Karl Immermann
Münchhausen
Karl Immermann

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So schlichtete der Anblick der fünften Schuite von Harlem diese niederländischen Wirren. Ich war, als gehöre ich zur Familie, meinem Herrn bis auf den Hausflur gefolgt, aber eine Magd trieb mich ziemlich unsanft von den Stiegen und fing sogleich an, heftig nachzuscheuern, wo ich gestanden hatte, obgleich ich mir selbst das Zeugnis geben muß, daß ich mich sehr anständig auf dem Flure von Welgelegen benommen habe. Sebulon sperrte mich auf einem der grünen Plätze zu den Gold- und Silberfasanen ein, d.h. ich kam nicht zu diesem Gefieder unmittelbar, sondern erhielt einen eigenen kleinen Abschlag, wie denn auch jeder Goldfasan und jeder Silberfasan seinen besonders abgesteckten und eingefriedigten Platz hatte, vermutlich, weil Mynheer van Streef selbst bei den Tieren holländische Neigungen voraussetzte. Ich fand ziemlich gute Weide, wenn auch nicht so aromatische Kräuter, wie am Helikon, fraß mich endlich einmal in Muße wieder satt und verschlief den meisten Teil der folgenden Tage aus übergroßer Ermüdung von dem langen Reisewege. Erst etwa eine Woche später bekam ich sonach die Fähigkeit wieder, aufzumerken, über meine Umgebung und mich nachzudenken.

Als dieser Zeitpunkt eingetreten war, habe ich die Lebensweise eines holländischen Rentenierers, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, gründlich kennenlernen. Denn mein Weide- und Wohnplatz lag hart unter den Fenstern des Lusthäuschens, welches durch den Hof von dem Haupthause getrennt, dem Herrn des Landhauses zu seinem täglichen Vergnügungsorte diente, es mochte Sonnenschein oder Nebel, Sturm oder Regen sein. Sebulon hatte mir einen Felsen von Klinkern etwa vier Fuß hoch aufgebaut, welcher Klein-Helikon genannt wurde. Auf diesen kletterte ich häufig und konnte von ihm aus alles sehen, was in dem Lusthäuschen vorging, das meiste auch hören, was darin gesprochen wurde, da die Fenster, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht war, nach der Menagerieseite zu, offen zu stehen pflegten. Nach der Kanalseite aber waren sie stets geschlossen und auch verhängt bis auf eine kleine, zur Beobachtung der Treckschuiten notwendige Öffnung.

Des Morgens um acht Uhr kam Mynheer van Streef regelmäßig in sein Lusthaus gegangen. Er trug dann seinen Frühanzug von zeisiggrünem Kamelott und eine rote Mappe unter dem Arme. Mit der Pfeife und dem Teegeräte folgte ihm die erste Magd, denn zu Hause ließ er sich nur von den Frauenzimmern bedienen, Sebulon war nur auf der Reise zum Diener erhöht worden, in dem Landhause Welgelegen hatte er seine Stellung als Haus- oder Gartenknecht wieder eingenommen. Mynheer van Streef trank nun seinen Tee, nicht rasch, wie auf dem Helikon, sondern wirklich, wie Sebulon gesagt hatte, die Tasse in einer Viertelstunde, wozu er langsam den Rauch aus der angezündeten Pfeife blies und in geregelten Zeitabschnitten wechselsweise mit starrem Blicke nach dem Kanal und nach uns, seiner Menagerie, aussah. Sonst nahm er während dieser Zeit nichts vor, denn er war der Meinung, daß jedes Geschäft für sich betrieben werden müsse. Nach dem Frühstücksgeschäfte schickte er sich zu dem zweiten an, nämlich den Text seiner Kansbilletts, die er in der roten Mappe verwahrte, Stück vor Stück, obgleich derartige Schriftwerke bekanntlich gleich lauten, nachzulesen. An den Zinstagen gesellte sich dazu die Arbeit, die Coupons abzuschneiden. Diese Mühen pflegten die zwölfte Tagesstunde heranzubringen. Dann erschien ein Diener aus dem Landhause Schoone Zicht und einer aus der Vrouw Elizabeth, brachte einen höflichen Gruß von Mynheer de Jonghe und Mynheer van Toll und die Anfrage ihrer Herrn: Wie Mynheer van Streef geschlafen habe und sich befinde? Mynheer van Streef antwortete nach langer Überlegung jeden Tag dasselbe; daß die Nacht ziemlich ruhig gewesen sei, und das Befinden, Gott sei Dank, sich leidlich verhalte. Wenn diese Boten abgefertigt waren, wurde Sebulon geklingelt und nach der Schoonen Zieht und der Vrouw Elizabeth entsendet mit höflichem Gruße von Mynheer van Streef an Mynheer de Jonghe und Mynheer van Toll und seinerseitiger Anfrage, wie diese beiden Herren geschlafen hätten und sich befänden?

Nach vorgedachten Anstrengungen wurde zur Herstellung der erschöpften Lebenskraft wieder Tee getrunken, geraucht und die Meldung des zurückkehrenden Sebulon entgegengenommen. Darauf ging Mynheer van Streef in das Haupthaus, kam angekleidet zurück in den Hof, stellte sich vor die Voliere und demnächst vor jeden Abschlag der Menagerie, sah die Einwohnerschaft der Voliere und dann jedes von uns eine geraume Zeit lang bedächtig an, schüttelte auf jeder dieser Stationen das Haupt und sagte, so oft er schüttelte: ›Unvernünftige Tiere!‹ – Dieses tat er jeden Tag, auch wenn es regnete, Sebulon hielt ihm dann nur während dieser geringschätzigen Betrachtungen den Regenschirm über.

Waren die Allokutionen an die Voliere und Menagerie geendiget, so ging er wieder in das Haupthaus und speiste, es mochte dann etwa vier Uhr nachmittags sein, zu Mittag; hielt darauf seine Mittagsruhe und kehrte, abermals eine Mappe unter dem Arme, jetzt aber eine grüne, sechs Uhr abends in das Lusthaus zurück. Er trank nunmehr seinen dritten Tee, rauchte, wie sich von selbst versteht, abermals dazu und las dann Amsterdamer Stadtobligationen, die er in der grünen Mappe verwahrte. Darüber pflegte es dunkel zu werden; Mynheer van Streef klappte gähnend die Mappe zu, sah noch einmal nach dem Kanal, verließ hierauf das Lusthaus und zog sich in das Haupthaus zurück. Sobald es völlig dunkel war, schloß Sebulon die Pforte; die Lichter, welche in den Fenstern des Hauses eine kurze Zeit lang leuchteten, erloschen allgemach – ein Zeichen, daß Herr und Dienerschaft in ihren Betten von den Anstrengungen des Tages ausruhten. Das tiefste Schweigen und die lautloseste Stille senkten sich auf Welgelegen herab.

Ich habe unter den Beschäftigungen des Tages anzumerken vergessen, daß Mynheer van Streef auch den Ankunftsaugenblick jeder der sechs Schuiten, welche täglich von Harlem nach Amsterdam vorüberfuhren, auf einer schwarzen Tafel, welche im Lusthäuschen hing, zu notieren pflegte, und aus den Unterschieden wöchentlich eine mittlere Zeit herausrechnete. Ich hörte ihn zuweilen sagen, es sei sein größter Kummer, daß diese Mittelzeiten nie stimmen wollten, auch wenn er sie auf Monate, ja selbst Jahre schlüge, und daß daher die rechte mittlere Ankunftszeit einer Treckschuite noch immer ein unlösbares Rätsel wäre.

So ging ein Tag wie der andere hin.

›O Herr!‹ seufzte ich bei diesem niederländischen Leben in Freude und Rast oft (denn ich bediente mich bei meinen Ausrufungen nun nicht mehr der Mythologie) ›was für eine Langeweile! Steht denn mein Herr nur eine Stufe über dem Faultier und nicht tief unter dem Elefanten, dem stolzempfindlichen Rosse, dem rührigen Hunde, obschon er Kansbilletts und Amsterdamer Stadtobligationen liest? Und doch dünkt er sich was Rechtes, glaubt eine unsterbliche Seele zu besitzen, und doch behandelt der schwärmerische Barbar uns Tiere mit Verachtung!‹ – Es war natürlich, daß sich auf solchem Wege kein Verhältnis der Zuneigung zwischen mir und ihm entfalten konnte; dieser Holländer war nicht geeignet, Liebe zu erwecken. Ich drehte ihm daher auch immer den Rücken zu, wenn er vor meinen Verschlag trat. Um der Last der schrecklichen Langeweile von Welgelegen mich zu entziehen, suchte ich mit meinen Nachbarn in der Menagerie Umgang anzuknüpfen. Ich hatte recht leidliche Leute zu Nachbarn, links einen Goldfasan und rechts einen Silberfasan, hinter mir ein paar Schildkröten in einem großen Sandkasten und einen jungen Biber, dessen Schwanz im Wasser hing. Es wäre mir interessant gewesen, mit Vögeln, Amphibien und amphibienartigen Geschöpfen auch einmal meine Ideen auszutauschen, aber dazu wollte sich hier keine Gelegenheit finden. Diese Partikuliers waren von dem geistigen Drucke, der über Welgelegen lastete, so gebeugt, daß alle meine Versuche, ihnen näherzutreten, mein herzliches Meckern und so mancher treugemeinte Bockssprung keinen Anklang fanden. Die Fasanen lagen meistens, den Kopf unter die Flügel gesteckt, dumpf hinbrütend da, die Schildkröten zogen sich, sobald sie sich an ihrem Kohle satt geknabbert hatten, unter ihr Schild zurück, der Biber hatte für nichts Sinn als für das kalte Wasser um seinen Schweif.

Meine Pein zu schärfen diente die berufene holländische Reinlichkeit. Es wurde nämlich auf uns Tiere eine besondere Kehrmagd gehalten, welche bei ihrem Mitgesinde Dreck-Griete hieß, weil ihr anbefohlen war, die äußerste Sauberkeit unserer Wohnstätten in Obacht zu nehmen. Sie brachte den Tag über in einer Art von Portierhäuschen am Eingange des Haupthauses zu und lugte beständig auf die Menagerie hinaus. Ließ nun ein Fasan eine Feder fallen, oder fiel sonst etwas vor, was nicht zu vermeiden stand – lieber Gott, man bleibt denn doch Tier! – alsobald schoß diese ihrem Berufe fanatisch ergebene Reinigungsperson, bewaffnet mit einem langen Borstbesen hervor, riß den betreffenden Verschlag auf und säuberte vermöge des Besens die Stelle. Meine Kollegen waren zu sehr Vieh, um sich hieraus etwas zu machen, aber in mir hatte der Mensch teil an dergleichen Verkommenheiten, in mir schämte sich der Mensch vor einer solchen Überwachung seiner eigensten und innersten Angelegenheiten. Ich war oft in der größten Verlegenheit zwischen Müssen und nicht Mögen, zwischen natürlichen Wünschen und der Furcht vor der auflauernden und schon zum konventionellen Borstbesen greifenden Dreck-Griete!

Die Langeweile – die Isolierung – die ewig drohende Kehrmagd – meine Lage wurde von Tage zu Tage fürchterlicher! Münchhausen war damals unglücklich, ganz unglücklich! Das Schicksal hatte mich zu hart angefaßt, ich war ein Opfer kalter Schwärmerei geworden; das ist das Schrecklichste, was es zwischen Himmel und Erde gibt.

Eine tragische Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Ich sann auf Selbstmord. Ich wollte die Natur zwingen; wie andere sich der Speise enthalten, wollte ich dem Borstbesen der Reinigungsperson sein Opfer unterschlagen – lange – für immer! – – Denn ich fühlte, daß, mit Heldenmut den Entschluß durchgeführt, der Organismus untergehen müsse. Diese Weise, zu enden, dünkte mich die erhabenste, reinste, sie kam mir neu und unnachahmlich vor.

Ich hielt mich still für mich. Zwei Tage lang rastete das Türschloß meines Verschlages. Die Reinigungsperson umschlich mich unheimlich spähend. Ich dachte: ›Schleich du; ich sterbe!‹

Am dritten Tage ließ Mynheer van Streef die Späherin rufen und fragte sie, was mir fehle? ich stehe ja so verdrossen und ohrhängerig da? Griete berichtete dem Herrn, was sie wußte. – ›So muß man abwarten, ob es sich bis morgen mit ihm bessert‹, sprach mein fühlloser Gebieter, ›und wenn das nicht geschieht, so gebt ihm‹ – – Er verordnete das schnelle und unwiderstehliche Mittel, gegen welches in solchen Fällen selbst der Heldenmut eines Cato sich fruchtlos stemmen würde.

›Nein, es ist zu viel!‹ meckerte ich ingrimmig und traurig zugleich; indem ich am Felsen Klein-Helikon niedersank und meine heiße Stirn wider diese Klinker stieß. ›Nicht leben können, und nicht sterben dürfen!‹ – Ich sah schon im Geiste den Augenblick, der meinen Entschluß gewaltsam brechen würde, und das furchtbare Instrument in Grietens Hand, ich sah mich schon wieder schamrot, entwürdigt, in die alten Konflikte zurückgeworfen, denen meine freie Seele sich entronnen wähnte.

Ach, der nämliche Tag sollte mich noch etwas ganz anderes sehen lassen! Wie schwach steht es um die sogenannten großen Vorsätze! Bittere und demütigende Erfahrung, die ich an mir selber machte!

Mynheer van Streef empfing an diesem Tage einen Besuch von seinen Nachbarn de Jonghe und van Toll. Die Besitzer der drei Landhäuser Welgelegen, Schoone Zicht und Vrouw Elizabeth pflegten einander nur einmal im Jahre gegenseitig zu besuchen. Die Tage waren ein für allemal festgestellt, und sonst sahen einander die drei Holländer nicht, obgleich die Landhäuser kaum fünfhundert Schritte voneinander entfernt waren. Wenn sie zusammenkamen, so zeigte der Wirt seinen Gästen den Zuwachs vom letzten Jahre in dem, woran seine Seele hing. Mynheer van Toll hielt auf ein reiches Porzellankabinett, Mynheer de Jonghe auf eine Sammlung von Naturalien und Mynheer van Streef auf seine Menagerie am meisten.

Nachdem die drei Freunde im Lusthäuschen Tee getrunken hatten, führte mein Gebieter seinen Besuch zu unsern Verschlägen und fragte de Jonghe, der, wie wir wissen, in Ostindien gewesen war, ob er eine Tiersorte, wie die meinige, auf Java kennengelernt habe. Schon bei dem ersten flüchtigen Überblicke, den mir der Naturaliensammler widmete, fingen seine Augen an zu glänzen, und seine farblosen Wangen wurden von einer leichten Röte überflogen. Ich mußte mich erheben, Mynheer de Jonghe betrachtete mich von allen Seiten, hob meine Pfoten, die noch nicht ganz vergessen hatten, Menschenarme zu bedeuten, auf, untersuchte mein Vlies, guckte mir in den Rachen, befühlte meinen Schädel.

Mynheer van Streef sah dieser Analyse mit dem ruhigen Stolze eines glücklichen Besitzers zu. Nach vielfältigem Anschauen und Tasten war Mynheer de Jonghe zu dem Bekenntnisse gedrungen: ›Nein, diese Tiersorte kommt nicht auf Java vor. Ich glaubte anfangs, es sei der kleine gefleckte Hirsch, Moose-deer, welchen man auf Ceylon findet, aber der Bau des Schädels widerspricht dieser Annahme. Der Schädel hat etwas vom Affen, der ganze übrige Leib gehört in das Ziegengeschlecht. Es hilft keine Menschenmacht dawider, wir müssen eine neue Spezies ernennen. Dieses Geschöpf, woran Ihr, Mynheer van Streef, eine gar große Seltenheit besitzt, muß der Bockaffe, capra simiae proxima, heißen.‹

›Ich fand ihn‹, versetzte Mynheer van Streef, ›auf einem griechischen Platze, in einer unvergeßlichen Stunde. Sebulon, sage zur Gertruid, daß wir heute von dem Wasser, welches du in den Kantinen mitbrachtest, den dritten Tee trinken wollen, wofern es sich frisch gehalten hat. Ich möchte sehen, wie es auf Mynheer van Toll und Mynheer de Jonghe wirkt.‹

Er ging mit dem ersteren zu seinen Hyazinthen, welche die zweite Stelle in seinem Herzen einnahmen. Mynheer de Jonghe bat um die Erlaubnis, bei dem Bockaffen zurückbleiben zu dürfen. Als er sich mir gegenüber allein sah, sagte er: ›Daß Mynheer van Streef dich, du einziges Exemplar, mir abläßt, ist nicht zu denken, die Dienerschaft wird nicht zu bestechen sein, folglich muß ich dich stehlen lassen.‹


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