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»Die Deutschen sind das eingebildetste Volk der Welt.« Ich halte diesen Satz für richtig. Sie halten sich ganz aufrichtig für kolossal bescheiden. Dies ist aber grundfalsch.
Theodor Fontane
Ich kann mich umsehen, wo ich will, außer in Berlin scheint mir das Gelingen unmöglich.
Goethe
»Die Verantwortung folgt der Zuständigkeit«, lautet ein alter und trotzdem unumstößlicher Rechtssatz. Um für die furchtbaren Schäden seines Wohnungswesens wenigstens in Zukunft verantwortlich werden zu können, muß endlich Berlin seine Freiheit und Selbstverwaltung wiederherstellen. Bevor Berlin unter die Fänge des Hohenzollern-Adlers geriet, zeigte sein Wappen zwei aufrechte Bären, die den Reichsadler schützend umstanden. So zeigte das Wappen vorahnend die Aufgabe, die eine wahre Hauptstadt wirtschaftlich und geistig im Leben eines Volkes erfüllen muß und ohne deren Erfüllung die Nation nicht gedeihen kann.
Wirtschaftlich erfüllt Berlin seine Aufgabe heute mehr als je. Berlins Bevölkerung beträgt nur 7 v. H. der deutschen Gesamtbevölkerung; aber Berlins Steuerleistung beträgt von der Gesamtsumme aller Reichs- und Landessteuern an Einkommensteuer 16 v. H., an Körperschaftssteuer 25 v. H., an Umsatzsteuer 13 v. H., an Hauszinssteuer (1927) 23 v. H. und an Kraftfahrzeugsteuer 12 v. H.
Trotz dieser überlegenen Leistung der Reichshauptstadt wird sie noch weiter, wie in der Zeit der »großen« Hohenzollernkönige, als ein Gegenstand der wirtschaftlichen Ausbeutung behandelt. Aber nicht genug, daß Berlins Wohnungsnot durch die geschilderten staatlichen Eingriffe auf das verhängnisvollste verschärft wird. Obendrein wird der Stadt Berlin die Selbstverwaltung, die jede andere preußische Stadt genießt, weitgehend geschmälert. Der preußische Wohlfahrtsminister hat das Einspruchs- und Verfügungsrecht über Fragen des Berliner Städtebaues an sich genommen, das sich früher die preußische Krone angemaßt hatte und das die Revolution zu beseitigen vergaß. Ein Bauvorhaben unterliegt in Berlin der Genehmigung von bis zu 26 Dienststellen. Die Anzahl der in Berlin dreinredenden Behörden und Dienststellen soll durch das (dem Landtag vorliegende) neue Städtebau-Gesetz sogar auf 40 erhöht werden. Mit Recht fordert der Berliner Stadtbaurat Wagner, »daß die Baupolizeigewalt über Berlin dem preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt entzogen und auf das Amt des Berliner Stadtbaurats übertragen wird«. Adolf Wermuth hat in seinen »Erinnerungen« den Kampf geschildert, den er als Oberbürgermeister und als Mitglied des Herrenhauses um das gleiche Wahlrecht gekämpft hat, vor dessen Einführung Berlin noch viel mehr als heute der Spielball seiner Gegner und gleichsam ihrem Kuratel unterstellt war. Bei Wermuth kann man nachlesen, wie Wilhelm II. im Jahre 1917, also 102 Jahre nach einem berüchtigten, weil gebrochenen königlich preußischen Verfassungsversprechen, das gleiche Wahlrecht zusagte, wie dann aber Abgeordnetenhaus und Herrenhaus 14 Monate lang den Beschluß über ihr eigenes Abdankungsurteil verschleppten, und wie der 1. Oktober 1918 endlich die Entscheidung brachte: »Die Heeresleitung erbat nicht mehr und nicht weniger, als daß das gleiche Wahlrecht ohne jeden Verzug vom Herrenhaus angenommen wurde. Gebieterisch verlange die politische und militärische Lage eine völlige innere Einheit des Volkes, damit es in seiner äußersten Bedrängnis zusammenstehe. Jeder Reibungsstoff müsse sofort verschwinden, vor allem anderen der Verfassungsstreit. Daher bitte mit der Heeresleitung die Regierung inständigst, nicht morgen, sondern heute endlichen Beschluß zu fassen. Der geringste Aufschub könne verhängnisvoll sein.«
Am Nachmittag desselben Tages wurde das gleiche Wahlrecht in erster Abstimmung von denselben Mitgliedern des Herrenhauses angenommen, die, noch bevor sie zur zweiten Abstimmung schreiten konnten, für immer ihren Abschied von der Revolutionsregierung erhielten. Auf Grund dieses von der Heeresleitung so inständig erbetenen neuen Wahlrechts hat die Hauptstadt endlich einen Teil, aber erst einen Teil, des Selbstverfügungsrechtes errungen, dessen Fehlen der hauptstädtischen Kultur und vor allem dem hauptstädtischen Städtebau sowie der gesamten Politik des Deutschen Reiches verhängnisvoll geworden ist.
Auch die endliche Einigung Berlins, 1920, war eine Errungenschaft des Krieges. Er hat schon 1915 mit der Brotkarten-Gemeinschaft die eigentliche »erste Sitzung des Großberliner Magistrates« zusammengeführt, als im Inneren die deutsche Verteidigung unter dem vom preußischen Staate gepflegten Unordnungsbedürfnis litt. Vorübergehend vermochte wenigstens der Krieg preußischen Staatsmännern klarzumachen, wie gemeinschädlich und abenteuerlich die Großberliner Unordnung war, die der preußische Staat aus Angst vor einer geeinten mächtigen Hauptstadt durch immer neue Vermehrung seiner zuverlässig hemmenden Sicherheitsmaßregeln und Beamtenkörper in jahrhundertelanger fleißiger Arbeit aufgebaut hatte.
Das vorbildliche englische Wohnwesen, die Überlegenheit der englischen politischen und formalen Kultur und die politische Machtstellung Englands sind aus mannigfaltigen Vorbedingungen zu erklären. Aber vielleicht die wichtigste dieser Vorbedingungen ist gewesen, daß London von alters her immer so gut wie unabhängig war, und zwar in noch viel höherem Maß unabhängig als je eine deutsche »freie Stadt«. Die Worte, mit denen der Londoner Oberbürgermeister den englischen König im Jahre 1268 begrüßte, sind auch in aller Folgezeit der Ausdruck des wahren Verhältnisses Londons zum englischen Königtum und zum englischen Staat geblieben; der Oberbürgermeister von London sagte zum König: »Mein Lord, solange Sie uns ein guter Lord und König sein werden, solange werden wir Ihnen treu bleiben.« Der dänische Städtebauer und Architekt Steen Eiler Rasmussen hat zu diesem Thema wichtige Quellen gesammelt. Jedesmal, wenn der König kein guter Lord für die Stadt London war, hat sie ihn über kurz oder lang verjagt oder geköpft und durch einen Mann oder eine Frau ersetzt, die der Entwicklung städtischer Kultur keine Hindernisse in den Weg legten. Jedes andere Verhältnis der Hauptstadt zum Staat muß für beide lebensgefährlich werden, solange die Stadt Sitz der geistigen Kultur des Volkes ist. In England, wo der Adel nicht kultur- und staatsfeindlich ist, hat er zur Steigerung der städtischen Kultur auf das glänzendste beigetragen. »In Deutschland«, wo »der Adel« nach Nietzsches Ausspruch »bisher zu den Armen im Geiste gehörte«, ist seine politische Übermacht über die Hauptstadt besonders schädlich geworden und hat die Entwicklung einer hauptstädtischen Kultur im höheren Sinn des Wortes unmöglich gemacht. Die politische Entwicklung in Deutschland und mehr noch die wirtschaftliche Entwicklung in der Welt macht es heute jeder Großstadt in viel höherem Maß als früher möglich, gestützt auf eine machtvolle wirtschaftliche und politisch unabhängige Stellung eine eigene Kultur zu entwickeln. Der Städtebauer und Verkehrsfachmann Professor Otto Blum, Hannover, wies darauf hin, daß die »Kulturstaaten unter dem Zeichen der Fortschritte des Fernverkehrs allerdings in die Weltwirtschaft hineinwachsen, daß sie aber gleichzeitig unter dem Zeichen der Fortschritte des Nahverkehrs in die Stadtwirtschaft zurückfallen … Tatsächlich leben wir heute wieder in einem wirtschaftlichen und politischen Zustand, der dem der römischen oder mittelalterlichen Stadtstaaten und ihrer großen »Städte-Bünde« sehr ähnlich ist … Verursacht ist der »Rückfall« größtenteils durch die Verbesserung der Verkehrsmittel; und zwar einerseits der Fernverkehrsmittel, weil hierdurch bestimmte Punkte ihre in bezug auf den ganzen Staat oder sogar den Kontinent bevorzugte Lage kraftvoll ausnutzen konnten, man denke an die führenden Seehäfen, die Großstädte auf den Kohlenfeldern und die maßgebenden Zentren des Binnenverkehrs (Breslau, Leipzig, Frankfurt, Basel und die niederrheinischen Großstädte); andererseits durch die Verbesserung der Nahverkehrsmittel, indem der Nachbarschafts- und Vorortsverkehr der Eisenbahnen und Straßenbahnen, später auch der Kraftwagen den Städten die Fähigkeit verliehen hat, sich über ein großes Vorortsgebiet städtebaulich auszubreiten und ein noch größeres Nachbarschaftsgebiet in wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit zu bringen.
Es handelt sich hier um einen weltwirtschaftlichen Vorgang, der die höchsten Gefahren und die höchsten Verheißungen mit sich bringt. Plumpes Festhalten an den herrschenden stadtfeindlichen Vorstellungen der Vorkriegszeit kann hier unheilbaren Schaden anrichten. Von der glücklichen Vollendung dieses weltwirtschaftlichen Vorganges hängt es ab, ob Deutschland ein mächtiger Bund wirklich kultivierter Städte werden und ob Berlin ein gesünderes Wohnwesen und städtische Kultur erringen kann. Ohne gediegene hauptstädtische Kultur kann Deutschland keinen Anspruch auf Weltgeltung auch bescheidener Art machen, sondern wird der geistige Vasall der ausländischen Städte werden, die schon heute seine Wirtschaft, seinen Geschmack, seine Moden und seinen Sport überfremden.
Es wurde berichtet, wie Bismarck einmal halb im Scherz, halb im Ernst die Verhinderung des Krieges mit Rußland versprach, damit endlich eine Berliner Gartenvorstadt im Grunewald gebaut werden könne (Seite 279). Daß Friedensarbeit den Krieg verdrängen müsse, schwebte dem Verfasser dieses Buches vor, als er seit 1909 die internationalen Städtebau-Ausstellungen in Boston, Berlin, Düsseldorf usw. anregte und leitete, deren wichtigste Stücke bald darauf in London zu einer noch größeren Ausstellung vereinigt wurden. Nach dem Erfolg dieser Ausstellungen begründete der Verfasser 1912 den Propaganda-Ausschuß »Für Groß-Berlin«, der mit allgemeinverständlichen Mitteln für neue und umfassende Friedensarbeit baupolitischer Art warb und die öffentliche Meinung über die gewaltigen Pflichten des damals neu entstehenden Großberliner »Zweckverbandes« aufklärte. In den folgenden Jahren folgte der Verfasser wieder einer Einladung nach den Vereinigten Staaten und leitete dort in zwanzig Städten Veranstaltungen zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die neuen Möglichkeiten und Pflichten, die das ungeheuere Wachstum der modernen Städte unserer Gegenwart und Zukunft auferlegt. Eine ähnliche Reise nach Südamerika war in Vorbereitung, als der Weltkrieg den Verfasser auf der Heimkehr aus den australischen Hauptstädten überraschte. Mit diesem in verschiedenen Ländern geführten friedlichen Feldzug für bessere Wohnungs- und Arbeitsmöglichkeiten hofften der Verfasser und seine Freunde, einer Anzahl der später verpulverten Milliarden sehr viel nützlichere Verwendung zu schaffen, als der Weltkrieg nachher zu bieten vermochte. Diese Gruppe von z. T. einflußreichen Gleichgesinnten hoffte damals, die kapitalkräftigsten Länder von der notstandsartigen Dringlichkeit ihrer baupolitischen Pflichten zu überzeugen und so tief in milliardenverschlingende, aber nicht vernichtende, sondern aufbauende und wirklich produktive Notstandsarbeiten zu verwickeln, daß der drohende Weltkrieg verschoben werden müßte, wie etwa die außenpolitischen Verwicklungen, die Napoleons III. umstrittene innerpolitische Stellung verlangte, verschoben werden mußten, solange die dringenden Arbeiten für die Weltausstellung von 1867 ihre beruhigende Wirkung auf Finanz, Industrie und Volksmasse Frankreichs ausübten.
Wenn man die Milliarden-Programme liest, mit denen in England kürzlich der Liberale Lloyd George und nach ihm der sozialistische »Minister zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« Smith Thomas der inneren Kolonisation sowie dem Wohnungs- und Straßenbau ihres ganzen Landes und im besonderen Groß-Londons einen gewaltigen neuen Antrieb zu geben versuchten, dann könnte man beinahe Hoffnung schöpfen, daß die Völker in den kommenden Jahrzehnten nicht wieder die Friedensarbeit über der Kriegsrüstung vergessen werden. Wenn England mit innerer Kolonisation großen Stils den Anfang machte, würde sein großer Schüler Amerika nicht versäumen können nachzueifern. Im Gefolge dieser beiden Riesen könnte das Friedenswerk auf der ganzen Welt in Angriff genommen werden, und der ewige, noch nie faßliche und doch nie gelöste Widerspruch würde endlich aufhören, daß Millionen Menschen Mangel leiden, weil Millionen arbeitsgieriger Menschen nicht arbeiten dürfen.
Da im Deutschen Reich im Jahre 1928 4,7 Milliarden Mark für alkoholische Getränke verausgabt wurden und der jährliche Bierverbrauch jedes Deutschen sich von 38 Litern im Jahre 1920 auf 90 Liter im Jahre 1929 steigern konnte und da Deutschland obendrein gezwungen ist, in den nächsten Jahren seine Ausgaben für Kriegsrüstungen einzuschränken, wird es vielleicht nicht unmöglich sein, daß sogar unser krieggeschwächtes Vaterland an der neuen Friedensarbeit im internationalen Städtebau teilnimmt und wenigstens die dringendsten Notstände seines Wohnwesens erfolgreich bekämpft. Vielleicht könnte dann in der städtebaulich schwer vernachlässigten Hauptstadt allmählich sogar Mustergültiges geschaffen werden.
Bauwelt Fundamente
(lieferbare Titel)