schreckliche Kämpfe, die alle Götter und Dämonen ihres Busens aus dem Schlummer weckten! Eine weibliche Feder wird in einem Anhange zu den gegenwärtigen Erzählungen diesen Teil von Emerentias Geschichte ausmalen. Nur eine Schriftstellerin versteht sich auf die Entzaserung aller der geheimen Fasern und Zasern, welche das Gewebe solcher Nöte bilden.

Endlich siegten Gegenwart und Wirklichkeit über Zukunft und Ideal. Das Schicksal räumte nämlich zuvörderst das Ideal hinweg, indem es die Hand der Mutter leitete. Diese ergriff, als sie einmal sich von der Tochter unbemerkt wußte, den Nußknacker, und ließ ihn auf den Kehricht hinter dem Hotel werfen. Dahin gehörte er auch, nachdem er seine Mission erfüllt, und die Idee, deren hölzerner Träger er gewesen war, volles geschichtliches Leben in Rucciopuccio gewonnen hatte. Rucciopuccio aber schwor, als er bei seiner Geliebten auf den Grund des Kummers gedrungen war, ihr mit heiligen Eiden bei dem Affen Hannemann: Er sei eigentlich ein Hechelkramischer Fürst, ein vertauschter Knabe, durch teuflische Kabale nach Siena gebracht, und von dort zu den Birmanen verschlagen. Bald werde er nach Hechelkram zurückkehren, sein väterliches Reich unter Vorlegung authentischer Urkunden in Anspruch zu nehmen.


 << zurück weiter >>