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Zehntes Kapitel.

Am Morgen nach dieser Nacht saß im zweiten Stock desselben Hôtels der Oberlieutnant in einem kleinen Salon, der zwischen den Schlafzimmern Irene's und ihres Oheims lag. Er hatte sich, obwohl er beständig über die leidige Freundschaftsfrohne räsonnirte, doch wieder zu früher Stunde aufgemacht, um die Parole für diesen Tag zu holen. Da er nicht die geringste regelmäßige Beschäftigung hatte, war ihm der Vorwand vor sich selbst, die Stunden zu verschlendern, herzlich erwünscht. Ueberdies zog ihn Irenens resignirt verschleiertes und doch klar auf sich beruhendes Wesen, ihre Unnahbarkeit und Herbheit bei allem Jugendreiz mehr an, als er wußte oder sich eingestehen wollte.

Das Fräulein war noch unsichtbar, als er kam. Dagegen fand er den Onkel beim Frühstück und mußte sich von ihm die Erlebnisse der gestrigen Fahrt und seinen Abend im Club berichten lassen. Der Baron mochte ein gutes Dutzend Jahre älter sein, als der Oberlieutnant, den er in seiner franken und fröhlichen Manier noch immer so behandelte, wie damals das junge Bürschchen, das in Africa sich geehrt fühlte, von dem erfahreneren Landsmann freundschaftlich unter seine Fittiche genommen, in die Geheimnisse der Löwenjagd und anderer noblen Passionen eingeweiht zu werden. Sechzehn Jahre lagen dazwischen. Das Haar war gelichtet, das verwegene Bärtchen auf der Oberlippe des Freiherrn angegraut, seine bewegliche, untersetzte Figur hatte sich gerundet und erschien vom Rücken gesehen fast ehrwürdig, während die lange, dürre Gestalt seines jüngeren Kameraden noch stelzbeiniger, sein Gesicht pergamentner, seine Geberden ungeschlachter geworden waren. Gleichwohl ließ der Baron auf dem Oberlieutnant, den er noch immer »liebes Schnetzchen« nannte, sein Auge mit dem alten väterlichen Wohlgefallen ruhen und klopfte ihm aufmunternd aus die Schulter, was Schnetz, der eine solche Vertraulichkeit sich von jedem Anderen ingrimmig verbeten haben würde, von dieser Hand geduldig hinnahm.

Bon jour, mon vieux! rief der Baron, auf beiden Backen kauend, als Schnetz hereintrat. Meine kleine Hoheit ruht noch von den Strapazen einer musikalischen Soirée hier im Hause bei der Russin aus. Kommen Sie und stecken Sie sich eine Cigarre an. Rein, ohne Gêne! Auf diesem neutralen Boden wird geraucht. Das ist das Einzige, was ich bestbevormundeter Vormund jemals gegen meine Mündel durchgesetzt habe. Im Uebrigen hab' ich schon hundertmal bereut, daß ich nicht geheirathet und einige lebendige Junge in die Welt gesetzt habe. Wenn die mich tyrannisirten, wüßte ich doch, für welche Sünden ich zu büßen hätte. Winken Sie nur nicht, daß ich leiser sprechen soll. Dergleichen Stoßseufzer ist sie von mir gewöhnt. Sie weiß, daß ihr Sclave sich Hände und Füße fesseln läßt, nur nicht die Zunge.

Uebrigens – schloß er dieses Klagelied, das er mit viel zu lustiger Miene vortrug, um ernstliches Mitgefühl zu erregen, – übrigens, theures Schnetzchen, war mein Joch nie so erträglich, wie hier in Eurem gesegneten München. Vor Allem darum, weil Ihr Eure Schultern mit unterstemmt und ich an Euch einen Vice-Leibeigenen habe, wie ich ihn mir zu Hause umsonst gewünscht habe, wenn mein gestrenges Nichtchen den alten Löwenjäger am Leitseil führte, wie ein geduldiges Lamm.

Er erzählte nun, daß er gestern im Club die angenehmsten Bekanntschaften gemacht und welch ein cordialer Ton dort geherrscht habe. Ihr Süddeutschen seid wahrhaftig eine vortreffliche Menschenart! rief er lebhaft aus. Jeder ist gleich so aufgeknöpft, so treuherzig im Negligé wie ihn Gott geschaffen hat. Man tappt nicht lange an einander herum, bis man durch alle Futterale hindurch so was wie den menschlichen Kern zu fühlen bekommt, sondern was an und in einem ist, muß auf die Haut, und wem's nicht gefällt, dem ist nicht zu helfen. Daher mag natürlich auch etwelche Grobheit dann und wann zu Tage kommen, die euch aber nur Ehre macht.

Schnetz verzog den Mund zu einer ironischen Grimasse.

Erlauben Sie mir, cher papa, die Bemerkung, daß Sie uns sehr überschätzen, sagte er trocken. Das, was Sie für unsere ehrliche, nackte, natürliche Haut halten, ist nur ein fleischfarbenes Futteral, unter dem die eigentliche Epidermis so sicher und unergründlich versteckt liegt, wie die Nuß unter der Schale. Wir haben gut uns aufknöpfen, weil wir uns damit doch noch nicht zeigen, wie wir sind. Unter uns natürlich wissen wir ganz genau, woran wir sind und daß wir uns damit kein X für ein U machen können. Glauben Sie mir, ohne den Tropfen fränkisches Blut in meinen Adern von der Mutter her wäre ich nicht so naiv, Ihnen dies unser Nationalgeheimniß auszuplaudern. Ich ließe Sie es ruhig selbst erleben, ob Sie mit Ihren neuen Freundschaften von gestern in Jahr und Tag, ja über zehn und zwanzig Jahre weiter gekommen wären, als in der ersten Stunde, ob es Ihnen gelungen wäre, auch durch das Futteral zu dringen und die Hand auf ein wirkliches Menschenherz aus Fleisch und Blut zu legen. Ich – so viel Mühe ich mir gegeben – habe es nicht dahin gebracht. Freilich war ich selbst so äußerst ungemüthlich, daß ich Denen, die ich für meine Freunde hielt, die Wahrheit zu sagen für Pflicht hielt. Davor muß man sich hier so sorgfältig hüten, wie vor dem Stehlen silberner Löffel. Wofür hat der Mensch einen Rücken, als daß ihn seine Freunde hinter demselben schonungslos beurtheilen mögen?

Ich kenne Euch, mon vieux! rief der Baron. In Ermanglung einer Scheere und etwas schwarzen Papiers schneidet Ihr Eure Caricaturen mit Eurer scharfen Zunge in die Luft. Aber diese schwarzgallige Silhouettirkunst soll mir die prächtige Stadt und ihre guten Leute nicht verleiden. Ich habe sehr gebrummt, als meine kleine Hoheit darauf bestand, zu reisen und ihre Residenz nach dem Süden zu verlegen. Jetzt hätte mir nichts Angenehmeres begegnen können, als ihre Grille, sich nun gerade in München festzusetzen, und wenn sie überhaupt nicht mehr von hier fort wollte –

Der Eintritt Irenens unterbrach ihn. Sie erschien blasser als gestern und begrüßte die Herren mit überwachten Augen und einer müden Neigung des feinen Köpfchens, das sonst so sicher und aufrecht auf dem schlanken Halse saß.

Lieber Onkel, sagte sie, du würdest mir einen großen Gefallen thun, wenn du einwilligtest, mich von hier fortzuführen, aufs Land hinaus, gleichviel wohin, nur fort aus diesem Hause. Ich habe eine Nacht gehabt, wie ich keine zweite erleben möchte, völlig schlaflos bis an den frühen Morgen. Du kamst zu spät nach Hause und hast einen so festen Schlaf, daß dich das Concert und der Lärm unter uns nicht lange stören konnte. Aber ich – obwohl ich mich von der Gräfin so früh als möglich losmachte – die Musik und das Geschwirr der Conversation drangen durch die offenen Fenster bis zu mir herauf. Das wird nun jede Nacht so sein, denn diese Dame ist die ewige Unruhe, und ihr Kreis wächs't ins Unabsehliche, da sie nicht bloß die Musik, sondern auch alle anderen Künste protegirt. Wenn du mich also lieb hast, Onkel, und nicht willst, daß ich ein Nervenfieber bekomme, so sorge dafür, daß wir dieses Haus verlassen! Finden Sie nicht auch, Herr von Schnetz, daß hier Nichts übrig bleibt, als eilige Flucht?

Schnetz sah seinen Freund an, von dessen jovialem Gesicht aller Sonnenschein gewichen war. Er hütete sich aber wohl, ihm zu Hülfe zu kommen.

Mein bestes Kind, wagte jetzt der Baron mit unsicherer Stimme einzuwenden – so Knall und Fall, nachdem wir unsern Freunden gestern erst erklärt, daß es viel hübscher sei, hier in der Stadt unser Standquartier zu haben und von hier aus nach allen Richtungen der Windrose –

Sie ließ ihn nicht ausreden.

Fühle, wie heiß meine Hand ist, sagte sie, dem Onkel zwei kleine blaffe Finger gegen die Stirn haltend; das ist Fieber, und du weißt, wie man uns vor dem Münchner Klima gewarnt hat. Sagte nicht die Tante gestern, auch sie flüchteten nächstens ins Gebirge? Auch will ich dir gar nicht zumuthen, dich mit mir in eine Sennhütte einzusperren. Ich weiß ja, Onkelchen, daß du die Stadt nicht lange entbehren kannst. Nicht weiter will ich, als bis an den schönen See, wo wir gestern waren; da bist du, wenn du's einmal nicht aushalten kannst, in einer Stunde wieder in München. Nicht wahr, Herr von Schnetz, das ist das Vernünftigste für alle Theile?

Ce que femme veut, Dien le veut! erwiederte der Oberlieutenant, sich mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt verneigend. Es war seinem scharfen Auge nicht entgangen, daß die junge Hoheit irgend ein Herzweh über Nacht durchzukämpfen gehabt und ihre alte Selbstbeherrschung noch nicht völlig wiedergewonnen hatte. Während sie sprach, flackerten ihre Blicke seltsam auf und ab und irrten bald nach dem Fenster, bald nach der Thür, als ob sie vor einem Ueberfall zittere. Sie gefiel ihm aber in dieser Erregtheit besser, als in ihrer kühlen Gelassenheit; er fühlte ein neugieriges Mitleiden mit der lieblichen Fugend, die keinen Freund und Gewissensrath neben sich hatte, als einen nicht gerade feinhörigen alten Junggesellen.

In Gottes Namen denn! seufzte dieser mit einem drolligen Blick gen Himmel. Ich beuge mich der höheren Fügung und erkenne mit schuldigem Dank die Rücksicht, die du bei diesem Project auf meine arme Person genommen hast. Schnetz wird den Weg zu uns hinaus finden, denk' ich; ein Pferd ist am Ende überall aufzutreiben oder nachzuschicken; ein Pistolen-Schießstand wird auch vorhanden sein, und wenn aller andere Sport mich im Stiche läßt, kann ich am See mich noch zum Angler ausbilden, die insipideste aller Liebhabereien, die ich bisher nur mit stillem Grauen von ferne kennen gelernt. Wann geht's fort? Doch nicht vor heute Abend?

Schon mit dem nächsten Zuge, Onkel. Wir haben nur noch eine halbe Stunde Fritz ist eben dabei, deine Sachen zu packen, da er von Betty gehört hat, daß mein Koffer fertig sei. Du brauchst nur noch selbst Toilette zu machen.

Der Baron brach in ein schallendes Lachen aus.

Was sagt Ihr dazu, Schnetz? Von einer solchen Geschwindigkeit beim Abbrechen eines Lagers hätte selbst Abd-el-Kader noch lernen können. Kind, Kind! Und meine neuen Bekannten von gestern Abend – die Bockpartie, die für morgen verabredet ist, – Graf Werdenfels, dessen Waffensammlung ich ansehen sollte –

Du kannst dich ja von Starnberg aus schriftlich entschuldigen, lieber Onkel. Und wahrhaftig, ich würde nicht so eilen, wenn ich auf eine andere Weise um einen mündlichen Abschied von unserer Hausgenossin herumkäme. Reisen wir aber gleich, so genügen diese zwei Zeilen, die ihr der Kellner bringen wird, sobald wir fort sind –

Sie zog ein Visitenkärtchen hervor, aus das sie einen Abschiedsgruß geschrieben.

Auch das Billet schon geschrieben! La letterina eccola qua! rief der Baron. Kind, dein Feldherrngenie ist so erhaben, daß die Subordination unter deiner Fahne ein Vergnügen und blinde Unterwerfung Ehrensache wird. In fünf Minuten bin ich reisefertig.

Er küßte dem Mädchen, das während all seiner Scherze zerstreut und ernsthaft vor sich hin geblickt hatte, mit komischer Galanterie die Hand, warf dem Freunde noch einen Blick zu, der zu sagen schien: ich weiche der Gewalt! – und rannte aus dem Zimmer.

Schnetz blieb mit dem Fräulein allein. Eine fast väterlich herzliche Empfindung überkam ihn, als er das ernste junge Gesicht betrachtete. Vielleicht, dachte er, bedarf es nur eines ersten Worts, eines leisen Anstoßes, und das randvolle junge Herz fließt über und erleichtert sich. Aber ehe er noch die Lippen geöffnet hatte, sagte sie plötzlich:

Ich hoffe doch, Starnberg ist nicht auch so eine große Künstlerherberge, wie andere bayrische Gebirgsörter, von denen meine Cousinen mir erzählt haben.

Er sah sie groß an.

Das hoffen Sie, mein gnädiges Fräulein? Und was für Gründe könnten Sie haben, es nicht zu wünschen? Künstler pflegen sehr harmlose Geschöpfe Gottes zu sein und mit ihren Malschirmen und Feldstühlchen eine schöne Gegend nicht gerade zu verunzieren.

Und doch – ich habe gestern Abend bei der Gräfin unten die Bekanntschaft eines dieser Herren Künstler gemacht. Der Ton, den er anschlug –

Entsinnen Sie sich des Namens?

Nein; aber vielleicht kennen Sie ihn: – ein junger Mann in einem veilchenblauen Sammtrock.

Schnetz lachte laut auf.

Sie lachen?

Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein gnädiges Fräulein – die Sache ist in der That nicht zum Lachen. Dieser wackere Mensch – unser heimlicher Lyriker – ich kenne ihn bis in jede Falte seines historischen Sammtrocks – was in aller Welt kann das gute Röschen für Dornen vorgekehrt haben, an denen Ihre zarte Haut sich geritzt hat?

Ich muß es mir gefallen lassen, Herr von Schnetz, sagte sie etwas spitz, daß Sie mich für eine empfindsame Närrin halten, die an jedem freieren Wort Anstoß nimmt Ich mag eben die Conversation Ihres Freundes nicht wiederholen. Genug, wenn er einer der Harmlosesten ist, so möchte ich einen Ort lieber vermeiden, wo man auf Schritt und Tritt Menschen seines Schlages begegnen muß.

Sie wandte sich ab und trat ans Fenster.

Mein theuerstes Fräulein, hörte sie jetzt hinter ihrem Rücken Schnetz' Stimme, Sie sind krank, ernstlich krank, ich weiß nicht, ob auch körperlich, aber gewiß ist in Ihrer geistigen Organisation irgend eine wunde Stelle –

Sie drehte sich rasch nach ihm um. Ich muß gestehen, Herr von Schnetz, sagte sie mit ihrem stolzesten Blick, ich begreife in der That nicht –

Der Kranke weiß es oft selbst nicht, daß es nicht richtig mit ihm ist, fuhr Schnetz unerschütterlich fort, indem er seinen schwarzen Knebelbart zerzaus'te. Unmöglich aber würden Sie das Bild dieses unschuldigsten aller Sterblichen in solcher Verzerrung erblicken, wenn Ihr Auge nicht krankhaft getrübt wäre. Mein theures Fräulein – nein, sehen Sie mich nicht so ungnädig an – Sie täuschen mich doch nicht, und auf die Gefahr Ihres allerhöchsten Zorns – ich sehe nicht ein, warum Sie von einem väterlichen Freunde nicht ein ehrliches Wort anhören wollen. Ich weiß nicht, ob Sie viel andere Freunde besitzen; hier aber ist meines Wissens Niemand, der einen herzlicheren Antheil an Ihnen nähme, als meine allerdings nicht sehr liebenswerthe Person, Niemand, dem Sie sichrer vertrauen könnten. Liebes, bestes Fräulein, wenn Sie sich entschließen könnten, diesen kleinen stolzen Mund aufzuthun und mir zu sagen, ob ich Ihnen helfen kann, ob das, was Sie gestern Abend erlebt haben – denn Freund Rosenbusch kann es unmöglich sein, der Ihnen plötzlich den Aufenthalt in der Stadt verleidet –

Ich danke Ihnen, unterbrach sie ihn rasch. Ich glaube, daß Sie es gut mit mir meinen. Hier haben Sie meine Hand darauf: wenn ich jemals Rath oder Hülfe brauche, Sie sollen der erste und einzige Mann sein, an den ich mich wende. Aber Sie irren, wenn Sie glauben, ich – ich hätte –

Sie verstummte plötzlich, ihre Augen füllten sich mit schweren Tropfen, die Stimme versagte ihr, aber sie bezwang sich und lächelte ihn so freundlich an, daß er das tapfere junge Herz bewundern mußte.

Um so besser! sagte er. Ich bin zu wohlerzogen, um das Wort einer Dame zu bezweifeln. Und die Versicherung, die Sie mir geben, ist mir so werthvoll –

Hier meine Hand darauf! Auf gute Freundschaft, lieber Herr von Schnetz, und – nicht wahr, ich brauche Sie nicht erst zu bitten, meinem Onkel – er meint es gewiß gut mir, aber er kennt mich so wenig, weniger als Sie, der Sie mich vor acht Tagen zum ersten Mal gesehen haben –

Sie legte den Finger an ihre Lippen und blickte horchend nach der Thür, hinter der sich der lebhafte Schritt des Barons eben wieder vernehmen ließ. Schnetz hatte nur Zeit, während er treuherzig die dargebotene Hand drückte, ihr zuzunicken, das eben geschloffene Bündniß solle ihr Geheimniß bleiben, da trat der Oheim in vollem Reiseanzug wieder herein und trieb nun eben so eifrig zu raschem Aufbruch, wie er vorher widerstrebend in die Flucht aufs Land gewilligt hatte.

Schnetz stieg mit in den Wagen, um Onkel und Nichte nach dem Bahnhof zu begleiten. In dem ersten Stock des Gasthofes waren die Vorhänge herabgelassen. Die Gräfin schlief noch. Ihretwegen hätte Irene nicht nöthig gehabt, ehe sie einstieg, den Schleier vor ihr Gesicht zu ziehen. Dahinter aber ließ sie die Augen unstät hin und her über den Platz und die Straße schweifen; denn sie fürchtete, Der, vor dem sie floh, möchte irgendwo in der Nähe Posto gefaßt haben, um ihre Schritte zu erspähen.

Er war nirgends zu erblicken. Dagegen fiel ihr eine schöne blonde Dame auf, die mit einer unscheinbareren Gefährtin und einem männlichen Begleiter gerade über den Platz daherkam und still stehen mußte, um den Wagen vorbeizulassen. Schnetz erkannte sie erst, als sie schon vorüber waren, schwenkte aber lebhaft grüßend den Hut und sah ihnen noch eine Weile nach.

Wen haben Sie da gegrüßt? fragte Irene.

Sehen Sie sich den Mann dort recht genau an, mein theures Fräulein. Er ist nur ein Bildhauer, noch nicht so berühmt, wie er es verdiente, und seiner Herkunft nach nur ein Bauernsohn. Aber ich habe nie einen Menschen von echterem Adel kennen gelernt, als ihn, und er ganz allein würde die schlechte Gesellschaft, in der ich mich mit Vorliebe bewege, zu der besten von der Welt machen. Von den beiden Damen ist die Eine eine Malerin, eine sehr gute Person und gar keine üble Künstlerin, die Schöne aber zu Jansen's Linken –

Jansen?

Fällt Ihnen der Name auf? Haben Sie etwa schon Arbeiten von ihm gesehen?

Sie stammelte eine verwirrte Antwort und beugte sich weit hinaus, als ob sie die Vorübergeschrittenen noch einmal sehen wollte. Alles Blut war ihr in die Wangen geschossen.

Der also war es, bei dem Felix jetzt seine Tage zubrachte, jener Jugendfreund, dessen Nähe und Umgang ihm Ersatz bot für alles verlorene Glück!

Eine geheime Eifersucht, deren sie sich doch vor sich selber schämte, stieg in ihr auf. Zu ihrem Glück hielt nach wenigen Minuten der Wagen vor der Halle des Bahnhofs, und in der Hast des Aussteigens und des Abschiedes von ihrem getreuen Ritter konnte sie sich so weit fassen, daß sie sich getraute, den Schleier noch einmal zurückzuschlagen und mit völlig heiterer Miene Schnetz das Versprechen abzunehmen, daß er sie recht, recht bald draußen am See besuchen wolle.

Der Pfiff der Locomotive war längst verhallt, als unser reisiger Freund noch immer wie ein eingerammter Pfahl mitten auf dem Platze stand und vor sich niederstarrte.

Tonnerre de Dieu! brummte er endlich, da ein vorübertaumelnder Bauer ihn aus seinem Brüten weckte – 's ist eine curiose Sache, wie's einem mit Menschen geht. Gestern noch waren mir diese Beiden unbequem, ich hätte Viel drum gegeben, in meinem Frauendienst abgelös't zu werden, – und jetzt ist mir's, als ob ich ohne die kleine Hoheit mich sträflich langweilen und mir selber sehr unnütz vorkommen würde. Wenn ich nicht ein alter Knabe und über alle Kinderkrankheiten hinaus wäre und eine so gute Frau hätte, ich dächte bei – tonnerre de Dieu! – –

Und langsam, ein französisches Soldatenliedchen zwischen den Zähnen summend, schlug er den Weg nach seiner Wohnung ein, die ihm heute zum ersten Mal so unheimlich und verwahrlos't vorkam, wie sie in Wirklichkeit war.


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