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Elfinger hatte noch lange in die Nacht hinein auf die Rückkehr des Freundes gewartet und zuletzt nicht daran zweifeln können, daß das Abenteuer nicht eben glorreich ausgegangen sei. Er schlief mit schwerem Herzen ein, da seine letzten Hoffnungen zunichte geworden waren.
Am anderen Tage schlich er trübselig in sein Comptoir und verließ es unter einem Vorwande früher als sonst. Er hoffte Rosenbusch nun endlich zu Hause vorzufinden. Aber das kleine, dürftig und unordentlich eingerichtete Zimmerchen des Schlachtenmalers war immer noch leer.
Sollte er einen desperaten Streich begangen, die Stadt verlassen haben, oder gar –?
In lebhafter Aufregung, da er den guten Gesellen herzlich lieb hatte, stieg er nach dem abendlichen Comptoirschluß zum zweiten Mal die düstere Treppe hinauf. Da fand er ein deutliches symbolisches Lebenszeichen des Freundes aus seinem Tische. Ein großer Marktkorb stand mitten darauf, mit einem langen Papierstreifen nach Art der Arzneiflaschen versehen, auf welchem die Worte standen: »Abführungsmittel für brodlose Künstler, nach Bedarf einzunehmen. Apotheke zum ledernen Handschuh.«
In dem Korbe aber lag nichts als das Skizzenbuch, in welches der Einsame gestern Nacht seine Klagelieder eingeschrieben hatte.
Noch hatte der Schauspieler die letzten Strophen nicht zu Ende gelesen, als die Thür sich öffnete und Rosenbusch feierlich hereingeschritten kam, mit einem so unbeschreiblichen Weltschmerzgesicht, daß man ihn ohne Lachen nicht ansehen konnte. Sobald er bemerkte, daß Elfinger wieder fähig war, den Humor der Situation zu würdigen, fiel ihm sichtbar eine Last vom Herzen. Er trat rasch auf den Freund zu, streckte ihm beide Hände entgegen und rief:
Trink' eine Maß, o Wandrer,
Und bet' für ihn!
Aber komm, Bruderherz, laß uns größer sein als das Schicksal; und »obwohl die männliche Tugend nicht die Thräne verbeut« –
Also wirklich aus, ohne Hoffnung, ein für alle Mal? unterbrach ihn Elfinger, das Skizzenbuch zuklappend.
Aus und gar, für immerdar! Es müßte denn sein, daß ich auf meine alten Tage noch einmal umsattelte und Viehmaler würde, oder in den Mutterleib zurückkröche, um als Piloty-Schüler wieder geboren zu werden. Stelle dir vor, Roscius, gestern erst, gerade eine Stunde bevor ich dem Papa meine Visite machte, war dieser biedere Thebaner auf dem Kunstverein einem guten Freunde in die Hände gerathen, der ihm von dem wunderbaren finanziellen Flor der Kunst in unserm theuren München ein Langes und Breites vorgeprahlt hatte. Eine Schafheerde, die eben für achttausend Gulden verkauft worden war, und die Vivisection eines Kaninchens, von einem jungen Ungarn oder Polen, den der Hexenmeister Piloty in sechs Monaten zum berühmten Mann herangezogen und dessen Bilder nun von der Staffelei weg zu Unsummen abgehen, halten den beiden Spießbürgern Anlaß gegeben, sich ihre Aesthetik aufzubauen, die so unwidersprechlich ist, wie die Mathematik. Zahlen beweisen. Der Export von gefärbter Leinwand aus dieser guten Stadt, der seit einigen Jahren ins Gigantische sich gesteigert hat und selbst die Ausfuhr des gegerbten Leders übersteigt, mußte sogar Nanny's musenverlassenem Vater imponiren. Ich hätte das Schätzchen mir vom Präsentirteller weg holen können, wenn ich nur eine einzige pissende Kuh oder eine kleine historische Gräuelthat hätte aufweisen können. Schlachten dagegen seien »nicht gefragt« – der ewige Friede vor der Thür – wie viel ich denn jährlich mit meiner altmodischen Kunst verdiente? – Nun, ich log eine für meine Verhältnisse unerhörte Summe. Da lachte der Unmensch: er wisse von einem Thiermaler, der mit einem einzigen Schafskopf, an dem man freilich die Qualität der Wolle deutlich durch die Loupe studiren könne, das Doppelte verdient habe. Hier nun spielte mir mein Temperament einen Streich. Ich ließ mich zu einem unehrerbietigen Wortspiel hinreißen, das obenein viel zu nahe lag, um der Sünde werth zu sein; genug: nun war kein Halten mehr. Zum Unglück hörte man das Lachen über meinen schlechten Witz, das der Papa schuldig blieb, ganz deutlich aus dem Nebenzimmer. Die Betreffende schien ihrer zärtlichen Ungeduld nicht widerstanden, sondern gehorcht zu haben. Ich aber –
Er stockte plötzlich. Sein Blick war unwillkürlich nach dem Fenster drüben gewandert, und was er dort sah, ließ ihn das Ende seines Berichtes vergessen.
Ein allerliebster Mädchenkopf erschien hinter den Scheiben, zwei kleine Hände tauchten auf, die im Begriff waren, ein Strohhütchen auf dem braunen Haar festzubinden, dann wurde das Fenster aufgemacht und, wie es schien, ernsthaft nach dem Himmel gespäht, ob er mit Regen drohe, oder sicher zu bleiben verspreche. Auch an dem Fenster zur Linken sah man jetzt eine schlanke Gestalt sich zum Ausgang rüsten, die Näharbeit in das Tischchen verschließen und dann das Fenster öffnen, um die Abendluft den Blumen zu Gute kommen zu lassen. Aber während der muntere Blick der Anderen blitzschnell vorbeistreifend zu den beiden Junggesellen hinüberglitt und Rosenbusch, der rasch ans Fenster getreten war, ein verstohlenes Zeichen zublinzle, enthielt sich die zweite Schwester streng all solcher weltlichen kleinen Künste und verschwand gleich darauf von ihrem Fenster, nachdem sie der jüngeren ein Wort zugerufen, das der Späher drüben trotz des offenen Fensters nicht verstehen konnte.
Elfinger, rief der Maler, es war nur ein Trugschluß! Die Geschichte ist noch lange nicht aus, und ich wette, das Kapitel, woran wir jetzt kommen, ist nicht das langweiligste in dem ganzen Sensations-Roman.
Er zog den erstaunten Freund, der in seiner Betroffenheit diesen plötzlichen Umschlag der Stimmung nicht fassen konnte, hastig zur Thür hinaus und hinunter auf die Straße. Sie traten eben in die Hausthür, als das Schwesternpaar drüben die Schwelle ihres Hauses verließ, beide sittsam verschleiert und kleine schwarze Büchlein in den Händen. Aber ehe sie sich nach rechts wandten, flog ein rasches Lächeln über das runde Gesichtchen der Jüngeren, das Rosenbusch durch den Schleier hindurch bemerkte und richtig zu deuten wußte.
Warten wir einen Augenblick, sagte er. Wir wollen ihnen einen kleinen Vorsprung lassen. Eine Wetterhexe, dieses kleine Philisterkind! Wo sie's nur her hat?
Sie scheinen in die Kirche zu gehen. Ist denn jetzt so spät noch irgend eine offen?
Du vergissest, daß diese gute Stadt Monachum Monachorum heißt. Wenn's für die Vesper zu spät ist, so ist's für eine Vigilie gerade früh genug. Und nun marsch! Sie biegen uns sonst um die Ecke, und wir haben das Nachsehen.
Es war noch hell in den Straßen, aber der Feierabend bricht in München zeitig an, zumal an Sommertagen, wenn eine trockene Luft weht, die einen frühen Durst mit sich führt. Durch das Gewühl der inneren Stadt huschten die beiden zierlichen Mädchengestalten so gewandt wie Eidechsen, jetzt den Blicken ihrer getreuen Nachfolger verschwindend, jetzt wieder auftauchend. Sie lenkten in eine ziemlich breite, aber menschenleere Nebenstraße ein, wo ein unscheinbares Kirchlein, das aber im Geruch besonders kräftiger Protection der Muttergottes stand, aus der Reihe der Wohnhäuser kaum heraustrat. Nur eine bescheiden ausgeschweifte Wölbung der zopfig decorirten Façade kündigte etwas Besonderes an, wie wenn ein geistlicher Herr in Einer Reihe mit seinen Beichtkindern einhergeht und nur durch die sanfte Rundung seines Leibes anzeigt, daß er sein Leben der Beschaulichkeit und dem Dank für alle guten Gaben des Himmels geweiht hat.
Aus dem niedrigen, mit einer schmucklosen Holzthür verwahrten Portal dieses Winkelkirchleins strömte eben eine dichte Schaar Andächtiger, zumeist alte Weiber, eingetrocknete Männlein und einige frühbekehrte Sünderinnen mit erloschenen Gesichtern und unstäten Blicken. Die meisten ergaben sich, sobald sie auf die Straße hinauskamen, dem erquicklichen Genuß frischer Luft und eines freimüthigen Geplauders, das sie drinnen sich hatten versagen müssen. Nur ein paar hustende alte Männchen schlichen, den Rosenkranz noch zwischen den dürren Fingern hin- und herschiebend, an den Häusern entlang ihres Weges. Die andächtige Gesellschaft war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich über die Verspäteten zu wundern, die nun in das verödete Heiligthum eintraten. Es war hier düster und unheimlich. Ein langer Bursch in weißem Chorhemd, der als Sacristan fungirte, beschäftigte sich schläfrig damit, die Kerzen auf dem Hauptaltar mittelst eines Rohrs, an dem ein Löschhütchen befestigt war, auszumachen, und breitete dann ein Schutztuch über die Altardecke. Nun fiel das schwindende Tageslicht nur durch zwei Bogenfenster herein, auf denen die Gestalten der Jungfrau und des Nährvaters mit dem Christusknaben in schönen rothen und blauen Glasfarben leuchteten. Gegenüber jedoch, unweit von dem Haupteingang, wo zwei rothe Porphyrsäulen den Orgelchor trugen, war schon tiefe Dunkelheit, nur schwach unterbrochen durch die kleinen Lichtstümpfchen, bei denen einige unermüdliche Beterinnen fortfuhren, in ihren Büchlein zu lesen, obwohl der eigentliche Gottesdienst zu Ende war. Ein eisernes Gestell mit Zacken und nach oben gekehrten spitzen Nägeln trug ebenfalls kleine und große Wachskerzchen, die von Andächtigen dort aufgepflanzt waren, als eine bescheidene Opfergabe. Von diesem dürftigen Candelaber, der vor einem Seitenaltar flimmerte, ging ein röthlicher Schein über die vielen Crucifixe, silbernen Votivherzen neben den Altären, die gemachten Blumen, die den Schmuck der Reliquienkästchen bildeten, und den ganzen morschen Flitterstaat des Madonnenbildes, das dem gekreuzigten Sohne zu Füßen stand. Unheimlich und das Gemüth beklemmend war das leise Knistern der Flammen zugleich mit dem gedämpften Murmeln aus zahnlosen Lippen, dem Schnauben und Hüsteln der knieenden alten Weibchen und einem wunderlichen Geruch von Wachskerzen, Weihrauch und Schnupftabak, welches letztere Mittel, die Andacht vor dem Einnicken zu bewahren, hier fleißig gebraucht zu werden schien.
Aber alle diese Eindrücke, die den beiden Freunden zuerst fast den Athem raubten, schienen über die beiden Schwestern durch lange Gewöhnung ihre Macht verloren zu haben. Nachdem sie sich aus dem Becken neben der einen rothen Säule mit Weihwasser benetzt hatten, schritten sie sacht auf das Lichtergestell zu und befestigten auch ihrerseits jede ihr Kerzchen an einem der scharfen Stacheln, es sorgfältig vorher anzündend, dann kehrten sie zu den Säulen zurück und ließen sich in den beiden hintersten Kirchenstühlen, die Eine hüben, die Andere drüben, auf die Kniee nieder, so daß der mittlere Gang sie von einander trennte.
Sofort schienen sie Beide in eifrige Andachtsübungen vertieft, die Stirn auf das geöffnete Büchlein gedrückt, die kleinen Hände mit den Kügelchen ihrer Rosenkränze beschäftigt. Aber sie konnten noch kein Vaterunser gebetet haben, so waren die Plätze neben ihnen schon besetzt durch zwei freiwillige Theilnehmer ihrer Andacht. In dem Stuhl zur Rechten, neben der zusammenschreckenden Fanny, kniete Elfinger, gegenüber, an der Seite seines Weltkindes, das aber nicht die mindeste Notiz von ihm zu nehmen schien, hatte sich Rosenbusch sacht auf den Betschemel niedergelassen.
Die murmelnden, hüstelnden, Tabak schnupfenden Mütterchen, die hie und da zerstreut saßen, nahmen offenbar keinen Anstoß an diesen symmetrischen Gruppen, die lautlos mit sich selbst beschäftigt waren, und nur ein rundes, starkgeröthetes Pfäfflein, das in der Fensterloge bei einem eigenen Kerzchen kniete und eifrig mit hoch auf die Stirn zurückgeschobener Brille in einem Buche las, schien plötzlich in seiner Lectüre gestört zu werden. Die Brille rutschte eilig auf die Nase herab, und die kleinen Augen suchten angelegentlich das Helldunkel zu durchdringen, das um die beiden rothen Säulen spielte.
Ist es denn wirklich Ihr Ernst? flüsterte Elfinger, dicht an das Ohr seiner Nachbarin hingeneigt. Sie wollen dieser schönen Welt den Rücken kehren und sich in ein Kloster vergraben? Sie – so jung – so reizend – so dazu geschaffen, glücklich zu sein und glücklich zu machen!?
Ein tiefer Seufzer war die einzige Antwort, die er erhielt. Zugleich rückte sie ganz unmerklich um einen halben Zoll von ihm weg und vergrub das schlanke Näschen noch tiefer in ihr Meßbüchlein.
Fräulein Fanny, flüsterte er nach einer Pause, was haben Sie denn in dieser Welt so Entsetzliches gehört oder erlebt, daß Sie ihr schon gram geworden sind? Oder scheint die Luft hier in diesem Bethaus Ihnen so viel leichter zu athmen, als draußen die schöne Gottesluft? Und glauben Sie, daß Sie das Kloster bester gelüftet und eine bessere Gesellschaft darin finden werden, als hier?
Heilige Mutter Gottes, bitt' für uns, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens, Amen! hauchte das Mädchen und machte das Zeichen des Kreuzes. – –
Und Sie glauben, daß ich mich dabei beruhigen werde? raunte Rosenbusch seiner Nachbarin zu. O angebetete Nanny, Sie kennen mich nicht! Wenn die Schlachtenmalerei ihren Mann auch nicht gerade fett macht, – stark macht sie ihn, löwenkühn, unüberwindlich! Sie sollen sehen, was für Heldenwerke ich noch verrichte, vorausgesetzt, daß Sie mir hold und treu bleiben. Oder zweifeln Sie an mir?
Sie schwieg ein wenig. Ein rascher, muthwilliger Seitenblick streifte ihn. Gehen Sie, flüsterte sie kaum hörbar, Sie machen doch nur Spaß. Es ist recht unrecht von Ihnen, daß Sie uns hier nachgegangen sind. Ich hab' noch sechs Vaterunser zu beten, und es ist eine rechte Sünd' – –
Eine Sünd' ist's von Ihrem Papa, süßes Nannerl, daß er Sie einsperrt, wie ein Klosterfräulein, und nur in die Kirche gehen läßt, als ob so ein junges Menschenkind nichts Anderes brauchte, als fromm zu sein. Wann soll man denn lustig sein, wenn man's nicht ist, so lang man jung ist? Gelt, Fräulein Nanny, wenn der Vater gestern nicht so bös gewesen wär' und ich dürft' heut, statt hier in dem finstern Winkel, droben im Sopha neben dir sitzen und dir lauter unsinnig verliebte Sachen ins Ohr sagen, und die Schwester, die uns bewachen sollt', hält's draußen sehr nochwendig in der Küch', und – –
Das runde rothe Gesicht in der Fensterloge nahm einen höchst mißbilligenden Ausdruck an, da die beiden Kopfe neben der Säule sich so dicht zusammensteckten, daß die Haare sich berührten und das leiseste Lispeln genügte, um verstanden zu werden. Drüben bei dem andern Paar blieb doch immer ein Raum von zwei Spannen Breite zwischen den Knieenden. Gleichwohl schien auch hier keine Silbe verloren zu gehen.
Ich weiß, daß ich kein Recht habe, auf ein besonderes Glück zu hoffen, flüsterte Elfinger. Ich bin ein armer Krüppel. Wenn Sie mir jetzt erwiedern, daß es eine Vermessenheit sei, mit einem einzigen Auge Gnade finden zu wollen vor dem schönsten jungen Augenpaar, das jemals sich an einem Gebetbuch müde gelesen, so find' ich das ganz in der Ordnung. Ja Sie thun mir sogar einen Gefallen, Fräulein Fanny, wenn Sie mir das sagen, wenn Sie mir gestehen, daß ein Mensch, der mir gleich sieht, niemals Ihr Herz gewinnen könnte. Ich würde dann versuchen, zur Vernunft zu kommen, das heißt, ganz hoffnungslos zu werden. Wollen Sie mir diesen Gefallen thun?
Tiefes Schweigen. Sie schien dennoch nicht geneigt, eine solche Erklärung abzugeben.
Sie sind grausam! fuhr er fort. Ich soll nicht leben und nicht sterben. Aber was liegt auch an mir? Wenn ich glauben könnte, daß Sie dabei glücklich würden – o Fanny, ich würde wahrhaftig meine eigenen Gefühle zurückdrängen und das Kloster, in welchem Sie leben und zufrieden sind, für ein Paradies erklären. Aber mir graut davor, zu denken, daß Sie es bereuen werden, wenn es zu spät ist, daß dann selbst das Leben an der Seite eines so häßlichen, unscheinbaren, unberühmten Menschen, wie ich bin, der Sie aber mehr als sich selbst liebte, Sie auf den Händen trüge, seine ganze Welt in Ihnen fände – –
Er erhob die Stimme bei diesen Worten so bedenklich, daß sie erschrocken aufsah, einen Blick umherwarf und ihm dann ein flehentliches Zeichen machte, sich zu mäßigen. Dabei war sie ihm unwillkürlich nähergerückt.
Um Gotteswillen, stammelte sie, was machen Sie! Bitte, bitte, lassen Sie mich! Es kann, es darf nimmer sein! Nie – nie –! ein Geheimniß, das ich keinem Menschen sagen darf, nicht einmal –
In der Beicht'! wollte sie hinzusetzen. Plötzlich erschrak sie selbst davor und ließ das Gesicht wieder auf ihr Büchlein sinken.
Diese elende, mattherzige, schnöde Krämerwelt! wüthete Rosenbusch drüben in seinem Stuhl. Geschehen denn noch kühne und mannhafte Thaten? O Nannerl, wenn es noch wäre, wie damals – ich käme auf meinem muthigen Renner Nachts an deines Vaters Burg gesprengt, du ließest dich an einer Strickleiter aus dem Erkerfenster herab, schwängest dich hinter mich aufs Roß – und fort ging's in die weite, weite Welt. Jetzt dagegen –
Hm! Jetzt haben wir Eisenbahnen! lispelte sie schelmisch.
Mädchen! rief er mit halberstickter Stimme, ist das dein Ernst? Du würdest – du hättest die Courage –? O Herzensnannerl! wenn ich dich also entführen wollte, du hättest mich so gern, daß du mir bis ans Ende der Welt –
Sie schüttelte den Kopf. Es klang wie ein unterdrücktes Kichern.
Behüte! sagte sie. Wir brauchten bloß bis Pasing zu fahren. Der Papa dampfte dann an uns vorbei. Oder gar, wie's einmal Zwei gemacht haben: die sind von Haus weg bloß auf den Petersthurm 'nauf, da haben sie beim Thürmer versteckt gesessen, derweil haben ihre Leut' das ganze Land nach ihnen durchsucht, und sie haben Alle ausgelacht.
Nannerl – du wolltest? O welch ein himmlischer Einfall! Morgen, wenn dir's Ernst damit ist, morgen Abend um diese Zeit –
Sie lachte nun wirklich, hielt aber vorsichtig das Tüchlein vor den Mund. Gehn's, sagte sie, das war ja nur so geschwätzt! Es kann keine Red' davon sein – die Mutter grämte sich zu Tod – und übrigens – Aber wir müssen fort. Die Fanny steht schon auf.
Sie nahm ihr Buch eifrig vors Gesicht, um rasch fertig zu beten. Er aber, von Liebe, Thatendrang und der heimlichen Dunkelheit des Ortes befeuert, raunte ihr hastig zu: Und so willst du mich fortschicken? Nicht ein einziges – verstohlenes – o Nannerl! Du thät'st ein Gott wohlgefälliges Werk. Ein Küßchen in Ehren –
Sie schien plötzlich taub geworden zu sein, so unbeweglich lag sie auf den Knieen und hatte die Augen fest zugedrückt. Dann aber machte sie eine Bewegung, um aufzustehen. Dabei glitt das Büchlein von der schrägen Pultfläche herab zwischen sie und ihren ritterlichen Nachbar. Sie bückte sich rasch, um es aufzuheben, und da er nicht umhin konnte, das Gleiche zu thun, war nichts natürlicher, als daß ihre Gesichter sich in der tiefen Finsterniß da unten nahe genug kamen, um ihn einen raschen Kuß auf die runde Wange des Mädchens drücken zu lassen.
Sie schien nicht einmal zu merken, daß dergleichen sich zugetragen hatte. Ich danke Ihnen, flüsterte sie, als sie wieder auftauchte und das Buch in der Hand hielt, das er ihr dienstfertig überreichte. Gute Nacht! – Sie dürfen uns aber jetzt nicht wieder nachgehen!
Das sagte sie in einem Ton, der es sehr zweifelhaft machte, ob sie es ernst meinte. Dabei war sie aufgestanden und rasch aus dem Stuhl herausgetreten, ihrer Schwester entgegen, die mit gesenkten Augen neben dem Weihbecken stand und ihrer wartete.
Die beiden schlanken Gestalten knixten ehrerbietig gegen den Hauptaltar, besprengten sich noch einmal mit Weihwasser und verließen dann, wie sie gekommen waren, die Gesichter wieder verschleiert, ihre Büchlein vor sich in den Händen haltend, die kleine Kirche.
Fünf Minuten nachher sah man auch Rosenbusch, Arm in Arm mit dem Schauspieler, aus dem Portale treten. Der Schlachtenmaler warf den einzigen Sechser, den er bei sich trug, einem lahmen Bettler in den Hut. Heilige Mutter Gottes, rief er, das Leben ist doch schön, trotz aller ledernen Handschuhmacher!
Wohin gehen wir? fragte der düstere Freund, dem das »Geheimniß« seines Mädchens alle Lebenslust niederschlug.
Nach dem Petersthurm, edler Roscius. Ich muß heut Abend noch mit dem Thurmwächter Bekanntschaft machen und mir die Gelegenheit besehen. Man kann nicht wissen, was für teufelsmäßige Abenteuer einem begegnen, bei denen es nützlich ist, so hohe Freunde und Gönner zu haben.