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Die Baustellenbesitzer vermögen nicht bloß der ihnen wehrlos gegenüberstehenden städtischen Bauunternehmung, ohne die Hand zu rühren, das ganze Fett abzuschöpfen, sondern, durch sie, auch noch der gesamten Bevölkerung.
Julius Faucher, 1869
Das Mietskasernenideal des Berliner Polizeipräsidenten und seines Baurats Hobrecht, wie es im letzten Kapitel geschildert wurde, verhieß die gegenseitige friedliche Durchdringung aller Stände. Obgleich dieses Ideal Anfang der sechziger Jahre in Berlin bei einer gemischten Besetzung jedes Hauses mit durchschnittlich 48 Personen schon viel besser erreicht war als in Paris mit seiner 35köpfigen Belegung der Häuser, erlebte Berlin dieselben Mieterrevolten wie Paris und andere, sonst weniger revolutionär gestimmte Mietskasernenstädte Europas. Fast an jedem Quartalwechsel gab es in Berlin gefährliche Reibereien zwischen Hauswirten und Mietern. Diese geradezu aufrührerischen, aber ganz führer- und planlosen Ausbrüche des Massenzorns sind von Julius Faucher näher geschildert worden. Solche Volksbewegungen waren zuerst in Paris aufgelodert, ohne daß vorher die Presse die Gefahr auch nur angedeutet hätte. Die Milliarden bewegende Neugestaltung von Paris, die Napoleon III. und Haussmann durchführten, war großenteils die Folge dieser Unruhen. Die verwandten Störungen, welche die Wohnungsnot bald darauf in Wien zeitigte, führten dort zu der Bewegung für den Bau von Wohnhäusern auf dem ausgedehnten Umwallungsgelände der Altstadt und schließlich zu dem berühmten kaiserlichen Handschreiben von 1857, das in sehr großzügiger Weise die bauliche Neugestaltung des alten Wien einleitete. Ähnliche Mieterrevolten sind Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre in Hamburg, Breslau, Magdeburg und Stettin ausgebrochen und hätten der Aufmerksamkeit deutscher Beamten Anregungen zum Wetteifer mit der neuen städtebaulichen Tätigkeit in Paris und Wien oder, vielleicht sogar, zum Studium solcher Städte geben können, die wie London nach anderen Grundsätzen gebaut waren und nicht unter Mieterrevolten litten. In Berlin schlug beim Wohnungswechsel zu Ende des zweiten Vierteljahres von 1863 die Erbitterung besonders hohe Wogen. Es kam zu großen Volksaufläufen und sogar zu Barrikadenkämpfen, die anregender auf die öffentliche Meinung wirkten als die gelegentlich auftauchende Cholera. Kein Wunder, daß in der Berliner Literatur der nächsten Jahre die »Wohnungsnot« viel erörtert wurde.
Aber der bekannten unermüdlichen Arbeit der »großen« Hohenzollern war es gelungen, den zuverlässigen preußischen Beamtenstand heranzubilden, der fiskalische Notwendigkeiten würdigte, selbständiges Denken pflichtmäßig als unpassend begriff und verstand, warum seit 150 Jahren in Preußen kritisch veranlagte, selbst denkende oder allzu gewissenhafte Beamte (wie die Minister Jariges oder Fürst) an »höchster Stelle« beschimpft oder Knall und Fall entlassen oder (wie manche allzu gerechte Richter) gar geprügelt oder zu Gefängnis verurteilt wurden. Auch unter der schwächeren Regierung Friedrich Wilhelms III. und IV. hielten die Verfolgungen (unter denen z. B. Arndt zu leiden hatte) oder die drohende Versetzung in die Provinz (wie sie der beamtete Wohnungsreformer C. W. Hoffmann erfuhr) die Besonneneren im Zaum. Als Selbstschutz der Beamtenschaft und zur dauernden Stabilisierung ihres Gleichgewichtes wirkte schließlich ihre Gleichgültigkeit oder gar Gehässigkeit gegen hervorragende Leistungen außerhalb der Beamtenschaft. Das derart herangebildete preußische Beamtentum nahm begreiflichen Anstoß an der literarischen Tätigkeit Julius Fauchers (1820 bis 1878), der 1848 im Frankfurter Zollparlament gesessen und dann überflüssigerweise in Berlin die kritische und freihändlerische »Abendpost« herausgegeben hatte. Nach der Unterdrückung der »Abendpost« durch die preußische Regierung war Faucher nach England gegangen und hatte dort seinen Freund, den gleichaltrigen Theodor Fontane, getroffen, der als Berliner Außenseiter und eigentümlich geistvoller Mann ein Bewunderer Fauchers war und sich auch später in Berlin darauf versteifte, bei Faucher die überlegene Geistigkeit zu würdigen, die ihn im beamteten Berlin unmöglich machte. Trotz der offenkundigen amtlichen Ablehnung, die dem angeblich »Lügen fauchenden Faucher« in Berlin zuteil wurde, verdient dieser bedeutende Mann einen Ehrenplatz im Herzen jedes guten Berliners. Er war einer der »Sieben Hippelschen«, denen Theodor Fontane in seinem Buch »Von Zwanzig bis Dreißig« ein Denkmal gesetzt hat und die aus der Berliner Erinnerung nicht verschwinden dürfen; »denn«, so erklärte Fontane, »Berlin hat kaum jemals – natürlich den einen Großen abgerechnet, der um jene Zeit noch die Elbedeiche revidierte – interessantere Leute gesehen als diese ›Sieben‹. »Mit Ausnahme von Bismarck – von diesem dann freilich in einem guten Abstand – wüßte ich keinen Menschen zu nennen, der die Gabe geistreichen und unerschöpflichen Plauderns über jeden Gegenstand in einem so eminenten Grade gehabt hätte wie Faucher. Er schwatzte nie bloß drauflos, jeder Hieb saß.« Dasselbe gilt von Fauchers wohnungspolitischen Schriften; doch war der altpreußischen Beamtenschaft das sozialpolitische Geschwätz eines James Hobrecht willkommener als die treffenden Hiebe Fauchers.
Fontane schildert auch die monatelang fortgesetzten täglichen und nächtlichen Studienreisen, die Faucher zur Erforschung Londons unternommen hat und von denen man wissen muß, um Fauchers genaue Kenntnis der Londoner Wohnungsverhältnisse und die Bedeutung seiner Berliner Reformvorschläge zu würdigen. Nach Berlin zurückgekehrt trat Faucher als der bestgerüstete Kämpfer gegen die Mietskaserne und für das »Kleinhaus in der Gartenvorstadt« auf den Plan, als gerade sein Vorgänger V. A. Huber die Waffen streckte und angesichts der amtlichen Gleichgültigkeit und der gewaltig um sich greifenden privaten Bodenspekulation am Einfamilienhaus für den Arbeiter verzweifelte. Der bedeutende Professor Adolf Wagner hat später das eigentümliche Versagen seiner Amtsgenossen auf dem Gebiet der Wohnungsfrage folgendermaßen erklärt: »Damals liefen die Ansichten in der Theorie und in der Praxis vorwiegend darauf hinaus, nur nicht irgendwie dem Privateigentumsprinzip zunahe zu treten! Und daraus leitete man die Notwendigkeit und Rechtfertigung ab, mit dem Grundeigentum wie mit einem gewöhnlichen Gegenstand spekulieren zu können.« Die »überwiegende Rücksicht auf das Eigentum der Beteiligten«, welche der Erlaß der preußischen Regierung von 1855 empfohlen hatte, herrschte also auch bei den beamteten »Kathedersozialisten«.
Im Gegensatz zu dieser manchesterlichen Auffassung der nur halb sozialdenkenden Professoren bewies Faucher hohe geistige Unabhängigkeit und Einsicht, indem gerade er, der doch als Freihändler befehdet wurde, schon 1865 zwecks schneller und sicherer Bekämpfung der Wohnungsnot wirklich sozial die Enteignung alles Bodens empfahl, der für Wohnzwecke gebraucht wurde, aber der privaten Spekulation ausgeliefert war, und zwar infolge der besonders volksfeindlichen preußischen Gesetzgebung rücksichtsloser ausgeliefert war als irgendwo anders. Ohne daß Faucher also das Vorbild der älteren hohenzollerischen Städtebauer gekannt zu haben scheint, forderte er, ganz im Widerspruch zu den bei einem Freihändler vermuteten Dogmen, eine Behandlung des Grund und Bodens, die der von den preußischen Professoren später gerühmten Auffassung der Hohenzollern des 17. und 18. Jahrhunderts entsprach und dem Monopolcharakter des Bodens gerecht wurde. Sehr überzeugend sagte Faucher: »Wo es sich um Chaussee, Kanal oder Eisenbahn handelt, da schützt die deutsche Gesetzgebung den Bauunternehmer gegen das Monopol (der Bodenbesitzer) durch die Enteignung. Wo das Monopol sich weigert, die Schätze im Schoß der Erde für Menschenwohlfahrt auszunutzen, da hat die Gesetzgebung seit uralter Zeit in der Bergbaufreiheit die Abhilfe bereitzuhalten gewußt. Wer aber Dach und Fach für die Menge des Volkes zu schaffen hat, erfreut sich keines solchen gesetzgeberischen Schutzes, obgleich es sich doch bei ihm um weit brennendere Notwendigkeiten des menschlichen Daseins handelt.« Diese Forderung des Enteignungsrechtes für Wohnungsbauland hat bald darauf der Universitätsprofessor Adolf Wagner von Faucher übernommen und hat sie während seines langen arbeitsvollen Lebens verteidigt – vergeblich. Er wurde deswegen zu den »Staatssozialisten« gerechnet, die man, nach Wagners eigenen Worten, »neuerdings durch Vertreter einer milderen Tonart auf den Kathedern zu ersetzen strebt«. Wagners Tod macht bald darauf seinen Katheder frei. Schon vorher hatte sich Hugo Preuß, der ursprünglich ein besonders scharfer Kritiker der »Bodenbesitzreformer« gewesen war, der Forderung Fauchers und Wagners angeschlossen. Es ist ihm gelungen, den vielumstrittenen Satz in den Artikel 155 der neuen Reichsverfassung zu bringen: »Grundbesitz, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung oder zur Hebung der Landwirtschaft nötig ist, kann enteignet werden.« Faucher hat also recht behalten. Aber die Frage, zu welchen Bedingungen die Enteignung erfolgen darf, wird noch schwere Kämpfe auslösen.
Hier muß noch einmal den Steuerfragen eine Druckseite gewidmet werden.
Faucher empfahl, unsere Besteuerung des Bodens nach angelsächsischem Vorbild einzurichten. Er zeigte, wie bereits angedeutet, daß die aufgeblähten Berliner Bodenwerte zum Teil als Kapitalisierung einer dauernden Steuerhinterziehung zu verstehen sind, zu der das preußische Gesetz die Hausbesitzer einlud und die später Finanzminister Miquel nur teilweise unterbinden konnte (vgl. Seite 223 f.). Die Berliner Kommunalbesteuerung ließ die stets steigenden Höchstbeträge für Miete, die sich bei rasch wachsender Bevölkerung und zurückbleibendem Wohnungsangebot aus den Mietern herauspressen lassen, den Haus- und Grundbesitzern ungeschmälert zufließen. Die gewaltigen Aufwendungen, welche die Stadt Berlin machte, kamen als Wertsteigerungen den Grundbesitzern zugute, entweder unmittelbar durch verbesserte oder neue Straßen, Brücken, Parkanlagen oder mittelbar, z. B. in Verbesserungen des städtischen Bildungswesens, das neue Mieter in die Stadt oder das Stadtviertel zieht. Alle diese Aufwendungen mußten durch die Masse der Bevölkerung, d. h. in der Kasernenstadt Berlin also durch die Mieter aufgebracht werden, namentlich durch Einkommensteuer und durch die Berliner Schlacht- und Mahlsteuer. In einer derart besteuerten Stadt graben sich also die Mieter ihr eigenes Grab. Sie zahlen für alle kommunalen Errungenschaften doppelt. Einmal an die Gemeinde mit erhöhter Einkommensteuer und zum zweiten Male an den Grundbesitzer mit der Miete, deren gesteigerte Sätze jeden der Wohnung zufließenden Vorteil, wie Verbesserungen des Pflasters oder der Beleuchtung der Straßen, zum Ausdruck bringen. Durch seine Doppelzahlung ermöglichte der wehrlose Mieter erst die hohen Berliner Bodenwerte; diese stellen zu einem Teil die Kapitalisierung der Steuern dar, die infolge des »ungerechten und unbilligen« (Miquel) Steuersystems den Hausbesitzern gleichsam erlassen und von den Mietern doppelt gezahlt worden sind. Diese tragikomische Regel herrschte in Berlin bis zur Miquelschen Finanzreform in wirkungsvollster Weise; vor der Reform wurden in Berlin 82 v. H. des Gesamtsteuerbetrages aus der Einkommensteuer gewonnen. 1910 wurde noch immer die Hälfte der Berliner Gemeindesteuern aus Zuschlägen zur staatlichen Einkommensteuer aufgebracht und half also zum Aufbau der gefährlichen wohlerworbenen Rechte, die in der 75-Milliarden-Verschuldung des deutschen Haus- und Grundbesitzes ihren phantastischen Ausdruck fanden.
Während also die Berliner Besteuerung der Grundbesitzer diesen gleichsam eine dauernde Steuerhinterziehung gestattete, die kapitalisiert in hohen Bodenwerten und in einer Dauerbelastung der Mieter zum Ausdruck kommt, bewirken im Gegenteil die angelsächsischen Grundsteuern die Verbilligung des Bodens und seine leichte Bebaubarkeit mit kleinen Häusern. In Berlin wurde es fast unmöglich, Geld und Hypotheken für kleine Häuser zu beschaffen. In angelsächsischen Ländern findet sich die Hypothek sozusagen von selbst ein. Faucher sieht nämlich treffend in der Grundsteuer die Zinsen für eine unkündbare Hypothek, die dem Bauherrn eines kleinen Hauses wie gerufen kommt und deren Eigentümer die steuererhebende Gemeinde ist. Ist nicht der Boden in den weiten Kleinhausvierteln der amerikanischen Städte deshalb so billig, weil der Käufer eigentlich nur das Restkaufgeld zahlen muß und weil er den Boden gleichsam mit einer bequemen Hypothek übernimmt, deren Zinsen er in der Grundsteuer (nach dem gemeinen Wert) an die Gemeinde zahlt, wo sie ihm selbst wieder zugute kommen? Dieses amerikanische System ist beinahe so wirkungsvoll wie das kostenlose Überlassen des Baulandes an Baulustige, wie es die »großen« Hohenzollern zwischen 1650 und 1750 geübt hatten. Und wirkt nicht die besonders in England gebräuchliche Vergebung des Baulandes in Erbpacht ähnlich? Bei der Bodenbesteuerung nach dem gemeinen Wert, in Amerika, steigt die Größe der zu verzinsenden gemeindlichen Hypothek in leicht erträglicher und zuverlässig gerechter Weise mit jedem Steigen des Bodenwertes; bei der Erbpacht, in England, wird die mit dem Erbpachtzins zu verzinsende hypothekarische Belastung alle 99 Jahre neu festgelegt, d. h. gesteigert. Dagegen verteuerte die deutsche Kommunalbesteuerung ebenso wie das deutsche Hypothekenwesen den Boden. Wie richtig Faucher die deutschen Verhältnisse schon um 1860 beurteilt hat, beweist das immer neue Erstaunen, mit dem angelsächsische Fachleute die deutschen Zustände noch lange nachher betrachteten und das der Nationalökonom Professor Ely von der Staatsuniversität Wisconsin auf der Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik, Nürnberg 1911, in die Worte faßte: »Die notwendige Folge der deutschen Kommunalbesteuerung ist die Wohnungsnot.«
Faucher besaß nicht nur eine genaue Kenntnis großstädtischer, besonders Londoner, Berliner und Wiener Wohnungsverhältnisse, sondern sein eindringendes wirtschaftlich-soziales Verständnis begriff auch den Sinn der Mieterrevolten, die in den kasernierten Großstädten des europäischen Festlandes seit Ende der fünfziger Jahre immer wieder ausbrachen. Besonders aber vermochte Faucher aus den seit 1861 veröffentlichten Ergebnissen der Berliner Volkszählung die notwendigen städtebaulichen Schlüsse zu ziehen. Diese wissenschaftlich-unparteiische Arbeit des statistischen Amtes der Stadt Berlin war ein Verdienst des Stadtverordneten Sanitätsrat Dr. S. Neumann. Sie machte zum ersten Male das grauenvolle Ergebnis der preußischen Verwaltungstüchtigkeit zahlenmäßig greifbar. Der niederschmetternde Eindruck, den die amtlichen Zahlen bei allen denkenden Zeitgenossen hinterließen, ist in der Literatur der sechziger Jahre aufbewahrt. Der weitsichtige V. A. Huber, C. W. Hoffmann und ihre literarischen Mitstreiter waren nur Vorläufer gewesen; die eigentliche städtebauliche Literatur Berlins beginnt mit den Enthüllungen der ersten Berliner Volkszählung im Jahre 1861, um bald hochflutartig anzuschwellen. Hier sind einige der erschütternden Zahlen, die damals ans Licht kamen: 48 326 Menschen, also fast ein Zehntel der damals (1861) 521 933 Seelen zählenden Gesamtbevölkerung Berlins, wohnten bereits in Kellerwohnungen. (1925 lebten 70 743 Großberliner in Kellern.) Von den 105 811 Wohnungen Berlins hatten 51 909, also nahezu die Hälfte, nicht mehr als ein heizbares Zimmer; Die unheizbaren Nebenräume spielen in Berlin eine verhältnismäßig geringe Rolle. 224 406 Bewohner Berlins wohnten in solchen Einzimmerwohnungen, die also im Durchschnitt mit 4,3 Menschen belegt waren. »Ist das die normale Lebensform oder nicht? Und wenn sie es nicht ist, was haben wir bei einer Ausnahme zu denken, welche die Hälfte beträgt? Und wenn sie es ist, soll sie so bleiben?« So setzte Fauchers Kritik ein, und er fügte hinzu: »Betrachtet man auch noch fünf Personen auf ein heizbares Zimmer als die normale Lebensform unseres Landes, so gibt es noch immer unter den 521 933 Bewohnern der größten Stadt, die unser Land hervorgebracht hat, 115 357, welche selbst diese normale Lebensform nicht erreichen.« Weit über ein Fünftel der Bewohner Berlins teilte ein einziges heizbares Zimmer mit fünf oder mehr Personen. Es gab 27 629 Menschen in Berlin, die zu je sieben ein Zimmer bewohnten, es gab 18 376 Menschen, die zu je acht, es gab 10 728 Menschen, die zu je neun, und immer noch 5640 Personen, die zu je zehn, 2904 Personen, die jeweils zu elf das eine heizbare Zimmer bewohnten, und daran schlossen sich in abnehmenden Ziffern immer noch größere und immer noch wahnsinnigere Überfüllungen. Aber nicht diese zuletzt aufgeführten Ausnahmen verdienten besondere Aufmerksamkeit, nicht die paar tausend unseliger Geschöpfe, die zu je elf, je zwölf, je dreizehn bis zwanzig in ein Zimmer zusammengedrängt waren, nicht um das Anormale, Außergewöhnliche handelte es sich, sondern um den großen Durchschnitt, um die normale Lebensform, auf der die Würde und segensreiche Zukunft der Stadt aufgebaut sein sollte. Diese normale Lebensform Berlins war monströs. Und dann handelte es sich vor allem um die Aussichten auf Verbesserung dieser monströsen Lebensform der angehenden Reichshauptstadt.
Neben dem Schicksal der breiten Masse, der 224 406 in Einzimmer-, der 135 327 in Zweizimmerwohnungen Untergebrachten, verdiente dann auch die wohlhabende Oberschicht Aufmerksamkeit, die Oberschicht, deren Lebensgewohnheiten und Ansprüche in anderen Zeiten oder anderen Ländern, besonders in England, die Ansprüche und das soziale Emporstreben der vom Schicksal weniger begünstigten Schichten angefeuert hat. Aber auch da erlebte Berlin zur Zeit seines größten wirtschaftlichen Aufschwungs eine höchst bedenkliche relative Abnahme der vielzimmerigen Wohnungen und sogar eine absolute Abnahme in der Zahl der in Berlin angestellten Dienstboten, während sich gleichzeitig die zur Aftermiete wohnenden Haushaltungen vermehrten. Diese eigentümlichen Warnungszeichen waren bei dem allgemeinen Steigen des Wohlstandes und der Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung nur zu erklären durch eine schleichende Erkrankung der Wohnungsverhältnisse. Die Zeit, wo V. A. Huber und C. W. Hoffmann die hereinbrechende Wohnungsnot angekündigt hatten, war vorüber. Die Wohnungsnot war da, und sie hatte nicht nur die unteren Klassen, sondern die gesamte Gesellschaft ergriffen. Seit 1863 hat Faucher in seiner »Vierteljahrsschrift« und seiner »Bewegung für Wohnungsreform« sowie als Landtagsabgeordneter gegen diese Krankheit gekämpft. Als einer der ersten wies er darauf hin, welche Torheit es ist, die Wohnverhältnisse alter Festungen auf offene Städte zu übertragen. Die frühere Notwendigkeit, auf dem kleinen Gebiet innerhalb der Wälle wachsende Menschenmengen unterzubringen, sicherte dem Grund und Boden außerordentliche Ertragfähigkeit (Monopolrente) und erzeugte die Sitte des gedrängten Wohnens. Infolge dieser, in der Enge der befestigten Altstädte groß gezüchteten Wohnsitte stieg auch aller unbebauter Grund und Boden ungeheuer im Wert, soweit er durch ein erhofftes oder endlich erfolgtes Hinausschieben der Wälle oder durch ihre Auflassung bebaubar wurde. Er stieg im Wert, weil er eben infolge der Sitte des gedrängten Wohnens ganz anders ausgenutzt werden konnte, als mit Einfamilienhäusern möglich gewesen wäre. Das Eindringen der Mietskaserne war kein Zeichen zunehmenden großstädtischen Wesens, sondern die zwecklose Beibehaltung eines alten Übelstandes. In London fand Faucher fast so viele Häuser, wie es in Berlin Menschen gab. In London standen im Jahre 1861 450 000 Häuser bei einer Bevölkerung von dreieinhalb Millionen, was einer durchschnittlichen Besetzung jedes Hauses mit 7,7 Menschen entsprach, während in dem kleinen, aber »großstädtischen « Berlin schon im Jahre 1861 48 Personen auf jedes gebaute Grundstück kamen, eine Zahl, die sich in der Folgezeit um mehr als die Hälfte steigerte. Daß diese Tollheit Ereignis werden sollte, hielt Faucher noch für unmöglich. Er glaubte noch auf eine Unmöglichkeit hinzuweisen, als er in der Halbmillionenstadt Berlin schrieb: »Um den unglücklichen Stadtbauplan, den man vom König bestätigen ließ, so weit er jetzt (1865) reicht und im Süden stellenweise schon in Angriff genommen ist – denn die Fünfstöcker sind hier schon bis an diese Grenze vorgedrungen –, in dieser Weise auszufüllen, sind, nach sehr mäßiger Berechnung, vier Millionen Menschen erforderlich.«
Für dieses Berlin, das wie besessen die Pariser Wohnungsübelstände nachahmte und bereits übertraf, war es eine geniale Tat, deren Bedeutung allerdings mancher Wohnungspolitiker noch heute nicht würdigt, daß Faucher rief: Nicht die Treppen dürfen, sondern die Straßen müssen vermehrt werden, und zwar weit draußen, wo es noch keinen polizeilichen Bebauungsplan mit seinen preisaufblähenden Wirkungen gibt. London war schon zu Fauchers Zeit umgeben von einem 10 Kilometer breiten Gürtel von »Gartenvorstädten«. Ihr blühendes und im innersten Mark gesundes Leben, seine Vorbedingungen und Wirkungen, seine wirtschaftlichen und sozialen Einzelheiten hat Faucher auf das anschaulichste geschildert. Er schilderte die spielende Leichtigkeit, mit der sich der Neubau der kleinen billigen und leicht finanzierbaren Häuser auf billigem Boden vollzieht. Als Antwort auf den oft gehörten kindlichen Einwand, daß bei Einfamilienhäusern die Ausdehnung der Stadt Berlin (mit damals 600 000 Einwohnern!) zu groß und der Brief- und Warenverkehr für den Haushalt zu schwierig sei, zeigte Faucher, wie bequem sich der Verkehr der Londoner Flachsiedlungen entwickelte, und berechnete, daß bei Botengängen in Berlin die Überwindung der Treppen täglich 9000 Meilen für die Bevölkerung beträgt, die bei Einfamilienhäusern erspart würden.
Das Wohnungselend des Londoner East End, das durch die unermüdlichen Hinweise englischer Menschenfreunde berühmt geworden ist, hatte Faucher mit Theodor Fontane und in Begleitung eines englischen Polizeibeamten genau studiert. Er stellte fest, daß es schlimmstenfalls mit dem Elend der Berliner, die zu je 10 und 11, zu 12, zu je 15 bis 20 in Einzimmerwohnungen zusammengedrängt wohnen, verglichen werden darf. Im Gegensatz zu Berlin wohnte in London die große Masse, der Durchschnitt der Bevölkerung, menschenwürdig (die niedrige Durchschnittszahl von 7,7 Menschen in jedem Haus beweist es) und steigerte die Wohnungsansprüche beständig. Dagegen wurde in Berlin trotz seiner politischen und wirtschaftlichen Erfolge damals gerade die gesamte Bevölkerung der Mietskaserne ausgeliefert. Zweckmäßig und notwendig fand Faucher die in London übliche Zusammenfassung der Wohnungen wirtschaftlich Gleichstehender in Straßen und Stadtvierteln, die aus ungefähr gleichwertigen Haustypen zusammengesetzt sind. Die durch den Berliner Bebauungsplan und durch seine Verfasser und Verteidiger angestrebte Vermengung der verschiedenen Klassen – arme Leute in Keller-, Hof- und Dachwohnungen, »Herrschaften« in Vorderwohnungen – ist vielfach gescheitert, so daß auch in Berlin, wie in London, gewisse Stadtviertel ganz den Arbeitern ausgeliefert sind. Aber in Berlin wohnen sie meistens an sonnenlosen, hochumbauten Hinterhöfen; in London in durchsonnten Kleinhäusern mit eigenem Hof oder Gärtchen. Obendrein wies Faucher nach, daß gerade da, wo in Berlin die angestrebte Vermengung der Klassen gelungen war, die schädlichsten Folgen für das soziale Leben, die Dienstbotenfrage und die Kindererziehung bemerkbar wurden. Fauchers Anschauungen deckten sich hier mit denen anderer Sozialpolitiker jener Zeit, wie V. A. Huber, Ernst Bruch und »Arminius« (Gräfin Dohna).
Im Gegensatz zu der spielenden Leichtigkeit, mit der sich in London der Bau kleiner billiger Häuser auf billigem Boden vollzog, fand Faucher in Berlin unerhörte Beschwerungen des Wohnbauwesens durch die scheußliche Vielregiererei, den amtlichen Bebauungsplan und seine Frucht, das »Baustellenmonopol«. Seitdem V. A. Huber auf die »Depravation« des Berliner Baugewerbes durch die Bodenspekulanten hingewiesen hatte, war die Berliner Bauunternehmung immer mehr, wie Faucher es ausdrückte, »vom Baustellenmonopol eingezwängt, mit Sorgen beladen und mit Verlust bedrückt worden; der gebildete Unternehmungsgeist hatte sich immer mehr und mehr von ihr zurückgezogen, kleinen Emporkömmlingen, denen alle Mittel und Wege gleich sind, das Feld überlassend«. Die zur Regel gewordenen skandalösen Verhältnisse im Berliner Baugewerbe hat 1876 der »Eisenbahnkönig« Strousberg deutlich geschildert (vgl. das nächste Kapitel). Seit 1892 hat sie Rudolf Eberstadt, der wie Faucher und Strousberg aus englischer Schulung kam, durch immer eingehendere Veröffentlichungen aufgedeckt. Aber schon in den sechziger Jahren hatte Faucher die preußische Notlage klar erkannt: »Um der Höhe der Baustellenpreise zu begegnen, wußte die Bauunternehmung keinen anderen Ausweg, als Stockwerk auf Stockwerk zu türmen, die Hinterflügel zu verlängern und die Höfe zu verengen.« Die Berliner Bauunternehmer folgten also gewissenhaft der Aufforderung des preußischen Staates und seiner Bauordnung von 1853. »Aber«, so fährt Faucher fort, »mit dem Nutzwert der Baustellen gingen die Baustellenpreise in die Höhe, griffen von der Front zurück in die Tiefe, und die Bauunternehmung hatte von neuem das Nachsehen … So ist es zu den Häusern mit sechs bewohnten Stockwerken gekommen, welche rings um Berlin gruppenweise auf freiem Feld stehen …, während es im innersten Herzen der Stadt noch viele zwei- und einstöckige Häuser gibt … Mit dem Kreuzberg stehen die Dächer der letzten Mietskasernen an seinem Fuße schon fast gleich.« Diese Lähmung der Bauunternehmer durch das »Baustellenmonopol« ermöglichte den Vermietern der Berliner Wohnkasernen die Ausübung eines drakonischen »Wohnungsfeudalismus«. Er kam namentlich in der unerbittlichen Durchführung von Mietverträgen zum Ausdruck, deren kurze Fristen und sonstige Bedingungen höchst aufreizend wirkten. Über den Geist der Berliner Mietverträge schrieb 1873 der Geheime Ober-Regierungsrat, Direktor des Kgl. Preußischen Statistischen Büros, Dr. Ernst Engel Wenn man erstaunt über diese (hier schon durch verschiedene andere Zitate belegte) menschliche Einsicht eines preußischen Geheimrats in einem alten Brockhaus (Konversationslexikon von 1893) nachschlägt, dann erfährt man, daß Engel Sachse war, und man liest: »Wegen seines Festhaltens an den Grundsätzen der freiheitlichen wirtschaftlichen Entwicklung und seiner Bekämpfung des Staatssozialismus sowie aus Gesundheitsrücksichten nahm Engel 1882 seinen Abschied und lebt seitdem in Oberlößnitz-Radebeul bei Dresden.«: »Der trockene Inhalt eines Berliner Mietskontraktes kennzeichnet besser den in den Großstädten herrschenden Wohnungsfeudalismus, als es die farbenreichste Beschreibung zu tun vermöchte.«
Gegenüber dem »Wohnungsfeudalismus« kam Faucher zu der beinahe angelsächsischen Forderung einer gewissen Würde der Lebenshaltung: »Bei der Gefügigkeit der Bevölkerung, in solche Mietskasernen hineinzuziehen«, können Baustellenpreise und Mieten gefordert werden, die immer dichtere Überbauung und immer dichtere Belegung der Räume erzwingen. »Es hilft der Bevölkerung nichts, sich im Wohnungsbedürfnis einzuschränken durch Ersparnis an der Ausdehnung des Grund und Bodens, der für das Wohnungsgelaß beansprucht wird. Gibt die Bevölkerung bei gleichbleibender Zahlungsfähigkeit hierin nach, so fließt nichts in ihre Tasche; bei wachsender Bevölkerung wird nur bewirkt, daß der Baustellenpreis wächst und daß das neue Angebot von Wohnungsgelaß sich gleich auf die größere Einschränkung, d. h. auf höhere Mietpreise einrichtet. Dasselbe geschieht, wenn die Bevölkerung bei steigender Zahlungsfähigkeit ihre Ansprüche an Grund und Boden nicht steigert.« Ausschlaggebend ist also die Gefügigkeit der Bevölkerung, in ihren Wohnungsansprüchen nachzugeben, oder die Festigkeit, mit der sie ihre Ansprüche stellt und steigert, die Lebenshaltung, die sie unbedingt fordert. Berlins Bevölkerung, auch darauf wies schon Faucher hin, besteht zum großen Teil aus Eingewanderten – »Naturen, die das vogue la galère! auf ihr Banner schreiben«, nannte sie Treitschke –, die gefaßt sind, sich vorläufig mit jeder beliebigen Art von Quartier abzufinden. V. A. Hubers Hoffnungen, dieser mittel- und wurzellosen Bevölkerung zu anständigen Wohnungen in gesund gebauten Vororten verhelfen zu können, waren gescheitert. Fauchers Rechnung, daß wenigstens die Wohlhabenderen sich weigern würden, auf die Dauer in den barbarischen Berliner Mietskasernen zu wohnen, schien bis zu dem alles vergiftenden Milliardenschwindel der siebziger Jahre weniger falsch. Für die Wohlhabenden, die ein gutes Beispiel geben sollten, forderte Faucher große Baugesellschaften, die neue Wohnsiedlungen außerhalb des bereits mit Mietskasernenpreisen behafteten Geländes errichten sollen.
Theodor Fontane berichtete über seine letzte Unterredung mit Faucher im Sommer 1872. Damals wurde gerade die französische Kriegsentschädigung gezahlt, von der kurzsichtige Staatsmänner Segen für Deutschland erwarteten und die 1918 ein verhängnisvolles Vorbild für Versailles lieferte. Fontane berichtet: »Auf die fünf Milliarden war Faucher schlecht zu sprechen. ›Ja‹, sagte er, ›wenn ich sie hätte, das ginge, das könnte mich damit versöhnen. Aber Deutschland hat nichts davon. Für Deutschland sind sie nichts Gutes, sie ruinieren uns‹«. Faucher ist 1878 gestorben, nachdem der erste Teil seiner Prophezeiung in so trauriger Weise wahr geworden war, wie im nächsten Kapitel geschildert ist. – Die Verwirklichung des zweiten Teiles dieser Prophezeiung wird der Youngplan liefern, wenn Deutschland nicht den Geist der »Gründerjahre« und der Inflation endlich und wirklich überwindet.