Victor Hugo
Victor Hugo's sämmtliche poetische Werke. Zweiter Band
Victor Hugo

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Die Großmutter.

To die, – to sleep.

Shakespeare

Dritte Ballade.

»Schläfst Du, Großmutter? ... O wach' auf! – Die Lippen beben
Sonst immer Dir im Schlaf: – heut Abend, welch Gesicht! ...
Zu beten scheinst Du sonst dem Schlummer hingegeben;
Wie ein Madonnenbild von Stein erscheinst Du eben;
Es stockt des Odems Hauch, die Lippe rührt sich nicht.

Wir sehn so tief herab heut Deine Stirn sich neigen:
Was thaten wir? Was ist's, was Deine Lieb' uns stahl?
O sieh, die Lamp' erblaßt, und Rauch und Funken steigen
Aus dem Kamin. Wenn Du verharrst noch lang im Schweigen, –
Licht, Feuer, und wir zwei, wir sterben all zumal.

Wann beim erloschnen Licht wirst Du entseelt uns finden,
Wie wirst Du dann erwacht ausströmen Deinen Schmerz!
Dann wird auch Deine Klag' die Zung' uns nicht entbinden;
Bis Deiner Arme Druck sie wiederum empfinden,
Mußst Deine Kinder lang Du pressen an Dein Herz.

O gib uns Deine Hand, daß wir ihr Wärme schenken,
Das Lied vom Troubadour, von Kampf und Kriegsgefahr
Sing' uns, von Rittern, die, beschützt von Feenhänden,
Als Strauß der Dame, die sie lieben, Fahnen senden,
Und deren Kriegsgeschrei ein theurer Name war.

Erzähl' uns von dem Kreuz, das Teufeln krümmt den Rücken,
Vom Mönch, der Lucifer sah durch die Lüfte ziehn,
Von den Rubinen, die den Gnomenfürsten schmücken,
Ob böse Geister mehr vor Rolands Schwert sich bücken,
Dem blanken, oder vor den Psalmen des Turpin .

Zeig' uns die Bibel, all die fremden schönen Wesen
Im Bild, die Heil'gen blau, den Himmel goldig licht,
Das Jesuskind, den Stall, und was darin gewesen,
Die Weisen, Stier' und Kripp', und lehr' ein wenig lesen
Uns mit dem Finger, was mit Gott von uns sie spricht.

Großmutter! ... Sieh im Herd die Funken, die verwehten,
Die Schatten tanzen rings, verglommen ist das Licht:
O Gott, wenn Geister jetzt herein zur Thüre träten! ...
Wach' auf, Großmütterchen, hör' auf, hör' auf zu beten,
Du, unser Hort, Du willst uns doch erschrecken nicht?

Dein Arm, wie kalt! – Willst Du nicht auf das Auge schlagen? –
Jüngst sprachst Du von der Welt, die über uns sich neigt,
Vom Himmel, und vom Grab, von rasch verblühten Tagen,
Du sprachst vom Tode ... Willst Du nicht vielleicht uns sagen:
Der Tod ... was ist denn das? – Antworte! – Weh, sie schweigt.« –

Die Kinder hatten Zeit, allein sich auszuweinen,
Die Alte schläft und sieht den Morgen nicht erscheinen.
Der Leichenglocke Klang hört man die Luft durchziehn.
Ein Wandrer, der vorbei ging Abends an der Stätte,
Sah vor dem heil'gen Buch und vor dem leeren Bette
Die beiden Kinder noch inbrünstig betend knien.

1823.


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