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Was geht für ein Weltgeschrei,
Wer sagt was von Frieden machen?
Welches alte Weibermaul
Plappert solche Narrensachen?
Landsknechtslied aus dem Dreißigjährigen Krieg
Noch schwieriger als der Bau der neuen Berliner Festungswerke war die Schaffung der Quartiere für die militärische Besatzung dieser neuen großen Festung, die ja nicht der Selbstverteidigung einer wehrhaften Bürgerschaft, sondern den kriegerischen Plänen eines preußischen Condottiere in französischem Sold und seiner schnell wachsenden Soldateska dienen sollte. Der Bau besonderer Soldatenkasernen, nach französischem Vorbild, begann in Berlin erst nach dem Siebenjährigen Krieg und nach den ungeheuren Truppenvermehrungen Friedrichs des »Großen« Mode zu werden. Bis dahin – und noch lange nachher – bedeuteten Soldateneinquartierung für Bürgerhäuser und bei rasch wachsender Belegung einfach Verwandlung der Bürgerhäuser in kleine Kasernen und Verwandlung der gesamten Stadt in eine große Kaserne. Im preußischen Heer sammelte der »Große« Kurfürst die Hefe des Dreißigjährigen Krieges und bereitete daraus seinen Sauerteig für jedes Bürgerhaus und für die eigenartig preußische Förderung der bürgerlichen Kultur. Der Bürgerschaft war zwar schon durch die früheren hohenzollerischen Herrscher die politische Verantwortung genommen worden, aber sie hatte sich doch genug Urteil und Blick in die Zukunft bewahrt, um sogar nach den schwedischen Brandschatzungen des Dreißigjährigen Krieges immer noch die Einquartierung von Truppen des eigenen Landesherrn für schlimmer zu halten, als drohende und manchmal Wirklichkeit werdende feindliche Überfälle. Gelegentlich der feindlichen Einquartierungen war es den Vornehmsten schlechter gegangen als den Handwerkern. Die neue Dauereinquartierung des »Großen« Kurfürsten dagegen schonte die bestausgestatteten Häuser der Leistungsfähigen, statt sie mit erhöhten Leistungen zu belegen. Diese Einquartierung wurde deshalb besonders schwer tragbar, weil die Häuserzahl seit dem allgemeinen Friedensschluß dank der unermüdlichen Kriege des Kurfürsten noch weiter gesunken war und weil von den 814 Häusern, welche es im Jahre 1657 in Berlin (ohne Cölln) noch gab, noch immer 156 »wüst« lagen und weitere 150 von bevorzugten und deshalb einquartierungsfreien Nutznießern der Hohenzollern-Herrschaft bewohnt wurden. Die Last der Einquartierung fiel also auf 508 Häuser, deren Bewohner die ihnen aufgezwungenen Soldaten des eigenen Landesherrn ohne Entschädigung aufnehmen mußten. Zuerst wurde ihnen eine Besatzung von etwa 2000 Mann nebst 600 Weibern und Kindern auferlegt. Das entsprach etwa einem Drittel der damals vorhandenen bürgerlichen Bevölkerung und einer Belegung jedes betroffenen Hauses mit fast drei Militärpersonen. Aber das war nur ein Anfang. Die Besatzung sollte bald sehr viel stärker werden. Denn nicht nur wollte sich der Kurfürst stark machen, um wachsende Handgelder von Frankreich verdienen zu können, sondern obendrein mußte er bei der Unterbringung des wachsenden Heeres die Mark Brandenburg, d. h. namentlich Berlin, viel stärker mit Einquartierung belegen als die ostpreußischen und gar rheinischen Länder, die, noch weniger geknechtet, rücksichtsvollere Behandlung erforderten. Der »Große« Kurfürst war also gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf die Baupolitik Berlins zu lenken, das auch als vielverheißende Hauptquelle der neuen Verbrauchssteuern ausbauwürdig war.
So führte die Ironie der preußischen Geschichte zu einer kraftvollen Erneuerung des Berliner Städtebaues durch denselben »Großen« Kurfürsten, der getreu seinem größeren Vorbild, dem despotischen Ludwig XIV., bald die adligen Stände unterdrückte (die in England die bürgerliche Kultur zum Sieg führten), der aber, sehr im Gegensatz zu Ludwig XIV., sich nicht auf einen starken, hochgebildeten Bürgerstand, sondern zum Schaden der städtischen Kultur vor allem auf einen noch ganz rohen Militarismus stützte. Wie hoffnungslos aber die preußische Entwicklung der städtischen Kultur ohne Rückhalt in Selbstverwaltung und Bürgertum auch sein mußte, so bewunderungs- und zum Teil nachahmungswürdig bleibt doch die städtebauliche Leistung des »Großen« Kurfürsten, der zur Förderung seiner erfolglosen militärischen Politik plötzlich, und nach einigen Irrungen erfolgreich, die Siedlungspolitik aus der besten mittelalterlichen Zeit freien Städtewesens erneuerte, soweit dies unter seiner despotischen Herrschaft überhaupt möglich war.
Obgleich bei Beginn der großen Befestigungsarbeiten fast ein Fünftel der Berliner Häuser »wüst« lag, weil niemand die darauf lastenden Steuerrückstände übernehmen konnte, verband der »Große« Kurfürst seine Schanzarbeiten mit einer kühnen Stadterweiterung, die an das alte Cölln im Westen Werder und im Süden Neu-Cölln angliederte. (»Neu-Cölln am Wasser«, der Streifen am Südufer des linken Spreearms, ist nicht zu verwechseln mit dem späteren Rixdorf, das sich heute Neukölln nennt.) Werder wurde Friedrichswerder genannt und aus kleinlichen Absichten (um die Steuerrechte der Altstadt und die Rechte der Alt-Berliner Zünfte zu umgehen) zur selbständigen Stadt gemacht. Als sich die Verwaltung durch kurfürstliche Beamte als untauglich erwiesen hatte, wurde der holländische Architekt Memhard auf Lebenszeit zum Bürgermeister ernannt, ein Amt, das in neuerer Zeit viel zu selten mit tüchtigen, im Ausland gebildeten Baumeistern besetzt wird. Unter diesem baumeisterlichen Bürgermeister Memhard, demselben, der den ältesten Plan Berlins (Seite 22) gezeichnet hat, erblühte Friedrichswerder auf beinahe bodenreformerischer Grundlage. Straßen wurden abgesteckt, Baustellen vermessen und an Baulustige in Erbpacht gegeben. Der niedrige jährliche Grundzins von drei Silbergroschen war die einzige direkte Abgabe der Ansiedler. Ihre Steuerkraft wurde aber den neuen Verbrauchssteuern (Akzise) dienstbar gemacht. 1675 erneuerte der Kurfürst einen Brauch aus der besten Zeit mittelalterlicher Siedlungstätigkeit: er befahl die Versteigerung aller noch unbenutzten Baustellen. Gegen Ende des vierzigsten Jahres der kurfürstlichen Regierung war das neue Städtchen Friedrichswerder bebaut. Ähnlich wurden später in Neu-Cölln die Baustellen »um ein billiges« an die Baulustigen ausgeteilt. Als wirksames Mittel gegen die Unlust der Bodenkäufer und gegen die Bodenspekulation wurde jedem, der mit dem Bauen zögerte, die Baustelle nach vier Wochen wieder abgenommen.
Wenn die neuen Festungsgräben auch nicht für die Verteidigung benötigt waren, so hatten sie doch den Wasserstand und die Breite der Spree verringert, das sumpfige Gelände entwässert und auf allerdings kostspielige Weise brauchbaren Baugrund geschaffen. Ein großer Teil des vor und hinter den Wällen liegenden Geländes kam teils durch Kauf, teils durch einfache Beschlagnahme in kurfürstlichen Besitz und konnte so ohne weiteres zur Förderung des Ausbaues der Stadt benutzt werden. Wo der Kurfürst eine Entschädigung der früheren Besitzer für angebracht hielt, wurde sie in kürzestem Verfahren nach der Höhe des obrigkeitlich geschätzten Ackerwertes bemessen, so daß es sich eigentlich um Zwangsverkauf handelte. Mit Recht wurde die Baupolitik als der wichtigste Zweck des Geländes allen anderen übergeordnet und seine Erfüllung geschützt vor Hemmungen durch veraltete oder weniger wichtige landwirtschaftliche Zwecke. So begann – für beinahe hundert Jahre – die kurfürstliche Anmaßung städtebaulicher Rechte und die Unterdrückung von Gemeinsinn und bürgerlicher Selbsthilfe zum vorübergehenden Segen für die Hauptstadt zu werden.
Des »Großen« Kurfürsten Baupolitik wurde noch ergänzt durch Gewährung von Bauholz, durch langjährige oder immerwährende Befreiung von allen Lasten (Kontributionen, Schoß Alter Name für Steuern vom Besitz., Einquartierung usw.), durch all das, was in der Sprache des »Großen« Kurfürsten »empfindliche Ergötzlichkeit« hieß. Ebenso wie in den neuen Stadterweiterungsgebieten wurde im Innern der Stadt mit dem verlassenen Grundbesitz vorgegangen; »die wüsten Stellen« wurden »frei, umsonst und ohne einiges Entgelt« an Baulustige vergeben. Ebenso wurde in der Altstadt seit den achtziger Jahren das Gelände an der mittelalterlichen Stadtmauer in Berlin und Cölln vom Kurfürsten als Bauland an Baulustige verschenkt, wobei die Stadtmauer nicht immer niedergerissen, sondern manchmal als Rückwand für die neuen Häuser benützt wurde. Solange der »Große« Kurfürst sein kriegerisches Spiel trieb, war der Verkauf der »wüsten« Stellen in Berlin nicht leicht. »Wir haben schon manche wüste Stelle verkauft, aber es gehet wie einem alten zerrissenen Kleide, wo wenn man ein Loch zuflicket, vier neue wieder vorhanden sind«, so berichtete 1665 der Magistrat, 22 Jahre nach Abschluß des Dreißigjährigen Krieges für Berlin.
Die fünf Städte: Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt. Medaille aus dem Jahre 1700
Auch die neuen Siedlungsunternehmen des Kurfürsten warfen ihm nicht die erhofften Bargewinne ab, aber sie schafften doch allmählich Bevölkerung herbei, das heißt also Objekte für die kräftig anziehenden Verbrauchssteuern. Dieser Erfolg der Stadterweiterungen Friedrichswerder und Neu-Cölln, für die der Kurfürst innerhalb des Rahmens seiner Festungswerke Raum vorgesehen hatte, führte zum Bau der Dorotheenstadt, die außerhalb der Festung im Tiergarten angelegt wurde, wieder als kurfürstliche Privatstadt. Es war ein Vorspiel zur staatlichen Zersplitterung des städteschen Groß-Berlin im 19. Jahrhundert, daß bereits der »Große« Kurfürst vier Städte aus dem noch keine 20 000 Einwohner zählenden Berlin gemacht hat. Die neue Dorotheenstadt hatte in der Mitte ihrer rechteckigen Häuserblocks eine mit Bäumen bepflanzte Straße, heute »Unter den Linden« genannt, die gleichsam als Fortsetzung der älteren, von den Festungswerken verschluckten sechsfachen Baumreihe zum Tiergarten führte. Für die Dorotheenstadt (Seite 37) ließ die Kurfürstin Dorothea, welcher der Grund und Boden vom Kurfürsten geschenkt war, Grundstücke abmessen und an Baulustige gegen einen Grundzins von 1½ Silbergroschen für die Quadratrute, also um die Hälfte billiger als auf dem Friedrichswerder, austeilen. Dazu gab es wieder besondere, über die übliche zehnjährige Baufreiheit hinaus dauernde Befreiung von Einquartierung, Service, Wachdienst usw. und unentgeltliche Überweisung von Bauholz. »Schließlich wurde auch diese neue Dorotheenstadt dem schon vollendeten Befestigungswerk noch nachträglich angestückt, indem sie durch einen schwachen Wall und Graben gesichert wurde. Selbst diese geringfügige Befestigung hat heute noch die schwersten Verkehrshemmungen zur Folge; der größte Teil des Südnordverkehrs vom Halleschen nach dem Oranienburger Tor muß sich durch den Friedrichstraßen-Engpaß zwischen Behrenstraße und Unter den Linden zwängen, während die von Süden herkommenden Mauer-, Kanonier- und Markgrafenstraßen an der Behrenstraße blind endigen« (Gg. Engelberg Graf).
Durch die kurfürstliche Baupolitik wurden rings um die Stadt Oasen geschaffen, die frei waren von den Steuerlasten, Schanz- und Einquartierungspflichten und sonstigen kurfürstlichen Schikanen Alt-Berlins. Die Nutznießer des kurfürstlichen Wohlwollens waren hauptsächlich Ausländer, die herbeizulocken sich der »Große« Kurfürst sehr bemühte, wenn er dabei auch nicht so viel Erfolg hatte, wie ihm oft nachgerühmt wird oder wie er hätte haben können, wenn die Regierung seiner Länder seinen unfruchtbaren kriegerischen Launen weniger widerstandslos unterworfen gewesen wäre. Die Bevölkerungszahl Berlins vermehrte sich zwar in den 48 Jahren seiner Regierung von 7500 auf 18 000 oder vielleicht sogar 20 000; aber der Zuwachs bestand größtenteils aus der Soldateska und ihrem Anhang, die er zwangsweise in die Stadt legte. Die damit gebotenen Verdienstmöglichkeiten für Lieferanten, Handwerker und besonders viele Beamte lockten Einwanderer herbei. Sie kamen aus den eigenen Ländern des Kurfürsten, auch aus den kriegverfolgten Gebieten am Rhein und den Niederlanden. Dorthin hatte der »Große« Kurfürst verwandtschaftliche Beziehungen; aber er versäumte lange die einzigartige Gelegenheit, Hunderttausende von Einwanderern zu gewinnen, die ihm mehr genutzt hätten als alle Provinzen, um deren Eroberung er vergebliche Opfer brachte.
Zur Zeit des »Großen« Kurfürsten und bis zum Erstarken der stehenden Heere war es nämlich noch üblich, daß die Regierungen volkreicher Staaten, wie England, Frankreich, Spanien oder Österreich, den jeweiligen religiösen Eigenbrötler als politischen Rebellen mißhandelten oder gar vertrieben. Zu diesen Rebellen rechnete, wer den besonders in Deutschland geltenden Satz cuius regio, eius religio nicht ernst nahm, d. h. wer nicht nach der Fasson des Landesherrn selig werden wollte und sich deshalb gelegentlich auch in Verschwörungen gegen den Landesherrn verwickeln ließ. (Seit 1562 haben die französischen Hugenotten in zwölf »Hugenottenkriegen« oft mit ausländischer Unterstützung gegen ihren König gekämpft.) Volkarme Fürsten dagegen, welche Bevölkerung anlocken wollten, um Steuerzahler und Soldaten zu gewinnen, rühmten sich gern ihrer Duldsamkeit und gewährten Andersgläubigen Zuflucht, wie einst das junge Rom sogar Verbrechern Zuflucht gewährt hatte, um Bevölkerung anzusaugen. Noch die australische Stadt Sydney ist später als Verbrecherkolonie groß geworden. Vielleicht die großartigste Gelegenheit der Weltgeschichte, nicht Verbrecher, sondern viel begehrenswertere Einwanderer in großer Zahl anzulocken, gewährte die Verfolgung der Hugenotten. Während seiner zweiundsiebzigjährigen Regierung gelang es Ludwig XIV., nicht nur seinen widerstrebenden Adel zu rückhaltlosem Gehorsam zu zwingen, sondern auch – nach 1666 – trotz seiner Auswanderungsverbote fast eine Million widerspenstiger Hugenotten aus dem katholischen Frankreich zu jagen, zu dessen fleißigsten und gebildetsten Bürgern sie gehört hatten. Schon 1685 glaubte Ludwig XIV. die Hugenotten endlich los zu sein und verbot deshalb die weitere Ausübung des reformierten Bekenntnisses; aber noch etwa 350 000 Hugenotten verließen Frankreich nach dieser sogenannten »Widerrufung des Ediktes von Nantes«.
Brandenburg-Preußen konnte diese reformierten Flüchtlinge besonders gut brauchen, nicht nur wegen seines Mangels an Bevölkerung, sondern auch wegen des reformierten Glaubensbekenntnisses seines Kurfürsten. Biegsamer als die strengen, frommen Franzosen, hatte nämlich schon der Großvater des »Großen« Kurfürsten den Glauben gewechselt. Und zwar hatte er zum reformierten Glauben hinübergewechselt, »um sich die Holländer geneigt zu machen« (so sagte Friedrich der »Große«); es handelte sich um die Gewinnung der Herrschaft im reformierten Cleve (1613). Daraufhin war er von seinem damals noch nicht militärfromm gemachten brandenburgischen Adel zu dem Versprechen genötigt worden, die streng lutherische Mark Brandenburg nicht zum reformierten Glauben zu zwingen. Trotzdem hatte die reformierte Unduldsamkeit des kurfürstlichen Proselyten lutherische Geistliche aus Berlin vertrieben und dort Straßenkämpfe entfacht. Die reformierten Pastoren des Kurfürsten hatten den lutherischen Berlinern die üblichen reformierten Vorwürfe gemacht: die Jünger Luthers wollten beim Abendmahl den Leib Christi mit Zähnen zerbeißen und verlangten, daß Christus auch in Teufeln und Läusen wohne. In dem Streit über diese und ähnlich fromme Fragen hatte Berlin endlich seine erste literarische Blüte erlebt. Von 1614 bis 1617 waren 200 religiöse Kampfschriften erschienen. Als der reformierte Hofprediger ein frommes Gemälde in einer lutherischen Kirche »Hurenbild« genannt und als die Anhänger des neu reformierten Kurfürsten einen Bildersturm auf den Dom veranstaltet hatten, waren die Häuser der reformierten Pastoren gestürmt worden (1615), und der Bruder des Kurfürsten hatte sich, als »kalvinistischer Hurensohn« gehöhnt, vor den Steinwürfen der lutherischen Untertanen ins Schloß retten müssen. Während der jahrelangen, von der »steif lutherischen« Mutter des Kurfürsten begünstigten Unruhen war ihr der Enkel geboren worden (1620), der nach 1640 als reformierter und »Großer« Kurfürst herrschen sollte.
Dem »Großen« Kurfürsten hätte also das Herbeiholen möglichst vieler reformierter Flüchtlinge aus Frankreich keinerlei Zwang zu religiöser Duldsamkeit auferlegt, sondern außer großen wirtschaftlichen Vorteilen auch Rückhalt an Glaubensgenossen in seinem andersgläubigen Stammland verschafft. Aber er vernachlässigte die seit 1666 gebotene Gelegenheit. Solange er im engsten Bündnis mit Ludwig XIV., dem Verfolger dieser Flüchtlinge, stand, kamen ihrer nur wenige nach Berlin. Die meisten zogen kultiviertere und friedlichere Länder, z. B. die Schweiz, Holland und England, der halbbarbarischen Mark Brandenburg vor. Erst nach fast fünfundvierzigjährigem vergeblichem Dienst um die französische Gunst merkte der Kurfürst, daß ihn Ludwig XIV. zum besten hielt und ihm nie die oft erbetene Erlaubnis zur Eroberung des schwedischen Pommern geben würde. So kehrte der »Große« Kurfürst in den Schutz des deutschen Kaisers zurück und wagte, gleichsam als Rache an seinem Meister Ludwig XIV., eine Gegenkundgebung gegen dessen »Widerruf des Ediktes von Nantes«, im Potsdamer Edikt vom 8. November 1685 bot er den französischen Flüchtlingen viele Vorteile an, deren sich kein nichtadliger Brandenburger je erfreuen durfte. Daraufhin kamen von den vielen Hunderttausenden von Hugenotten, die Frankreich verlor, schließlich noch etwa 20 000 in die verschiedenen preußischen Länder. Auch von diesen 20 000 kamen viele erst unter der Friedensregierung Friedrichs I.
Größere Verdienste als um die Einwanderung seiner französischen Glaubensgenossen erwarb sich der damals wirklich einmal tolerante »Große« Kurfürst um das Herbeilocken von Andersgläubigen: den Juden gewährte er schon im Jahre 1671 wieder freundliche Aufnahme in Berlin, nachdem sein unduldsamer Vorgänger Joachim I. sie vertrieben und ihrer 38 auf dem Neuen Markt verbrannt hatte, worauf der duldsamere Joachim II. sie wieder zurückgeholt und zu seinen Vertrauten gemacht und dessen Nachfolger sie aufs neue geplündert und unter furchtbaren Grausamkeiten vertrieben hat. Die Berliner Judenpolitik der Hohenzollern war weniger einheitlich als einträglich. Der Mut der vom »Großen« Kurfürsten herbeigelockten Juden, die trotz der wieder von dem in ihrer Abwesenheit verarmten Berlin Besitz zu ergreifen bereit waren, muß um so mehr bewundert werden, als des Kurfürsten Leistungen bei der Verwaltung seiner Länder schon damals von Berufenen viel weniger günstig beurteilt wurden, als die Hohenzollernverehrer von heute gern glauben machen möchten. Als der »Große« Kurfürst drei Jahre nach seinem verspäteten Erlaß zugunsten der Hugenotten starb, ließ sich sein besorgter Nachfolger, Kurfürst Friedrich III., von einem eingeweihten Diener der Krone eine Liste der »Schäden und allerhand Unordnung« aufstellen, unter denen die Regierung des »Großen« Kurfürsten besonders gelitten hat. Unter den 24 »Schäden« dieser von Droysen veröffentlichten Liste finden sich auch folgende, die besonders für das Schicksal Berlins verhängnisvoll gewesen sind:
»1. Dass bishero Schulen, Kirchen und Universitäten schlecht versorget, Stipendia und piae causae übel administriret, Auch in ein und Andern mancherley schädliche Neuerung eingeführet worden.
»2. Dass die Weitläufftigkeit und Nachlässigkeit in der Justiz zu vieler Boßheit Anlaß geben, und die Untertanen hierdurch mehr als durch Steuer und Gaben gravirt werden.
»3. Dass die Hauss Nahrung überall gefallen, und Theils die grosse Ungültigkeit, Theils die grosse Steigerung selbige beschwehrt.
»4. Dass die Bergwercke im Lande sehr verhindert und denenselben nicht ergüblich geholffen worden.
»5. Dass die Handlung und Commercia gänzlich verabsäumet, und andern in die Hände gespielet worden.
»6. Dass die Hoffhaltung mit großer Confusion undt mit Anweisung und Lieferung geführet und daher viel unnöthige Ausgaben veruhrsachet worden …
»9. Dass die Churf. Schulden mehr gewachsen als abgenommen …
»12. Dass die Strassen und Wege, Brücken und Stege, die Wirths Häuser und Gasthöfe und alles was zur Passage und Gleite gehörig unverbessert geblieben …
»16. Durch unterlassene Revisiones die Mängel in Städten und Ämbtern fast sehr eingerissen,
»17. Durch die grosse Libertät, so denen Räthen in Städten gelassen worden, die meiste Uhrsache des ruins gekommen,
»18. Die Sämbtlichen Collegia in Confusion und Collision gestanden unter einander, auch der Numerus derer Assossorum erhöhet gewesen,
»19. Die grosse Ungleichheit des Gewichts, Maaß, Ellen, Meilen, und Fus, viel Nachtheil und Betrug verursachet …« usw.
Die Beseitigung dieser vielen Übelstände hätte unschätzbaren Segen für Berlins Handel, Gewerbe und allgemeine Entwicklung gebracht. Aber für solche friedliche Arbeit hatte der »Große« Kurfürst in den 48 Jahren seiner Regierung zuwenig Zeit gehabt, weil er mit zu großem Eifer und viel zu kleinen Machtmitteln die Politik des unermüdlichen Krieges und diplomatischen Verrates nachahmen zu müssen glaubte, mit der selbst sein unendlich viel mächtigerer Geldgeber Ludwig XIV. gescheitert ist. Mit dem Durcheinander und den Anmaßungen, die der »Große« Kurfürst hinterließ, mußte sich sein einsichtigerer Nachfolger abfinden; aber es gelang ihm, den vom Vater entfachten Ehrgeiz mit friedlichen Mitteln zu stillen und Berlin ohne Landesverrat und ohne Blutvergießen zur »Residenzstadt« eines »Königs« zu machen.