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»Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen.«
Evangelium Matthäi, 6, 6
Im Jahre 1871, als Berlin noch fast klein und ganz preußisch genannt werden durfte, waren seine Wohnungsverhältnisse womöglich schon schlechter und wurden noch viel bürokratisch verantwortungsloser vernachlässigt als heute in der deutschen Reichshauptstadt, die mit ihren vier Millionen Einwohnern das preußische Erbe antreten mußte. Im Jahre 1871 hatte Berlin zwar noch in allen Straßen sein mittelalterliches Kopfsteinpflaster mit den halbmetertiefen stinkenden Rinnsteinen, deren Sumpfwässer und Rattennester im In- und Ausland berühmt geworden sind. Aber schon lange vorher hatte man in Berlin die gute germanische Regel vergessen, die einst im mittelalterlichen Berlin genau wie im neuzeitlichen London ein eigenes Haus für jede Familie selbstverständlich machte. »Eigen Rauch und Schmauch« hatte es das alte Berliner Recht genannt. Schon 1871 wohnten in Berlin laut amtlicher Wohnungsstatistik 162 000 Menschen, d. h. ein Fünftel der damaligen Bevölkerung, in sogenannten »übervölkerten« Kleinwohnungen. Diese Kleinwohnungen lagen jedoch nicht etwa in kleinen Häusern, sondern waren schon damals streng nach den verwickelten Regeln preußischer Staatsämter und Kontrollbehörden um vorschriftsmäßig sonnenarme, kleine Höfe amtlich geförderter riesiger Mietskasernen zusammengedrängt. Diese von preußischer Staatsweisheit geschaffenen Kleinwohnungen bestanden meistens aus einem Zimmer mit Küche und waren im amtlich berechneten Durchschnitt mit je 7,2 Menschen besetzt. Heinrich von Treitschke, der heute zu den Würdeträgern preußischer Staatsweisheit zählt, aber damals noch als politischer Kopf galt, wurde auf diese zum Himmel schreienden Übelstände hingewiesen. Mit einem Blick zum Himmel antwortete darauf Herr von Treitschke in seiner Schrift »Der Sozialismus und seine Gönner« (1874): »Jeder Mensch ist zuerst selbst verantwortlich für sein Tun; so elend ist keiner, daß er im engen Kämmerlein die Stimme seines Gottes nicht vernehmen könnte.«
Diesem faulen Opportunismus oder anarchischen Individualismus Heinrich von Treitschkes entgegnete Gustav Schmoller, der damals noch nicht geheimrätliche Exzellenz war: »Sittlich und geistig verwahrlosten Proletariermassen von den Gütern des inneren Lebens vorzureden, ist ebenso müßig, als einem Blinden die erhabene Schönheit des Sternenhimmels zu erklären.«
Gustav von Schmoller wurde später zum Lobredner des heute viel angezweifelten preußischen Staatssozialismus und zum führenden Volkswirt der Wilhelminischen Zeit. Trotzdem vertrat er im Kampf gegen die staatspolitische Trägheit Heinrich von Treitschkes und seiner in Preußen allmächtigen Geistesverwandten die Wahrheit, daß die sozialen Mißstände der Großstädte durchaus nicht etwas Notwendiges, durch die Natur Gegebenes sind. In seinem »Offenen Sendschreiben an den Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke« empfahl Schmoller diesem Professor: »Also keine dummen empfindsamen Klagen über die Natur des Geldes, über die großen Städte, die Maschinen, den Fabrikbetrieb im großen; aber schroffe Verteidigung des Satzes, daß die Übelstände, die wir heute im Gefolge dieser Tatsachen erblicken, Folge einer unvollkommenen wirtschaftlichen Lebensordnung, nicht etwas an sich Notwendiges, durch die Natur Gegebenes sind.«
Das bau- und wohnungspolitische Elend Berlins und anderer deutscher Großstädte ist in der Tat überflüssig. Es hat nichts zu tun mit der »Stimme Gottes«. Aber es stimmt zu dem Gott Treitschkes und der von ihm bestimmten Verfassung unseres Stadtbauwesens. Zersplitterung der städtebaulichen Verantwortlichkeit, mangelhafte Vorbildung, Willensschwäche und Phantasielosigkeit der zur Führung Berufenen und allgemeine Verflüchtigung der Baugesinnung und des Gemeinsinns wurden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und sind deshalb zum Teil auch heute noch die Kennzeichen der städtebaulichen Verfassung Berlins.
Auch in anderen Ländern sind beim Bau der Städte schwere Fehler gemacht worden. In Paris z. B. hat bis vor kurzem der Zwang der Festungswerke, in den amerikanischen Großstädten der überwältigende Anstrom von Einwanderern aus jedem christlichen und jüdischen Getto der Alten Welt die Beschaffung von gesunden Wohnungen und Park- und Spielflächen gehemmt und die Entschuldigung unerträglicher Mißstände geliefert. Städtebauliche Mißstände finden sich überall, sei es als Ausnahme oder als Regel. Die Gründe dieser Mißstände und die Art ihrer Verteilung sind verschiedenartig von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Wo in deutschen Städten fremde Einwanderung, Festungsenge und ähnlicher äußerer Zwang zum Schlechten fehlte, ist er durch innere Zwangsvorstellung ersetzt worden. Seit der Jugend Friedrichs des »Großen« war das Wachstum Berlins durch keine Festungswerke mehr beschränkt. Aber die geistige Beschränkung seiner Herrscher und die diensteifrige Bürokratie, mit der diese Herrscher das Wirken von Selbsthilfe und Bürgergeist verdrängten, wurden schädlicher, als physische Beschränkungen je werden konnten. Genau wie in entscheidender Zeit die Ausdehnung und die politische Erstarkung des deutschen Gesamtvaterlandes scheiterten an den Bruderzwisten eigensüchtiger Dynastien und der von ihnen gezüchteten Beamtenschaften und Lokalpatriotismen, so scheiterten städtebaulicher Aufstieg, Ausdehnung und gesunde Gestaltung der deutschen Hauptstadt an den Kirchturminteressen widerstrebender Gemeinden und ihrer kurzsichtigen bürokratischen Verwaltungen. »Die städtischen Machthaber Berlins«, so wurden sie früh entschuldigt, »sind keineswegs unbeschränkt, sie sind sogar sehr beschränkt.« Geschaffen und geführt oder geschützt von einer gleichwertigen Bürokratie konnten Hunderte von überflüssigen gemeindlichen Behörden auch gegen die bestbegründeten Forderungen städtebaulicher Vernunft jene ewig siegreichen Schlachten liefern, in denen Götter selbst vergebens kämpfen.
Ähnlich der deutschen Außenpolitik erkrankte auch der deutsche Städtebau mit furchtbaren Folgen an den Leistungen jener neunmalweisen, vielgeschäftigen, aber in jedem höheren Sinne verantwortungslosen Bürokratie, deren Eigenschaften von vielen als »echt preußisch« bewundert werden, obgleich uns schon Bismarck prophezeite, daß »früher oder später der Punkt erreicht werden muß, wo wir von der Last der subalternen Bürokratie erdrückt werden«. Mit einem Seitenhieb auf das »Militär alter Schule aus friderizianischer Zeit« klagte Bismarck, daß das eingeborene preußische Blut unfruchtbar an höheren staatsmännischen Begabungen und unwillig zur Übernahme eigener Verantwortlichkeit war.
Diese preußische Unfruchtbarkeit hat im höchsten Maße unserem Städtebau, namentlich dem schwierigen Bau unserer Hauptstadt geschadet. Was Bismarck von den Diplomaten aus dem preußischen Adel feststellte, trifft auch die staatlichen und städtischen Verwaltungsbeamten Berlins, denen »es nicht leicht gelingen würde, den spezifisch preußischen Bürokraten mit dem Firnis des europäischen zu übertünchen«. Aber es gelang ihnen, eine deutsche Reichshauptstadt zu schaffen, die als die größte Mietskasernenhäufung der Welt vielleicht die erstaunlichste Schöpfung des deutschen Geistes genannt werden muß. Diese Leistung kann nur durch Vergleiche gewürdigt werden. In der größten Stadt der Welt, in London, wohnen durchschnittlich 8 Menschen in jedem Haus; in Philadelphia wohnen 5, in Chicago 9, in der Insel- und Wolkenkratzerstadt New York 20, in der eingeklemmten alten Festungsstadt Paris 38 Menschen in jedem Haus. Aber in Berlin, das sich wie London, Chicago oder Philadelphia ungehemmt im flachen Land entwickeln konnte, wohnen durchschnittlich 78 Menschen in jedem Haus, und die meisten dieser Kasernen sind gartenlos.
In dieser einzigartigen Stadtschöpfung des bürokratisierten deutschen Geistes entbrannte kurz vor dem Krieg ein Streit zwischen den statistischen Ämtern der Städte Schöneberg und Berlin darüber, ob 600 000 oder »nur« 567 270 Großberliner in Wohnungen wohnten, in denen jedes Zimmer mit mehr als vier Personen besetzt ist. Gleichzeitig fehlten für eine halbe Million Kinder die Spielplätze. Dabei wurde aber weder vom Staat noch von den Berliner Städten etwas Wirksames zur Bekämpfung der Wohnungs- und Spielplatznot unternommen.
Das Geschick Berlins und sein »Geheimratgeschlecht lebender Leichen« (wie es schon früh von einem konservativen Sozialpolitiker genannt wurde) sind zum Schicksal des Deutschen Reiches geworden, dessen Städte vielfach die schlechte Berliner Boden- und Bauordnung nachgeahmt haben und wo (1928) nach der Berechnung des Reichsarbeitsministeriums 450 000 Wohnungen fehlen, weiter 300 000 abbruchreife Wohnungen nicht abgebrochen werden können, sondern bewohnt werden müssen, und beinahe 500 000 Wohnungen übervölkert sind, während jährlich nur etwa 300 000 Wohnungen gebaut werden, wovon etwa 250 000 für neue Haushaltungen benötigt sind. Und gleichviel, ob die fehlenden Wohnungen gebaut werden oder nicht, die riesige Berliner Mietskaserne, welche uns Wille, Unwille oder Willenlosigkeit der preußischen Machthaber und ihrer Bürokratie hinterließen, wird auf fast unabsehbare Zeiten die Wohnform bleiben, der sich die Masse des deutschen Volkes und Geisteslebens unweigerlich unterwerfen muß und von der uns nur lange Kämpfe frei machen können.