Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Am Rande des englischen Gartens liegt unter anderen Schenkwirthschaften das sogenannte Paradiesgärtchen. Ein ansehnliches, herrschaftliches Haus, dem es nicht am Grundstein gesungen worden sein mag, daß es dereinst eine so gemischte Gesellschaft beherbergen würde, steht mitten in einem Baumgarten. An Sommertagen pflegt hier um die Tische und Bänke lustiges und durstiges Volk sich zu schaaren, während auf einer bedeckten Tribüne eine Musikbande aufspielt. Der große Saal aber im Erdgeschoß des Hauses dient meist zu Tanzlustbarkeiten, wo dann die niedrigeren Seitenflügel für Zuschauer und ausruhende Paare geöffnet sind.

Es war elf Uhr Nachts. Ein Gewitter, das gegen Abend heraufgezogen, hatte das angesagte Gartenconcert nicht zu Stande kommen lassen. Als das Wetter nach einigen unschuldigen Schlägen wieder verwehte, füllten sich die Bänke nur sparsam, und der Bierzapfer in der offenen Schenkbude mitten unter den Bäumen konnte zwischen den einzelnen Krügen, die er zu füllen bekam, immer wieder einnicken. Früher als sonst war daher der Garten geschlossen worden, und als es Elf schlug, lag das Haus so still und ausgestorben da, als wache darin keine lebendige Seele mehr.

Und doch war der lange Saal des linken Flügels, zu dem man vorn vom Garten aus nur wenige Stufen hinaufstieg, wenn auch nicht taghell, so doch hinlänglich mit einem Dutzend Wandlampen erleuchtet. An der Rückseite, wo auf der einsamen Straße zu dieser Zeit kaum Jemand vorbeikam, standen die oberen halbrunden Fenster der Kühlung wegen offen, die unteren Läden aber blieben dicht verschlossen. Allerlei dunkle Gestalten näherten sich auf der Fahrstraße, einzeln oder zu Zweien und Dreien, wie sie sich gerade zusammengefunden hatten, und traten durch die Hinterthür ins Haus. Nach der Seite des englischen Gartens blieb Alles so dunkel und unbelebt, wie nur je ein altes Gemäuer, hinter welchem eine Falschmünzerbande in lichtscheuen Kellern ihr Wesen treibt.

Das Innere des Saales war, bei Tage betrachtet, nicht ganz schmucklos. Eine begeisterte Tüncherhand hatte die Wandpfeiler zwischen den Fenstern mit kühnen landschaftlichen Erfindungen al fresco angefüllt, und zwischen fabelhaften Schlössern, Städten, Fluß- und Waldthälern sah man blaue Wanderer mit grünen Hüten einherziehen und Reiter auf anatomisch höchst fragwürdigen Rossen hinsprengen, denen Hunde folgten, die keiner bekannten Race angehörten. Mitten in die blitzblauen Lüste über diesen Ausgeburten einer stillvergnügten Stubenmaler-Phantasie, in einen Baumwipfel, oder die Thurmzinnen eines windschiefen Raubschlößchens hinein hatte eine Zimmerstutzen-Gesellschaft, die sich Einmal in der Woche hier versammelte, große Nägel eingeschlagen, um die mit Bildern und Sprüchen verzierten und mit kleinen Kugeln gespickten »Ehrenscheiben« symmetrisch daran aufzuhängen.

In der Nacht aber, von der wir berichten, war all diese Herrlichkeit unter einer dichten Verkleidung von lebendigem Laube verschwunden. Hochstämmige immergrüne Gewächse standen zwischen den Fenstern und streckten ihre schlanken Zweige bis an die Decke hinauf, so daß die armseligen Wände in einen südlichen Garten verwandelt schienen. Ein langer, schmaler Tisch mit grünen, tiefbauchigen Römern nahm die Mitte ein, in einem Winkel war ein Fäßchen ausgestellt, um dessen Hahn ein Rosenkranz hing, und auf dem Tischchen daneben standen Körbe mit weißen Brödchen und einige Teller mit Früchten.

Kaum ein paar Dutzend Stühle umgaben den langen Tisch, und sie waren erst zur Hälfte besetzt, als Jansen mit Felix eintrat. Durch den leichten Schleier des Lampenzwielichts und Rauchgewölks sahen sie das blasse Gesicht Elfinger's neben dem blühenden des Schlachtenmalers, den fezbedeckten Kopf Eduard Rossel's, der behaglich in einen amerikanischen Schaukelstuhl zurückgelehnt aus einem Tschibuk rauchte, dann noch Einen und den Andern von den Künstlern, die gelegentlich in Jansen's Atelier sich hatten blicken lassen. Ein dienstbarer Geist war nirgends zu sehen, da Jeder, sobald er sein Glas geleert hatte, selbst an das Fäßchen ging und es wieder füllte. Einige wandelten plaudernd längs den grünen Laubhecken den Saal auf und ab, die Andern saßen zerstreut und erwartungsvoll auf ihren Plätzen, wie im Theater vor dem Anfang des Stücks, und nur »der Dicke«, der sich allein eines bequemeren Sitzes erfreute, schien bereits in paradiesischer Stimmung seine blauen Wölkchen gegen die Decke zu blasen.

Als Felix sich ihm näherte, erhob sich neben ihm eine lange, hagere Gestalt in einer Jagdjoppe mit hohen Reitstiefeln, eine kurze französische Thonpfeife zwischen den Lippen. Dieses merkwürdig ausgearbeitete Gesicht von cholerischer Farbe mit kurzgeschorenen Haaren, kohlschwarzem Knebelbart und einer breiten Schmarre über der rechten Schläfe war Felix schon einmal flüchtig auf der Straße begegnet, auf einem schönen englischen Pferde, das seine Aufmerksamkeit mehr als der Reiter auf sich zog. Dieser bewegte sich ungelenk und langsam in seinen knochigen Gliedmaßen, wie wenn er seines natürlichen Gleichgewichts beraubt wäre, sobald er kein Pferd zwischen den Schenkeln fühlte. Dabei pflegte er beständig entweder seinen Knebelbart zu zausen, oder an seinem rechten Ohrläppchen zu zerren. Felix bemerkte, daß er in dem linken einen kleinen goldenen Ohrring trug. Das rechte war verstümmelt. Der Ohrring, der darin gesessen hatte, schien einmal gewaltsam herausgerissen worden zu sein.

Ich erlaube mir, mich Ihnen selbst vorzustellen, sagte der Lange, indem er sich mit soldatischem Anstande gegen Felix verneigte. Mein Name ist Aloys von Schnetz, Oberlieutnant außer Dienst; als ein Freund aller sieben freien Künste werde ich der Ehre gewürdigt, hier im Paradiese mitzufiguriren. Da es im Garten Gottes unzweifelhaft auch schon Amphibien gegeben hat, ist ein Geschöpf wie ich, das zwischen zwei Stühlen sitzt, zugleich Aristokrat und Proletarier, nicht mehr Soldat, aus guten Gründen, und auch nicht Künstler, aus leider noch besseren Gründen, unter guten Leuten, von denen jeder so ziemlich weiß, was er will und kann, auch wohl an seinem Platz. Sie, wie mir »der Dicke« so eben verrathen hat, gehören einigermaßen in meine Klasse, wenn ich auch hoffe und wünsche, daß Sie eine erfreulichere Species repräsentiren. Kommen Sie, setzen Sie sich hier an meine Seite. Es giebt Leute, die behaupten, daß ich ihnen die Laune verderbe. Ich bin nämlich dafür berüchtigt, daß ich mir Mühe gebe, die Welt zu sehen, wie sie ist, und die Dinge bei ihrem Namen zu nennen; das heißen denn zarte Gemüther Schimpfen und finden es ungemüthlich. Aber Sie werden sehen, es ist nicht so arg, und hier im Paradiese pflege ich auch nach Möglichkeit zu vergessen, daß man saure Aepfel vom Baum der Erkenntniß pflückt. Indessen, als richtiges Amphibium, muß ich Sie nach dieser trocknen Einleitung zunächst ins Feuchte bringen.

Er setzte seine langen Don-Quixote-Beine nach dem Fäßchen in Bewegung, füllte zwei Römer und brachte sie zu Felix zurück.

Wir haben uns zum Wein bekehrt, sagte er, Alles in einem halb ironischen, halb verbissenen Ton herausbrummend, obwohl es eigentlich ein Anachronismus ist, da der Wein bekanntlich erst zum Ersatz für das verlorene Paradies den Menschen gegeben wurde. Das Bier aber ist vollends eine Erfindung des dunklen Mittelalters, um die Menschen zu trägen Pfaffenknechten zu machen, da noch Niemand eingefallen ist, die Wahrheit anderswo als im Wein zu suchen. Also: auf Ihr Wohl, und daß es Ihnen besser als mir glücken möge, einer von den »ersten Menschen« zu werden!

Felix stieß mit dem sonderbaren neuen Freunde an und betrachtete dann die unbekannten Gesichter, die sich inzwischen eingefunden hatten. Schnetz nannte ihm die Namen. Die Meisten waren aus den Anfängerjahren heraus, nur ein einziges blutjunges Gesicht von fremdartigem Schnitt starrte melancholisch mit großen schwarzen Augen in den Rauch, den seine Papiercigarre aufwirbelte. Es war, wie Schnetz seinem Nachbar mittheilte, ein junger griechischer Maler von zweiundzwanzig Jahren, trotz seines zarten, fast mädchenhaften Aussehens ein gefährlicher Frauenverführer. Eigentlich war er mit Keinem näher befreundet, und nur Rossel's Fürsprache und sein nicht geringes Talent hatten ihm Zutritt zu diesem Kreise verschafft.

Ein kleiner, gebückter alter Mann mit feinen Zügen und schneeweißem Haar trat jetzt noch als der Letzte herein, hing seinen Hut und Mantel an einen Nagel und setzte sich auf den letzten noch freien Platz am obersten Ende des Tisches neben Jansen, der ihn freundlich begrüßte.

Felix wunderte sich über das Erscheinen eines Greisen mitten unter der aufstrebenden Jugend. Auch Schnetz war kein Jüngling mehr, – er mochte die Vierzig schon überschritten haben. Aber in jeder Muskel der sehnigen Gestalt zuckte eine widerwillig niedergehaltene Spannkraft, während der stille, weißhaarige Mann da oben am Tisch allen Sturm und Drang des Lebens längst hinter sich haben mußte.

Ich sehe, daß Sie sich über unsern Gottvater Gedanken machen, sagte Schnetz, seinen Zwickelbart drehend. In der That aber weiß ich von seinen näheren Verhältnissen nicht viel mehr, als von den persönlichen Erlebnissen des wirklichen Herrgotts. Daß er ein Künstler ist oder es doch einmal war – darüber ist kein Zweifel. Jedes Wort, das er von sich giebt, wenn auf Kunst die Rede kommt, bezeugt es. Doch gehört er jedenfalls einer geologischen Schicht an, deren Fauna jetzt ausgestorben ist. Keiner von uns hat je ein Werk seiner Hand gesehen, auch weiß man nicht, wie und wo und wovon er lebt. Er heißt Schöpf, und wie er vor drei Jahren, als unser Paradies noch jung war, durch Jansen hier eingeführt wurde – den hatte er in seinem Atelier besucht und ihn sofort für sich zu interessiren gewußt, – machten wir uns den billigen Spaß, »Schöpf« in »Schöpfer« zu verwandeln und ihn gleichsam als Wirth und Hausherrn des Paradieses obenan zu setzen. Wir ergötzten uns damals noch an solchen Posten, führten selbst allerlei anzügliche Spitznamen und trieben das so lange, bis der wohlfeile Witz todtgehetzt war. Der Alte aber wurde uns so lieb und werth und betrug sich als eine so stille und gemüthliche Vorsehung, wie sich die ersten Menschen schwerlich einer besseren zu rühmen hatten. Er besorgt all unsre Geschäfte, führt die Gesellschaftscasse, bezieht unsern Wein und hat ein Auge auf den Gärtner, der den Saal decorirt. Dabei sehen wir ihn nur alle vier Wochen einmal. Dazwischen verschwindet er. Wenn wir unsern Maskenball veranstalten, wo auch die Evastöchter erscheinen, ist er nur bis zum ersten Geigenstrich thätig und schleicht sich dann still wieder nach Hause.

Er muß wohl kein Einheimischer sein, daß er so den Unerforschlichen spielen kann?

Glauben Sie das nicht. Hier in München giebt es eine große Anzahl solcher unterirdischen Existenzen, deren wunderliche Gänge und Schliche sich der Kenntniß, ja auch nur dem gemeinen Klatsch entziehen, weil es hier an einer wirklichen Gesellschaft fehlt. In jeder anderen Stadt von gleichem, ja selbst größerem Umfang weiß man so ziemlich, was die lieben Nebenmenschen treiben, wenigstens die notableren, die über das gemeine Mittelmaß hinausragen, weiß, wovon sie ihren Schneider bezahlen oder wie viel sie ihm schuldig bleiben. Hier aber wimmelt es von amphibischen Wesen beiderlei Geschlechts, die, wenn sie sich auf dem Trocknen nicht mehr hatten können, untertauchen in ein mehr oder weniger trübes Element, wo sie sich unsichtbar machen. Ich selbst hatte schon die Ehre, mich als eine solche Zwitterbildung Ihnen vorzustellen, nicht als ob mir der Grund unter den Füßen unsicher geworden wäre – ich habe mit freiem Willen aus persönlichen Gründen den Dienst quittirt –; aber die Trockenheit da oben wurde mir unleidlich; ich bin einer von den Malcontenten, deren Sie hier viele sehen, die der sogenannten guten Gesellschaft den Stuhl vor die Thür gesetzt haben, weil sie theils insipide, theils niederträchtig ist, und die nun hier in paradiesischer Freiheit »die Welt in ihren Freunden zu sehen« versuchen. Aber Sie haben ja noch ein volles Glas. Kommen Sie! Sie müssen unsrer Jordans-Quelle mehr Ehre machen.

Eine Jordans-Quelle im Paradiese? Meine Geographie reicht nicht so weit; oder hat man nach neueren Forschungen –

Schnetz fing eben an, zu erklären, daß der edle Wein im Weinberge des Herrn Jordan zu Deidesheim gewachsen sei, weßhalb sie beschlossen hätten, auf ihrer Landkarte den Fluß des gelobten Landes nach Indien zu verlegen, als Elfinger sich erhob und mittheilte, daß er heute »an der Reihe« sei und auch etwas vorbereitet habe, vorher aber seien Zeichnungen angekündigt.

Nun wanderten eine Menge Studienblätter, landschaftliche Skizzen und Entwürfe aller Art von Hand zu Hand die Tafelrunde entlang, unter anderen auch Zeichnungen eines jungen Architekten zum Bau einer eigenen Paradieseshalle, die großen Beifall fanden und zu den lustigsten Vorschlägen anregten, wie die Kosten zu diesem höchst zeitgemäßen Bau aufzutreiben wären.

Inzwischen hatte ein unscheinbarer, magerer Mensch von linkischem Wesen, in einem abgeschabten Röckchen, das über der fehlenden Weste fest zugeknöpft war, einen großen grauen Bogen aus einer Mappe genommen, ihn mit Heftnägeln an einem Fensterladen befestigt, so daß die Wandlampen ein ziemlich helles Licht darauf warfen, und trat dann zurück, um zur Besichtigung seiner Arbeit einzuladen. Es war eine figurenreiche Federzeichnung, die Lichter mit Weiß aufgehöht, aber so ganz ohne Berechnung des Effects, daß die Composition beim ersten Anblick als ein seltsames Gewimmel erschien, in welchem weder das Einzelne noch der Plan des Ganzen hervortrat.

Unser Cornelianer, Philipp Emanuel Kohle! brummte Schnetz. Auch so ein unseliger erratischer Block mitten in der flachen Gemeindewiese unsrer modernen Kunst, von irgend einem himmelanstrebenden Gebirgshaupt losgerissen und nun als ein Fremdling in die nahrungsprossende Ebene der Mittelmäßigkeit hinabgerollt, wo Niemand was mit ihm anzufangen weiß. Wir wollen näher Herangehen. Diese Umrißfanatiker verschmähen die Wirkung in die Ferne.

Ich habe mir – erklärte der Künstler – ein Gedicht von Hölderlin zum Vorwurf genommen – Sie kennen es wohl alle – Hyperion's Schicksalslied – oder wenn es Ihnen entfallen ist – ich habe den Text mitgebracht –

Nun zog er ein sehr abgegriffenes Büchlein aus der Tasche und las die Verse, obwohl er sie auswendig wußte. Seine Wangen rötheten sich dabei, seine Augen leuchteten, die ganze dürftige Gestalt schien in die Höhe zu wachsen.

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüste
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

– – – – – – –

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruh'n.
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrlang ins Ungewisse hinab!

Nach diesen Versen blieb es eine ganze Weile still in der Schaar, welche die Zeichnung betrachtete. Der Künstler schien noch eine Erklärung in petto zu haben, die ihm aber nicht von den Lippen kam; als ob nach solchen Dichterworten jede prosaische Umschreibung eine Entweihung wäre. Und in der That erklärte nun auch die wunderliche Composition zur Genüge sich selbst.

Ein Berg, dessen Fuß die ganze untere Breite des großen Blattes einnahm, stieg in zackigen Absätzen gleich einem Thurmbau in die Höhe und endigte in einem Plateau, auf welchem man, in leichtes Gewölk gehüllt, Göttergestalten ruhen sah, um eine Festtafel gelagert, während Andere auf Flügelsohlen, einzeln oder Arm in Arm, theils herumwandelten, theils sich mit Tanz und Gesang ergötzten. Diese alle waren in einem seligen Taumel begriffen, der freilich hier und da in gewaltsamen Verkürzungen der langen Gliedmaßen und eckigen Faltenmotiven sich darstellte. Unter den olympischen Figuren, durch eine strenge Wolken- und Wetterscheide getrennt, sah man die Menschengeschlechter in den mannichfachsten und sinnreichsten Gruppen das Schicksal der Sterblichen erleiden. Zunächst den Göttern, noch durch ihre Nähe gleichsam geweiht, spielten Kinder und plauderten Liebende; aber die abschüssigen Pfade führten bald zu Scenen der Noth und Bedrängniß, und gewisse symbolische Gestalten, die an den Haupteinschnitten des Berges sich unter die irdischen Gestalten mischten, ließen die Absicht des Zeichners erkennen, zugleich das Wirken und Walten der Laster und Leidenschaften darzustellen, wie schon die deutliche Eintheilung in sieben Stufen auf die sieben Todsünden hinwies. Ein feierlicher, starrer Ernst und eine gewisse Hoheit der Ergebung in dies Versinken – »jahrlang ins Ungewisse hinab« – gab der etwas ungefügen Composition den Hauch einer mächtigen Empfindung, der selbst das Fratzenhafte noch beseelte und dem einzelnen Gelungenen den unverkennbaren Stempel eines großartigen Sinnes aufdrückte.

Schon die Menge der Figuren hatte die Betrachtung lange gefesselt, dann allerlei Kritik, die der Zeichner ohne Widersprich über sich ergehen ließ, – man wußte nicht, ob aus Wehrlosigkeit oder aus heimlichem Eigensinn. Nur Jansen hing er gespannt am Munde, der aber nach seiner Weise die Anderen streiten ließ und nur hie und da mit beredtem Finger auf eine mangelhafte Stelle deutete.

Der Einzige, der ruhig sitzen geblieben war und das Blatt über den Tisch und die ganze Breite des Saales hinweg nur durch ein kleines elfenbeinernes Opernglas betrachtet hatte, war Eduard.

Jetzt wandte sich Rosenbusch, dessen hoher Tenor m begeistert lobenden Ausdrücken aus dem Stimmengewirr hervorgeklungen war, zu dem Regungslosen um.

Nun? rief er in lustig herausforderndem Tone; wollen die seligen Götter sich nicht einmal von ihrem Ruhesitz aufrappeln und einen gnädigen Blick auf das Werk dieses Sterblichen werfen?

Verzeihe, theures Röschen, erwiederte der Dicke, seine Stimme dämpfend um nicht von Kohle gehört zu werden. Du weißt, ich lasse das Schöne gern an mich kommen, statt ihm mühsam nachzurennen, und die Decke der sixtinischen Kapelle hat schon darum den allermächtigsten Eindruck auf mich gemacht, weil man sie nur auf dem Rücken liegend recht genießen kann. Was das neueste himmelhohe Gedankengebäude meines werthen Gevatters betrifft – so nannte er ihn, seitdem er einen seiner tiefsinnigen Cartons, für den kein Name zu finden war, eben so passend als ironisch getauft und Kohle die Unterschrift im Ernst acceptirt hatte –, so bin ich nicht Turner genug, um seinen Intentionen sieben Stockwerke hoch ohne Schwindel nachzuklettern. Uebrigens, wenn ihr Alle fertig seid, werde ich mir einen Stuhl davor Hinrücken und mich an die Arbeit machen, oder am liebsten morgen unter vier Augen.

Es wäre mir sehr lieb, Rossel, wenn ich Ihnen morgen die Zeichnung bringen könnte, – stotterte der blasse Mensch, der die höhnischen Worte wohl gehört hatte und dunkelroth geworden war.

Wäre es Euch wirklich lieb, Gevatter? rief Eduard kopfschüttelnd. Nein, Bester, wenn Euch meine Ketzereien doch einmal zu Ohren gekommen sind, wollen wir uns ehrlich verständigen und hier im Paradiese wenigstens keine Mäntelchen umhängen. Ihr wißt, daß ich von aller Gedankenmalerei Kopfschmerzen kriege, daß mir eine einzige ganz gedankenlose Tizian'sche Venus einen ganzen Olymp voll geistreicher Motive aufwiegt, die wie die Ameisen mit langen Gliedmaßen auf so einem Topfkuchen von allegorischem Berg herumkrabbeln. Wir sind ja alte Antipoden, theurer Gevatter, was übrigens der Liebe keinen Eintrag thut. Im Gegentheil, wenn ich sehe, wie Ihr sammt Euren Geschöpfen vor lauter Geist vom Fleisch fallt, wandelt mich zu aller Hochachtung auch noch ein herzliches Mitleiden an. Eine Milchcur, bester Gevatter, an den vollen Brüsten der alten Mutter Natur, nur einmal Jahr und Tag dem schönen Fleische nachgetrachtet, statt schönen Ideen –

Es ist nicht allen Bäumen eine Rinde gewachsen! warf der Angegriffene schüchtern hin.

Schön! Aber ein Baum, der Überhaupt keine Rinde hat –! Und seht, so kommt mir eure ganze Manier vor, ihr erlauchten Cornelianer. Man sieht euch ins Zellengewebe eurer Gedanken, sieht, wie der Ideensaft kreis't und auf- und absteigt, was alles sehr merkwürdig und erbaulich, aber nichts weniger als künstlerisch ist. Denn die wahre Kunst – soll die nicht wie eine höhere Natur auf uns wirken ohne viel Witz und Spitzfindigkeit, ohne all den Krimskrams von poetischen Anzüglichkeiten und philosophischen Finessen, nein: einfältig und schlicht, aber durch die Flamme des Genies von aller Hinfälligkeit, allem Mangel, aller zufälligen Misere gereinigt? Zum Exempel bei so einem still da liegenden schönen Weibe, oder einem stattlichen alten Senator, oder einer Anbetung der Könige – was kann man sich da viel Kluges denken? Es sagt entweder nichts, oder etwas Verschollenes oder gar etwas Unkluges. Und doch entzückt es uns, schon über die Breite eines ganzen Saales hinweg, durch die bloße Silhouette, die Farbenherrlichkeit, die einfältige und doch königliche Sinnlichkeit, die in der Natur sich nur selten oder nie ohne gemeinen Beisatz findet. Dagegen aber ein solches gezeichnetes Gedicht – jedesmal sehe ich unten am Rande nach, ob der Zeichner nicht auch Anmerkungen dazu gezeichnet hat, um seinen Text zu erklären. Nun, dafür sorgt dann ein gedruckter Bogen: »Das Bild und die Beschreibung«, und der liebe Philister, der die »bildende« Kunst darum so nennt, weil sie sich um seine Bildung verdient macht, ist überglücklich, wenn er sich sagen kann, daß sich dabei doch etwas denken lasse. Ich aber sage: es lebe die Kunst, bei der uns die Gedanken vergehen! Und jetzt gebt mir zu trinken!

Schnetz füllte ihm das Glas, das er, wie von seiner langen Rede erschöpft, auf Einen Zug leerte. Es war eine peinliche Stille entstanden; der wegwerfende Ton, in welchem die Worte gesprochen worden waren, hatte auch Diejenigen verstimmt, die Rossel's Gesinnung theilten. Jetzt aber hörte man vom oberen Ende des Tisches eine milde, etwas verschleierte Stimme und sah, wie der alte Schöpf sich anschickte, die Partei des Angegriffenen zu nehmen.

Sie haben gewiß in der Hauptsache Recht, Herr Rossel, sagte er. In den großen Kunstepochen, bei den Griechen und den Italienern des Cinquecento waren Geist und Natur untrennbar verbunden. Seitdem aber sind sie ja leider entzweit, und gerade so selten ist es, einen der sogenannten Fleischmaler zu finden, der seine Form durchgeistigt, wie es den Poeten unter den Zeichnern gelingt, ihre Eingebungen hinlänglich zu verkörpern. Es ist eben die Zeit der Extreme, der Specialitäten, des Streits. Aber ist nicht der Streit der Vater der Dinge? Wollen wir nicht hoffen, daß auch aus diesem Chaos einmal wieder eine erfreuliche Welt sich krystallisiren werde? Und bis dahin Jeden gelten lassen, der mit ehrlichen Waffen und offenem Visir kämpft? Wenn es nun Künstler giebt, die mehr zu sagen haben, als sich zeigen läßt? Die ihr inneres Leben nicht in so ruhender Schönheit anschauen, sondern in einem tragischen Proceß, der sich durch Dissonanzen durcharbeiten muß? Das Leben der Menschheit ist heut ja überhaupt aus dem Idyllischen heraus; wir sehen überall den Geist voranstürmen, den Genuß und die Freude nachhinken. Eine Kunst, die davon gar keine Spuren trüge, wäre die noch unsere Kunst?

Sie möchte sein, was sie wollte, rief der Dicke, sich langsam aufrichtend, meine Kunst wäre sie jedenfalls. Aber daran braucht ihr natürlich nichts zu liegen. Uebrigens – ich habe Ihnen heute Abend noch nicht einmal die Hand gedrückt, mein Herr und Schöpfer. Ich thue es jetzt, zugleich um Ihnen zu danken, daß Sie meinen Wackern Gevatter Kohle so tapfer herausgehauen haben. Er selbst behält seine besten Gedanken gern für sich, wenn er sie nicht auf ein Stück Papier hinzeichnen kann. Und hier im Paradiese soll keiner so meuchlings über seinen Nebenmenschen herfallen, wie ich eben gethan. Kohle, ich achte Euch. Ihr seid ein Charakterkopf und habt den Muth Eurer Meinung, allen fleischlichen Gelüsten zum Trotz. Ich danke Euch auch noch speciell für das Hölderlin'sche Gedicht, das ich wahrhaftig nicht gekannt habe und das sehr schön ist; – »glänzende Götterlüfte rühren Euch leicht« – wie geht es doch weiter?

Er setzte sich jetzt mit dem liebenswürdigsten Eifer neben seinen »Gevatter« und begann die Zeichnung gründlich durchzugehen und über die einzelnen Motive allerlei feine Bemerkungen zu machen. Indessen hatte der junge Grieche eine große, mit kecker Bravour hingeworfene Farbenskizze aufgestellt, die zunächst an die Reihe kam.

Es handelte sich, wie der Maler in gebrochenem Deutsch mit einer weichen, singenden Stimme erklärte, um eine Scene aus Goethe's »Braut von Korinth«. Der Jüngling war auf das Lager zurückgesunken, und die gespenstische Verlobte halte sich vampyrartig über ihn geworfen, »gierig saugend seines Mundes Flammen«, während die Mutter draußen an der Thür stehend den gedämpften Stimmen zu lauschen schien, im Begriff hineinzustürzen und das Paar zu stören.

Auch dieser Arbeit gegenüber hielt die Kritik eine Zeitlang den Athem an, aber aus einem sehr andern Grunde, als vorhin. Ein so beklemmender Hauch schwüler Sinnenglut wehte in diesem Bilde, daß selbst den Paradiesgenossen, die wahrlich nicht prüde waren, das Maß des Erlaubten überschritten schien.

Wieder fand Rosenbusch zuerst die Sprache.

Da sitzt er nun drüben beim reinen Geist, rief er dem Dicken zu, der immer noch Kohle's Arbeit studirte, während wir es hier mit dem reinen Fleisch zu thun haben. Holla! du Mann der Silhouette und der decorativen schönen Form, komm herüber und besprich einmal dieses Gespenst.

Eduard nickte, ohne sich umzusehen; er schien die Arbeit schon zu kennen und keine Lust zu haben, sich darüber zu äußern.

Als auch von den Anderen keiner ein lautes Wort sagte, wandte sich der Künstler endlich direct an Jansen und bat ihn um sein Urtheil.

Hm! brummte der Bildhauer, die Arbeit ist voller Talent. Nur haben Sie sie falsch getauft, – oder die beiden Schleier vergessen.

Falsch getauft?

Auf den Namen Goethe's. Sanct Priap hat dabei Gevatter gestanden.

Aber – die beiden Schleier –? stotterte der Jüngling, dessen Augen sich gesenkt hatten.

Schönheit und Grauen. Lesen Sie nur einmal das Gedicht; Sie werden sehn, wie kunstvoll alles Nackte darin mit diesen beiden umschleiert ist. Uebrigens – eine recht talentvolle Arbeit. Sie wird schon ihre Liebhaber finden.

Er wandte sich ab und ging ruhig nach seinem Sitz zurück. In demselben Augenblick hatte der Jüngling das Bild von der Wand gerissen und ohne ein Wort zu sagen den Blendrahmen, auf dem es ausgespannt war, über die nächste Lampe gehalten.

Er hatte vielleicht erwartet, daß man ihm in den Arm fallen würde. Niemand rührte sich. Die Flamme züngelte hastig an der Leinwand empor. Als sie sich ein Stück weit hineingefressen hatte, schwang sich der junge Mensch auf das Fensterbrett und schleuderte das brennende Bild durch die obere Fensteröffnung in den dunkeln Garten hinaus, wo es knisternd in den feuchten Sand niederfiel.

Wieder herabgesprungen empfing ihn ein allgemeines Beifallklatschen, das er mit gerunzelter Stirn und gekniffener Lippe hinnahm. Seine rasche That hatte ihn offenbar noch nicht innerlich befreit. Auch Jansen's freundlicher Zuruf konnte seine düstere Miene nicht sogleich aufhellen. Es war seine innerste Natur, die hier zum Feuertode verdammt worden war.

Eben wollte Felix, dem der seltsame Auftritt einen tiefen Eindruck gemacht hatte, sich dem Jüngling nähern, da er ihn abseits von den Anderen sich in dichte Rauchwolken hüllen sah, als man von einem der Kirchthürme draußen zwölf langsame Schläge die Mitternacht ankündigen hörte. Sofort verstummten alle Gespräche, die Stühle wurden gerückt, und Felix bemerkte jetzt erst, daß Elfinger, der heute »an der Reihe war«, schon seit einer Weile mit Rosenbusch den Saal verlassen hatte.


 << zurück weiter >>