Victor Hugo
Victor Hugo's sämmtliche poetische Werke. Zweiter Band
Victor Hugo

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XLI.

November.

Das alte Kloster der Feuillantiner, im Quartier St. Jacques, wo der Verfasser einen Theil seiner Kindheit zugebracht hat.

Ich sprach zu ihm: Du weißst, die Rose des Gartens
währet kurze Weile und die Rosenzeit ist bald vorüber.

Saadi.

Die Tage kürzt der Herbst, es flieht die Sommerwonne,
Kühl ist das Abendroth, und kalt die Morgensonne;
Wenn der November tobt und Nebel braut und lärmt,
Und wenn es Blätter schneit, stumm jede Vogelkehle,
Dann, holde Muse, kehrst du ein bei meiner Seele,
Wie ein erstarrtes Kind, das sich am Feuer wärmt.

Der düstre Winter hier verdirbt Dir jede Wonne,
Und hüllt in kalte Nacht die morgenländische Sonne,
Dein Traum vom Orient, so schön, ist weggehaucht,
Nichts sieht Dein Auge mehr, als lärmend wüste Gassen,
Ums Fenster Reif und Rauch, gleich schweren Nebelmassen,
Der um die Dächer schwebt und sie in Schwärze taucht.

Da fliehn in buntem Schwarm Sultane und Sultanen,
Palmbäume, goldnes Hörn, und Dschonken, grüne Fahnen,
Der Tiger, das Kameel, das jede Distel labt,
Die Bajaderen, die im Tanz sich drehn, die Schaaren
Der Dschinn's, die Araber auf hohen Dromedaren,
Und die Giraffe, die ungleichen Laufes trabt.

Der weiße Elephant, der trägt lichtbraune Frauen,
Moschee'n, goldglänzend, drauf der Halbmond ist zu schauen,
Baalspriester, Magier, Iman's, – das Alles flieht;
Verschwunden Minaret, Serail und Blumenbeete,
Auch kein Gomorrha mehr, das Feuer übersäte,
Das Babels schwarze Stirn mit rothem Schein umzieht.

Paris– und Winter ist's! – Du wirst umsonst beschwören
Die Odalisken, Bey's, Pascha's, die Dich nicht hören,
Dem Klephten ist Paris, die große, eng und klein,
Austräte hier der Nil; Bengalen's Rosen frören
Auf diesen Au'n, wo wir nicht Eine Grille hören,
Die Peri's schauerten bei diesem Sonnenschein.

Ich sehe Dich vor mir, verschämt, halbnackt erscheinen,
Um Deinen Orient seh' ich Dich, Muse, weinen.
– »Freund, rufst Du, hast Du denn im jungen Herzen nicht
Ein Lied für mich? – Ich kann das Leben hier nicht tragen,
Ans weiße Fenster hör' ich stets den Regen schlagen,
Ich, deren Scheiben glühn daheim in goldnem Licht.«

Dann nimmst Du meine Hand in Deine lichten Hände,
Wir sitzen, fern der Welt, und ich erzähl' ohn' Ende
Von meiner Jugend Dir, von heitrem Zeitvertreib,
Wie in der Schule wir gespielt, o süße Stunden,
Wie sich durch Schwüre mir ein holdes Kind verbunden,
– Beglückte Mutter jetzt und eines Andern Weib;

Wie wir im Klosterhof der Feuillantiner liefen,
Wie mich Zehnjähr'gen heim die Silberglöckchen riefen,
Wie jung und wild im Frei'n ich manchen Tag verbracht,
Wie meine Augen oft hervor aus öden Schluchten
Durch Dämmerung und Nacht des Mondes Augen suchten,
Der offnen Blume gleich, die trinkt den Thau der Nacht.

Dann siehst Du meinen Fuß die Schaukel kühn besteigen,
Und der Kastanienbaum erbebt in allen Zweigen,
Wenn sie – der Mutter Schreck! – rasch hin und wieder fliegt,
Von meinen Freunden dann in Spanien red' ich schließlich,
Und von Madrid, und wie die Schul' uns war verdrießlich,
Und wie wir Buben um den Kaiser uns bekriegt.

Von meinem Vater dann erzähl' ich Dir, der Blüthe
Der fünfzehnjähr'gen Maid, die, ach! so früh verglühte,
Die erste Lieb' ist's, die vor Allem hold Dir tönt,
Der goldne Schmetterling, dem, wer ihn wagt zu greifen,
Den Blüthenstaub nur kann von seinen Flügeln streifen,
Der unsre Tage, weh, nur Einen Tag verschönt.

November, 1828.


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