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Sein Weg hatte ihn längs dem Dultplatz hingeführt, wieder an dem Wirthsgarten vorüber, in welchem er an jenem ersten Sonntag mit den Freunden gesessen hatte. Es war wieder Musik dort, doch unter den Laternen, die eben erst angezündet waren, saßen die Leute ziemlich schläfrig und gelangweilt, da der Tag noch nicht Miene machte, sich zu verkühlen.
Zunächst dem Gitter, das den Garten von der Straße trennt, hatte eine Dachauer Bauernfamilie einen Tisch besetzt und nur an dem einen Ende noch Platz gelassen. Die abenteuerlich entstellende Tracht zog den Blick des Vorbeischlendernden auf sich. Aber bald wendete er sich von diesen lächerlichen Unformen zu einer schlanken, in ein dunkles Tüchlein fest eingewickelten Mädchengestalt, die am anderen Ende des Tisches saß, ein volles Glas und einen leeren Teller vor sich, auf den sie zwischen den beiden aufgestützten Ellenbogen schon eine ganze Weile hingestarrt zu haben schien, als ginge alles Uebrige sie nichts an. Von dem Gesicht war nichts zu erkennen, als ein weißes Stumpfnäschen; das Strohhütchen und der halb über die kleinen Fäuste herabfallende Schleier verschatteten das Uebrige. Das Näschen aber und das dicke rothe Haar, das lose in ein Netz gesteckt war, ließen Felix keinen Zweifel darüber, daß dieses Bild einsamer Schwermuth Niemand anders sei als die rothe Zenz.
Als er leise zu ihr trat, ihr zutraulich die Schulter berührte und ihren Namen aussprach, fuhr sie erschrocken auf und sah dem unerwarteten Tröster mit ganz verweinten Augen wie einem Gespenst ins Gesicht. Sie hatte ihn aber kaum erkannt, als sie sich eifrig mit dem Rücken der kleinen runden Hände die Augen wischte und mit unverhohlenem Vergnügen ihm entgegenlachte. Er fragte mitleidig, was ihr das Herz so schwer gemacht und warum sie hier so allein sitze, indem er einen Stuhl heranzog und zwischen einem der jungen weiblichen Ungeheuer und der kleinen melancholischen Bacchantin sich niederließ. Nun erzählte sie ihm, was ihr begegnet war. Die schwarze Pepi, die Freundin, mit der sie bisher zusammengewohnt, sei plötzlich »falsch« auf sie geworden, da ihr Geliebter, ein junger Chirurg, die Unbesonnenheit begangen, Roth für die schönste Farbe zu erklären. Er habe sich hernach entschuldigt: bei seinem Beruf müsse er natürlich die Farbe des Blutes jeder andern vorziehen. Aber der Pepi sei es schon längst so vorgekommen, als widme der Treulose ihrer Freundin mehr Aufmerksamkeit, als in einem so delicaten Verhältniß erlaubt sei, und nach einem sehr hitzigen Auftritt habe sie der ganz unschuldigen Gefährtin nicht nur die Freundschaft, sondern auch den Mitgenuß der Wohnung gekündigt, und da die Zenz noch mit der Miethe von einigen Monaten im Rückstände sei, auf ihre paar Siebenfachen einstweilen Beschlag gelegt, sie demnach nur mit dem, was sie gerade angehabt, Knall und Fall aus dem Hause gejagt.
Sehen Sie, sagte das Mädchen und lüftete das schwarze Tuch, nicht mal ein anständiges Kleid hat sie mir gelassen; ohne das Tuch, das mir die Hausmeisterin geborgt, müßt' ich mich schämen, über die Straße zu gehen.
Sie trug in der That nur ein leichtes Nachtjäckchen von gestreiftem Kattun unter der schwarzen Hülle, die sie sorgfältig wieder festknüpfte. Aber schon hatte es den Anschein, als ob sie sich aus dem ganzen Abenteuer, das ihr eben noch Thränen entlockt, nicht das Geringste mehr mache. Das blasse Gesichtchen, das sie, hell von der Laterne beschienen, ihrem Nachbar zukehrte, verlor sogar den Ausdruck des Zorns über die schnöde Behandlung und den Verrath der Freundschaft und glänzte von Leichtsinn und unverwüstlicher Lebenslust.
Und was wirst du nun anfangen, Zenz?
Ich weiß noch nicht. Irgendwo werd' ich schon noch ein Ende nehmen. Ich könnt' in den Rochusgarten oder zum Neusigl, wo ich schon einmal logirt hab', wie ich erst hergekommen bin; aber die Kellner da haben Nachschlüssel zu allen Thüren. Ich hab' schon damals meine Noth gehabt mit ihnen. Und wo anders, wo ich nicht bekannt bin, trauten sie mir am End' nicht, daß ich das Zimmer bezahlen würd', und ich hab' auch wirklich kein Geld, als ein paar Sechser. Ich müßt' grad den Ring versetzen, den ich von meiner seligen Mutter hab'. Nu, der Tag ist noch lang, ich kann mir's noch überlegen.
Freilich, fuhr sie nach einer Pause fort, während Felix wie im Traum ihre vollen rothen Lippen und die blanken Zähne betrachtete, die man ihr hätte im Munde zählen können, während sie sprach, – freilich, ich könnt's sehr gut haben, wenn ich nur wollt'! So gut, daß mich die schwarze falsche Katz', die Pepi, beneiden würde.
Wenn du nur wolltest, Zenz?
Ja, wenn ich schlecht werden wollt'! setzte sie leiser hinzu, und einen Augenblick wurde ihr Gesicht ernsthaft. Dann aber lachte sie wieder hell auf, wie um die Röthe, die ihr ins Gesicht gestiegen war, wegzulachen.
Kennen Sie einen Kunstmaler, der Rossel heißt?
Gewiß. Eduard Rossel. Was ist's mit Dem?
Er ist bei mir gewesen, es mag etwa acht Tage her sein. Er hätte die Figur gesehen, sagt' er, die der Herr Jansen von mir abgenommen, und, sagt' er, wenn ich zu ihm kommen wollt' und ihm Modell stehen, wollt' er mich noch dreimal so gut dafür bezahlen, hat er gesagt.
Und warum bist du nicht zu ihm gegangen?
Hm! – weil er mir nicht gefallen hat. Ich will nicht so bei den Herren herumstehen, daß Jeder mich kennt und sagt: Aha, das ist die rothe Zenz. Es ist mir schon leid genug, daß ich's dem Herrn Jansen zu Gefallen gethan hab', obwohl er ein so braver Herr ist. Aber nun weiß man meine Adresse, und es ist halb so viel, als wäre ich für Jeden zu haben.
Magst du den Herrn Rossel nicht leiden?
Nein, ganz und gar nicht. Er sieht auch gar nicht danach aus, als ob er ein Maler wär' und seine Modelle bloß anschauen wollt'. Er hat so Augen gemacht – Nein! Den hab' ich schön ablaufen lassen. Und hernach hat er sich an die Pepi gewendet, die sollt' mir zureden. Aber die kennt mich. Sie selbst ist zu ihm gegangen, sie hat gedacht, ihm wäre Eine so recht wie die Andere. Aber er hat ihr bloß einen Gulden geschenkt und sie wieder weggeschickt, er hält' gerade keine Zeit, und er braucht' auch gerade rothe Haare. Da ist sie schon wieder auf das Roth fuchswild geworden. Uebrigens wie ein Prinz soll der Herr Rossel wohnen, und wenn ich keine Närrin wäre, sagte die Pepi – damals hat sie mir noch 'was gegönnt – könnt' ich mein Glück machen.
Aber wirst du dein Lebtag eine solche Närrin bleiben, Zenz?
Ich weiß nicht, erwiederte sie aufrichtig. Niemand kann für sich stehen, wenn man jung ist und sich langweilt. Aber ich denk', so lang ich meine fünf Sinne noch beisammen hab' –
Sie stockte.
Nun, Zenz? fragte er und nahm eine ihrer kleinen, von der Arbeit an den Fingerspitzen rauh gewordenen Hände in seine Hand.
So lange, sagte sie ruhig, werde ich Niemand etwas zu Gefallen thun, als den ich gern hab'.
Und wie muß Einer aussehen, den du gern haben sollst? Grad immer wie der Herr Jansen?
Sie lachte. O nein! Der ist mir viel zu alt, den hab' ich halt nur gern, wie ich meinen Vater gern hätt'. Er müßt' jünger sein und sehr sauber, und –
Sie hielt plötzlich inne, blitzte ihn mit einem koketten Seitenblick an und sagte: Was reden wir da für dummes Zeug! Wollen Sie nicht etwas essen und trinken? Oder ist Ihnen der Appetit vergangen neben den Vogelscheuchen da?
Sie deutete mit den kleinen muthwilligen Aeugelchen nach seinen Nachbarinnen, die in ihren vorfallenden Hauben-Visieren und engbrüstigen Sonntagsmiedern wie ausgestopfte Puppen dasaßen und von dem Geplauder der beiden Andern kein Wort verstanden.
Zenz, sagte Felix, ohne ihr zu antworten, weißt du, du könntest ganz gut heute bei mir übernachten. Ich habe zwei Zimmer; die Thür dazwischen könntest du verriegeln, wenn du Furcht vor mir hätt'st, und jedes Zimmer hat seinen eignen Eingang. Was meinst du?
Sie spaßen nur! versetzte sie rasch ohne jede Verlegenheit. Sie möchten sich doch nicht mit so einem garstigen armen Ding beladen, wie ich bin.
Garstig? Ich finde dich gar nicht häßlich, Zenz. Und wenn du mich ein klein wenig gern hättest, nur so wie den Herrn Jansen – siehst du, der läßt mich nun schon wochenlang nach einem alten Geripp und einem Muskelmann studiren, ich vergesse darüber ganz, wie ein lebendiger Mensch ausschaut. Morgen früh könntest du wieder gehen und keine Menschenseele brauchte zu wissen, wo du die Nacht gewesen. Ich habe eine Hausfrau, die so ziemlich stocktaub ist, und die Zeichnung, die ich etwa machte, sollte Niemand je zu sehen bekommen. Willst du? Ueberlege dir's einmal. Ich will indessen die Kellnerin rufen.
Als er nach einer Weile mit dem gefüllten Glase an den Tisch zurückkehrte, sah er sie mit sehr nachdenklicher Miene, das Kinn in die Hand gestützt, vor sich hin träumen.
Nun, sagte er, hast du dir's überlegt?
Sie schüttelte den Kopf, lachte einmal, wurde dann aber ernsthaft und sagte: Das ist ja doch nur gespaßt; so dumm bin ich nicht, mir das einreden zu lassen, daß Sie ein Bildhauer sind.
Nun, wie du willst, Zenz. Ich will dich zu nichts bereden, was dir nicht lieb wäre. Komm, trink' einmal, es ist eben frisch angestochen worden.
Sie trank herzhaft aus seinem Glase, dann fing eine rauschende Ouvertüre an, die eine Zeitlang ihr Gespräch verstummen machte. Auch nachher redeten sie von ganz anderen Dingen. Sie erzählte ihm von ihrem früheren Leben in Salzburg, wie die Mutter sie so streng gehalten, wie oft sie Noth gelitten, und wie manchen Sommerlag sie still in ihrer Kammer gesessen und sich gewünscht habe, nur einmal hinauszudürfen unter all die lustigen geputzten Menschen da draußen, die sie nur ganz von fern gesehen. Ihre Mutter habe sie wohl lieb gehabt, aber sie's doch empfinden lassen, daß ihr Dasein ihr ein ewiger Vorwurf und eine Last sei. Nun habe sie wohl geweint, wie sie die Mutter verloren, aber lange sei der Kummer nicht in ihr geblieben. Das Vergnügen, sich nun frei zu fühlen, habe ihre Thränen getrocknet. Jetzt freilich – so ganz allein und ohne eine Hundeseele, die sich um sie bekümmere – jetzt sei ihr doch manchmal, als möchte sie Alles hingeben, wenn sie nur wieder bei der Mutter sein könnte, 's ist halt so! schloß sie mit einem Kopfnicken, das ihr sehr drollig stand. Man hat nie, was man wünscht; und doch soll man zufrieden sein, sagen die Leut'. Manchmal wollt' ich, ich wäre todt. Und dann wieder, ich könnte erst einmal einen ganzen Sommer lang spazieren gehen, schöne Kleider tragen, leben wie eine Prinzeß und –
Und dir von einem hübschen Prinzen den Hof machen lassen, nicht wahr?
Versteht sich. Allein ist kein Glück. Wofür hätt' ich denn die schönen Prinzessinnenkleider, als um einen Menschen recht verrückt damit zu machen?
Er sah ihr so dicht in die Augen, daß sie plötzlich roth wurde und schwieg. Das wundersame Gemisch von Leichtsinn und Schwermuth in dem armen Kinde, von Lebensdurst und Zurückhaltung, von heimlicher Liebe und Hang zum Moralisiren zog ihn mehr und mehr an. Dazu die warme Nacht, das Laternenzwielicht und die rauschende Musik – und seine eigne Herzenseinsamkeit – und seine siebenundzwanzig Jahre –
Zenz, flüsterte er, sich so nahe zu ihrem Ohr neigend, daß seine Lippen fast ihren Hals streiften, wenn du mich ein bischen gern haben könntest, warum sollten wir's nicht so gut haben, als wenn du wirklich eine Prinzessin wärst und ich ein Prinz?
Sie antwortete nicht. Ihr offner Mund athmete heftig, und ihre Nasenflügel zitterten, während sie die Augen fest eindrückte, als sei dies Alles ein Traum, aus dem sie nicht aufwachen wolle.
Wir könnten ein Leben führen wie im Paradiese, fuhr er fort, indem er sacht mit seiner Hand über ihre Händchen hinfuhr, die sie nebeneinander aus den Tisch gelegt hatte. Wir sind beide zwei Waisenkinder, um die kein Mensch sich bekümmert. Wenn wir einmal Jahr und Tag zu Hause blieben und uns vor Niemand sehen ließen – wer würde fragen, wo wir geblieben seien? Alle Anderen leben und lieben und denken nur an sich. Warum sollten wir nicht an uns denken?
Gehen Sie, erwiederte sie halblaut. Das ist nicht Ihr Ernst. Sie, und an mich denken? Nicht im Traum. Wie kann ich Ihnen denn gefallen? So ein rothhaariger Affe, wie die schwarze Pepi mich heute genannt hat!
Deine Haare sind ganz hübsch. Ich weiß noch, wie gut es dir stand, als du sie über dem blauen Mäntelchen flattern ließest, jenen Morgen in Herrn Jansen's Atelier, als du so geschwind davonliefst. Jetzt halt', ich dich daran fest. Komm! Ich dächte, wir gingen. Es fängt an kühl zu werden; wenigstens sehe ich, daß du zitterst.
Nicht vor Kälte! sagte sie mit einem seltsamen Ton, indem sie aufstand und sich fester in ihr Tuch wickelte.
Dann hing sie sich, ohne seine Aufforderung abzuwarten, an seinen Arm, und sie verließen den Garten.