Victor Hugo
Victor Hugo's sämmtliche poetische Werke. Zweiter Band
Victor Hugo

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XI.

Der Schleier.

Hast Du heut Nacht gebetet, Desdemona?

Shakespeare

Die Schwester.

Was ist, was ist Euch, meine Brüder?
So düster Euer Angesicht,
Die Augen senkt ihr grollend nieder,
Wie Todesfackeln brennt ihr Licht.
Mein Auge hat mich nicht betrogen: –
Zerrissen Euer Gürtelshawl,
Und dreimal blitzte, halbgezogen,
In Eurer Hand des Dolches Stahl.

Der älteste Bruder.

Den Schleier ... schlugst Du heut ihn nicht zurück einmal?

Die Schwester.

Ich, Brüder, ... war im Bad gewesen,
Ich kam, ihr Herrn, vom Bad zurück,
Geborgen vor der Albanesen
Und der Giaur's verwegnem Blick,
Im Palankin, als schwül von oben
Auf's Haupt mir fiel des Mittags Licht,
Bei der Moschee vielleicht verschoben
Hat sich mein Schleier vom Gesicht.

Der zweite Bruder.

Dort ging ein Mann vorbei ... in grünem Kaftan ... nicht?

Die Schwester.

Ein Mann? ... Vielleicht ... Doch Nichts gesehen
Hat im Vorbeigehn er von mir.
Doch Ihr, – wie soll ich das verstehen? –
Leis mit einander redet Ihr.
Ihr fordert Blut? – O meine Brüder,
Er sah mich nicht ... Mir wird so bang ...
O Gnade! ... Zückt den Dolch Ihr wider
Ein Weib, gebeugt durch harten Zwang?

Der dritte Bruder.

Heut war die Sonne roth bei ihrem Untergang.

Die Schwester.

O Gott, Ihr wandelt blutge Pfade,
Vier Dolche dringen auf mich ein!
Laßt Eure Knie umfangen! Gnade! ...
Mein Schleier, oh, so weiß und rein! ...
Weh, meine blutge Hand, ... gestattet
Mir, Brüder, daß sie Euch umflicht ...
Ein schwarzer Schleier überschattet
Mein Auge, das im Tode bricht.

Der vierte Bruder.

Den Schleier mindestens aufheben wirst Du nicht.

September, 1828.


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