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Ob jemand spricht, der nun mag leben,
Daß er je sah reichlicher geben,
Als wir zu Wien durch Ehre han empfangen!
Walther von der Vogelweide, im Jahre 1200
Nach Berlin kommt so leicht keiner zum Vergnügen.
Der Berliner Generalpolizeidirektor Wilhelm Stieber (1818-1882)
»Man tut ihm zuviel Ehre, wenn man von Berlin das deutsche Licht und jedes edlere Streben ausgehen läßt … Nein, vom Süden und aus der Mitte Germaniens kam deutsche Kraft und jede edlere Bildung … die Berliner, wie die Gaskogner, haben häufig die Ausrufer dessen gemacht, was anderswo getan und gemacht war … Es ist auch unmöglich, daß in einem so strenge gehaltenen und gespannten Soldatenstaate je das Genialische und Künstlerische aufblühe, was Lebensfröhlichkeit bei den Menschen will.« So schrieb im Jahre 1805 Ernst Moritz Arndt, der nicht nur ein Preuße, sondern auch ein guter Deutscher gewesen ist und uns immer der Dichter des Liedes »Was ist des Deutschen Vaterland?« bleiben wird.
Gewiß darf beim Betrachten Berlins niemals vergessen werden, daß diese Hauptstadt ihren Vorrang in Mitteleuropa mit schweren Opfern für das gesamtdeutsche Vaterland und auf Kosten einer älteren und bessergelegenen, ruhmreicheren deutschen Hauptstadt erkauft hat. Der vaterländische Betrachter muß also fragen: was rechtfertigt diese großen Opfer und was ist endlich im neuen Berlin besser gemacht worden als im alten Wien, das Goethe noch »die Hauptstadt unseres Vaterlandes« nannte?
Wien, wo Kaiser Mark Aurel mehr als 1000 Jahre vor Berlins Gründung starb, wurde schon so früh eine Hochburg deutschen Geistes und deutscher Waffen, daß der Ritter Walther von der Vogelweide sich rühmte, dort »singen und sagen« gelernt zu haben, lange bevor Berlin-Cölln aus den Sümpfen eines wendischen Nebenflüßchens aufzutauchen anfing. Zur Zeit, als die ersten deutschen Ansiedler in Berlin-Cölln unternahmen, den wendischen Namen »Kollen« (d. h. ein von Sumpf umgebener Hügel) dem rheinischen Namen Köln (colonia) anzugleichen, wurden in Wien, am größten Strome West-Europas, schon die Nibelungenlieder und die Heere der kreuzfahrenden Hohenstaufenkaiser gesammelt. Der zu Wien regierende deutsche Fürst gewann damals eine Prinzessin aus Byzanz, das die letzte Hüterin antiker Kultur war. Wien war schon damals die volkreichste Stadt zwischen Byzanz und dem rheinischen Köln und wurde schnell die anerkannte Mitte jenes Mitteleuropa unter deutscher Führung, dessen Verteidigung nach Westen, dessen Ausbau nach Osten und dessen tausendjähriger Bestand schließlich scheiterte an dem »preußischen Partikularismus und seiner Auflehnung gegen das gesamtdeutsche Gemeinwesen« (dies letzte Wort stammt von Bismarck), der Berlins Herrschaft über das verbleibende Kleindeutschland herbeiführte. Berlin hat im Mittelalter Künste und Wissenschaften vernachlässigt. Berlin besitzt keine bedeutende Kirche, und in seiner eigentümlichen geistigen Enge konnte sich auch eine Universität erst nach dem befreienden Eingriff Napoleons entwickeln. Dagegen ist der Wiener St.-Stephans-Dom eine der herrlichsten Kirchen des Abendlandes, die mittelalterliche Bauhütte Wiens war weltberühmt, und die Wiener Universität, 450 Jahre älter als die Berliner, wetteiferte schon im Mittelalter erfolgreich mit den berühmten Hochschulen von Paris und Prag. In Wien verfaßte seit 1808 Friedrich Schlegel die Vorlesungen zur Geschichte und die Aufrufe zum deutschen Freiheitskrieg, die schließlich auch in Berlin gehört wurden. Aber schon unter Kaiser Maximilian wurde die Wiener Hochschule die Lehrstätte führender deutscher Humanisten wie Celtis und Regiomontanus, während der Schüler des Celtis, der einst berühmte Tritheim, Berlin verließ mit den Worten: »Die Berliner sind zwar gut, aber allzu ungebildet.« Noch 260 Jahre später wurde dieser Ausspruch fast wörtlich von Lessing wiederholt, als er Preußen »das sklavischste Land von Europa« nannte und die Hoffnung, dort ein deutsches Theater zu begründen, endgültig aufgab. Musik und Theater Friedrichs des »Großen« Da die Frage nach der Berechtigung von schmückenden Beinamen wie »der Große«, »der Blutige« oder »der Dicke« neuerdings wieder umstritten wurde, soll im vorliegenden Buch dem Beispiel Bismarcks gefolgt werden, der im dritten Band seiner »Gedanken und Erinnerungen« (S. 124) vom »großen« Friedrich mit Anführungsstrichen sprach. blieben trotz größten Aufwandes leblose provinzielle Angelegenheiten, zu deren Besuch der König Soldaten kommandieren mußte, um Leben vorzutäuschen. In Wien dagegen erwuchs aus dem quellenden Leben eines glücklich begabten Volkes früh Schauspiel und Musik von internationaler Bedeutung und auch die erste ständige deutsche Bühne. Später führte Wien mit seinem Hofburgtheater in der dramatischen Kunst Deutschlands noch lange, nachdem die Politik Berlins begonnen hatte, die östliche Hälfte Deutschlands aus dem Reich zu drängen. Aber in Berlin konnte das Wiener Vorbild eines staatlichen deutschen Theaters erst nach dem Tode jenes französelnden Königs Friedrich II. nachgeahmt werden, von dessen Wirken Ernst Moritz Arndt sagte: »Nun beginnt die letzte große Scission deutscher Nation, die unheilbare, die vielleicht mit dem Volke endigen wird … Der König gewann seinen Zweck, Österreich verdächtig und schwächer zu machen, aber notwendig gewann er auch den, welchen er nicht wollte, Deutschland für immer zu lähmen.« Dieser große König zwang Deutschland in jene Bürgerkriege, die schließlich zum Verlust der östlichen Reichshälfte, der deutschen Kolonisationsgebiete an Donau, Weichsel und Ostsee, zum Verlust der deutschen Großmachtstellung und damit zum Sturz der alten Reichshauptstadt führten.
Vor diesem Sturz besaß Wien viele der wichtigen, in Berlin fehlenden Vorbedingungen zur Schaffung einer mächtigen Stätte deutscher Geistesbildung, die ihre vereinten Strahlen ebenso feurig und unwiderstehlich hätte in die Welt senden können wie etwa London und Paris. Selbst der Berliner Heinrich von Treitschke nannte noch 1874 das Fehlen einer »großen Stadt« in Deutschland ein »unnatürliches Gebrechen, das allein aus den Wirren und dem Unglück einer höchst verwickelten Geschichte sich erklärt«. Das war keine falsche oder gar echte Bescheidenheit bei Treitschke. Weit entfernt, sich des »unnatürlichen Gebrechens« zu schämen, erklärte er vielmehr stolz: »Wir Deutschen sind das einzige Kulturvolk, das ohne eine große Stadt sich die Stellung einer Großmacht erobert hat.« Treitschke war zu sehr Berliner und preußischer Geschichtsprofessor, um verstehen zu können, daß ein Volk ohne große Stadt keine Großmacht ersten Ranges zu werden vermag.
Wenn Deutschlands Hoffnung auf Großmacht nicht am Partikularismus seiner reichsfeindlichen Territorialdynastien zerbrochen wäre, dann hätte das geistig früh und deutsch entwickelte Wien so vorteilhaft in der Mitte der deutschen Ausdehnungsmöglichkeiten gelegen, daß man sich die Gunst dieser Lage und die Nachteile der Lage Berlins kaum anders als durch Vergleiche mit Ländern klarmachen kann, die wie etwa England, Rußland oder Amerika wirklich Großmacht errangen. Wenn man z. B. die deutschen Verhältnisse mit den andersartigen amerikanischen vergleichen dürfte, dann entspräche Wiens Lage in der Mitte zwischen dem rheinischen Köln und dem Goldenen Horn Konstantinopels etwa der Lage Chicagos zwischen New York und dem Goldenen Tor von San Francisco. New York und das rheinische Köln lagen lange nahe den Quellen der amerikanischen und deutschen Volkskraft. Die amerikanischen Kräfte strömten im 18. und 19. Jahrhundert nach Westen, wie seit dem 8. und 9. Jahrhundert die deutschen nach Osten geströmt sind. Die Deutschen hatten den unbeschreiblichen Vorteil größerer Einheit der Sprache und Rasse, während sich die amerikanische Volkskraft aus den unvereinbarlichsten Überschüssen fremder Sprach- und Blutsgemeinschaften ergänzen mußte. Durch ihre Lage nahe den Quellen der Volkskraft waren New York und Köln bestimmt, auf einige Zeit volkreicher zu sein als Chicago und Wien, die lange als Grenzmarken am äußersten Rand der siedlungspolitischen Hoffnungen ihrer Völker lagen. Aber es wird ebenso unvermeidlich sein, daß New York von Chicago überholt wird, wie es unvermeidlich war, daß Köln von Wien überholt wurde. In Deutschland aber verhinderten die staatsfeindlichen Kämpfe der »territorialen« Raubfürsten, daß Wien wie Chicago in die Mitte des wachsenden Siedlungsgebietes rücken durfte. Berlin müßte man etwa mit Pittsburg (oder Buffalo) vergleichen, das wegen einiger bedeutsamer, aber nur zweitklassiger Vorzüge zur Hauptstadt des amerikanischen Siedlungsgebietes geworden wäre, wenn ein feindlicher Friedrich die Ausdehnung der Macht Chicagos nach Westen verhindert hätte, wie er dem sächsischen Vordringen in Polen und dem österreichischen Vordringen auf dem Balkan ein Ende machte, um seinem Berlin einen partikularistischen Scheinerfolg zu sichern. Wenn Pittsburg (oder Buffalo), ähnlich wie in Deutschland Berlin, zum Mittelpunkt der Kräfte Amerikas geworden wäre, dann hätte Chicago, ähnlich wie Wien in Deutschland, an der äußersten Grenze (statt in der Mitte) des Siedlungsgebietes liegen bleiben müssen, und San Francisco wäre von den Angelsachsen ebensowenig erreicht worden wie Konstantinopel von den Deutschen, die 1914 bis 1918 mit diesem längst verspielten Ziel noch einmal blutig kokettierten, um sich dann von ihren Überwindern überzeugen zu lassen, daß ein europäischer Völkerbund nur wünschenswert ist, wenn er nicht unter deutscher oder wenigstens nicht unter Berliner Führung steht.
Einsichtige Österreicher und sogar Preußen, denen die ungeschickten Germanisierungsversuche der habsburgischen oder preußischen Beamtenschaft im 19. Jahrhundert beschämend auf dem Gedächtnis lasten, halten es heute meist für unmöglich, daß Deutsche überhaupt je Volksstämme anderer Sprache so für sich gewinnen konnten, wie es etwa die Franzosen mit den Bretonen, den rasch eingegliederten Flamländern und den Elsässern oder die Engländer mit den Schotten, Buren und in Kanada mit den Franzosen vermochten. Diese Zweifler an deutscher Werbekraft vergessen, daß in der Vergangenheit auch die Deutschen mit den Wenden Erfolge erzielten, daß in alter Zeit sogar die Böhmen und unter Maria Theresia die Ungarn deutschfreundlich waren und daß Deutschland noch ganz andere Erfolge erzielt hätte, wenn es die kulturelle Werbekraft einer Hauptstadt besessen hätte, die seiner würdig gewesen wäre. Auch ist es falsch zu glauben, der europäische Staatenbund, der im Mittelalter unter deutscher Leitung stand und den wir in Zukunft noch größer und stärker brauchen, dürfe nur den eigensüchtigen Zielen der mächtigsten Sprachgemeinschaft und der Vergewaltigung der kleinsten Sprachgebiete dienen. Nicht die Germanisierung durfte Deutschland, als es noch mächtig war, wohl aber die führende Stellung im europäischen Völkerbund durfte es damals anstreben.
An Stelle der früher herrschenden Deutschen wurden die Angelsachsen Verwalter der Welt. Statt praktischer Staatsweisheit entwickelten die Deutschen nicht nur ihre dynastischen Partikularismen und ruhmreichen Lokalpatriotismen, sondern auch ihre eigene idealistische Philosophie, um sich über den Verlust ihrer Weltgeltung zu trösten und verständlich zu machen, daß es Dinge gibt, die wertvoller sind als Macht, Reichtum und die Führung im Rat der Völker. Soweit diese deutschen Werte nicht ausschließlich einer unsichtbaren, inneren oder überhaupt anderen Welt (also ganz der deutschen Metaphysik) angehören, müssen sie in der Würde und Gesundheit des deutschen Lebens und seiner sichtbaren Behausung, d. h. also besonders deutlich im Bau der deutschen Städte zum Ausdruck kommen. Vielleicht sogar im Bau der deutschen Hauptstadt.
Ist die Reichshauptstadt ein Ausdruck deutschen Geistes und ein Bild deutscher Bildung geworden? Diese Frage ist um so fesselnder und auch politisch bedeutungsvoller, als der letzte preußische Kaiser, Wilhelm II., am 3. Februar 1895 ungewöhnlich treffend erklären durfte: »Die Geschichte keiner Stadt der Welt läßt den Einfluß der Fürsten auf die Entwicklung und Förderung einer Stadt in so interessanter Weise erkennen wie die Berlins.« Ebenso treffend erklärte einer der gründlichsten Historiker Berlins, Eberhard Faden: »In ihrem äußeren Bild wie im Verfassungsleben ihrer Bürgerschaft ist die Residenz geradezu eine Selbstdarstellung dieses Staates und seines Herrscherhauses geworden.«
Ist Berlin, diese Selbstdarstellung des preußischen Staates, besser gelungen, ist es besser gebaut als andere Hauptstädte? Lohnten sich die unwiederbringlichen Opfer an deutschem Blut und deutschem Land, die Berlins Erhebung zur Hauptstadt dem »gesamtdeutschen Gemeinwesen« aufzwang? Oder gilt etwa noch von dem Staat, den Berlin so genau und so lange darstellte, das Wort, welches Ernst Moritz Arndt für den Staat Friedrichs des »Großen« prägte: »Der angestrengteste und despotischeste Soldatenstaat voll der unleidlichsten monarchischen Aristokratie hieß das Werk des Weisen und Guten und das glücklichste Land Europas. Fremd war der Sinn dieser Monarchie allem, was deutsch heißt, und ist es noch; daher die Abneigung, ja fast der Abscheu der kleinen Staaten Deutschlands, wann es heißt, der preußische Adler soll über ihren Toren seine mächtigen Fittiche ausspreiten«? Trifft auf Berlin etwa zu, was später einer seiner besten neueren Kenner, Theodor Fontane, von dem Staat sagte, dessen »Selbstdarstellung« die Hauptstadt geworden ist? 1878 ließ Fontane einen seiner Helden erklären: »Alles was hier in Blüte steht, ist Rubrik und Formelwesen, ist Zahl und Schablone, und dazu, jene häßliche Armut, die nicht Einfachheit, sondern nur Verschlagenheit und Kümmerlichkeit gebiert.« Vielleicht trifft dieses ungünstige Urteil gerade auf Berlin nicht zu, dessen unvergleichlicher Aufmarsch von fünfgeschossig prunkenden Hausfassaden doch manchen durchreisenden Fremden überredete, daß in der deutschen Hauptstadt wenigstens »jene häßliche Armut« nicht herrscht? Oder gilt, etwa sinnbildlich, gerade von diesen überraschenden Berliner Fassaden das andere Wort Fontanes: »Ich war noch ein Kind, da las ich auf der Schule von den alten Fritzeschen Grenadieren, daß sie Westen getragen hätten, die gar keine Westen waren, sondern nur rote dreieckige Tuchstücke, die gleich an den Uniformrock angenäht waren. Und, wahr oder nicht, diese dreieckigen Tuchlappen, ich sehe sie hier in allem, in Kleinem und Großem. Angenähtes Wesen, Schein und List, und dabei die tiefeingewurzelte Vorstellung, etwas Besonderes zu sein. Und worauf hin? Weil sie jene Rauf- und Raublust haben, die immer bei der Armut ist … Aber immer mit Tedeum, um Gott oder Glaubens oder höchster Güter willen. Denn an Fahneninschriften hat es diesem Land nie gefehlt.« In der Tat sind auch die Berliner Mietskasernen mit ihren übervölkerten Wohnungen an scheußlichen Hinterhöfen von preußischen Fachleuten als besondere Leistungen christlicher Moral gepriesen worden.
Wenn aber diese angeführten ungünstigen Urteile etwa wirklich auf Berlin zutreffen, kommen dort dann wenigstens geistige Kräfte zur Macht, die hoffen lassen, daß diese Schwächen überwunden werden? Über die in Berlin tonangebende Oberschicht scheint etwas wie Einstimmigkeit im Urteil der Jahrhunderte zu walten. Als der Humanist Tritheim Berlin verließ (1505), erklärte er, »die Herren, die er am Hof gesehen habe, seien wohl gutherzig, aber äußerst roh, als wäre ihnen das bäurische Wesen angeboren. Trinken und Müßiggang sei ihre Beschäftigung«. Etwas schärfer sprach Lessing in seinem Abschiedswort über den Berliner »Hofpöbel« (1767). Friedrich der Große« versuchte, in seinen Mémoires de Brandebourg die sprichwörtliche Beschränktheit des brandenburgisch-preußischen Adels zu entschuldigen: »Die jungen Adligen, die sich dem Waffenhandwerk widmeten, glaubten durch Studieren ihrer Würde etwas zu vergeben; und da der menschliche Geist immer zu Ausschweifungen neigt, betrachteten sie ihre Unwissenheit als ein Verdienst und Kenntnisse als eine verschrobene Pedanterie.« Und es sieht genau aus wie eine Schilderung der »Verschlagenheit«, der »häßlichen Armut« und preußischen »Raub- und Raublust«, von der Theodor Fontane sprach, wenn Friedrich der »Große« fortfährt: »Diese ganze militärische Regierung beeinflußte die Sitten und bestimmte sogar die Mode: das Publikum tat sich etwas darauf zugute, sich wie verschlagene Gauner ( aigrefin) zu gebärden; niemand hatte in preußischen Staaten mehr als drei Ellen Stoff auf dem Leib und einen weniger als zwei Ellen langen Säbel an der Seite.« Ernst Moritz Arndts Ansicht (aus dem Jahre 1805) über die in Berlin tonangebende »unleidlichste Aristokratie« wurde bereits erwähnt.
Als treuer Berliner scheint Fontane an seinem Lebensabend hoffnungsvoll geworden zu sein. 1890 schrieb der Achtundsechzigjährige in einem vertraulichen Brief: »Unserem von mir aufrichtig geliebten Adel gegenüber habe ich einsehen müssen, daß uns alle Freiheit und feinere Kultur, wenigstens hier in Berlin, vorwiegend durch die reiche Judenschaft vermittelt wird. Es ist eine Tatsache, der man sich schließlich unterwerfen muß.« Waren diese also doch vorhandenen, wenn auch nicht urpreußischen Kulturbringer stark genug, Berlin zu einer Hauptstadt zu machen, die Deutschlands würdig ist? Oder sind, heute wenigstens, neue Kräfte am Werk, die zur Überwindung unseres »unnatürlichen Gebrechens« führen und uns Deutschen endlich das geben werden, was Goethe vermißte, als er bald nach seiner Rückkehr aus Berlin klagte: »Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung«? Spricht nicht gerade aus Fontane selbst und aus dem Kreis seiner Berliner Freunde und geistigen Vorfahren etwas von jener liebenswürdigen deutschen Kleinstadtromantik, die nach der Befreiungsschlacht von Jena auch in Berlin vorübergehend blühen und uns zwar keine geistige Heimat, aber doch etwas wie ein befreundetes Heim schaffen konnte? Ist dieser liebenswürdige Berliner Geist lebensfähig und großstadtfähig?
»Gesellschaftliche Lebensbildung« findet unvermeidlich ihren genauen Ausdruck in den Räumen, in denen sie sich bewegt, mögen sie Akropolis oder Forum heißen – oder St.-Stephans-Dom und »quetschende Enge« der mittelalterlichen Stadt – oder Place Royale, Champs Elysées und Revolutionsherde der Pariser Altstadt – oder Londoner City und Square, »Mein Heim ist meine Burg« und die Gartenstadt des Engländers – oder Menagerie am Denkmal Wilhelms I., Siegesallee und Dom Wilhelms II., Kurfürstendamm und Berliner Mietskaserne mit Hinterhöfen und achtundsiebzigköpfiger Durchschnittsbevölkerung. Jede Stadt ist der steinerne, aber genaue und untrügliche Ausdruck der geistigen Kräfte, die im Laufe der Jahrhunderte ihren Bau, Stein auf Stein, zusammenfügten. Eine Schlange, der die Haut zu eng wird, wirft sie ab und schafft sich eine neue geräumigere. Aber ihr neues Kleid sieht dem alten zum Verwechseln ähnlich. Manche Larve dagegen, die in ihrem Kokon wie in einem selbstgebauten Sarg fast erstickt, vermag ihn zu zerbrechen und neugestaltet zu farbigem Leben emporzusteigen.
Berlin erstickt in dem steinernen Sarg, in den es gezwängt wurde und den es selber bauen half. Die folgenden Bilder und Druckseiten schildern diesen Sarg sowie die Kräfte, die ihn bauten und die ihn hoffentlich zerbrechen, aber sie schildern auch die Übermacht des bürokratischen Schlendrians und die fast zwangsweise Gleichgültigkeit der in Mietskasernen und Paragraphen erstickenden Opfer dieser Bürokratie, die Berlins Neugestaltung zu verhindern droht, nachdem sie die Kraft zur Neugestaltung vielleicht schon vernichtet hat.