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Freiherr vom und zum Stein, Vater der preußischen Städteordnung, am 1. Dezember 1812 an den Grafen Münster
Im Todesjahr Friedrichs II. berichtete Friedrich Nicolai in seiner »Beschreibung« Berlins, »daß fast die Hälfte der Häuser ansehnliche Seiten- und Hinterhäuser haben, welche in manchen Gegenden der Stadt beynahe stärker bewohnt sind, als die Vorderhäuser. Es gibt Häuser, in welchen an 16 Familien wohnen. Sehr wenige Städte werden in nicht völlig 6500 Häusern 145 000 Einwohner haben.« Nicolai war stolz darauf, daß Berlin die am dichtesten besetzten Häuser der Welt hatte. Nach seinen Zahlen haben damals von den 145 000 Bewohnern der offenen Stadt Berlin je 22,3 in einem Haus gewohnt. Nach Nicolais Zahlen wohnten gleichzeitig von den 600 000 Bewohnern der Festung Paris nur je 12 in einem Haus, von den 56 000 Bewohnern der Festung Straßburg einschließlich der Garnison je 14, von den 200 000 Amsterdamern und von den 100 000 Dublinern nur je 7,7. »Das einzige Wien übertrifft Berlin, da es nur 5376 Häuser, aber etwa 210 000 Einwohner hat.« Auch diesen traurigen Ruhm sollte die offene Stadt Berlin der geschlossenen Festung Wien bald streitig machen. Dafür sorgten die friderizianische Hypothekenordnung, die Verkümmerung der Selbstverwaltung und das Fiasko des Steinschen Versuches, ihr 1808 durch eine bessere Städteordnung zu helfen.
Die preußischen »Reformer« vermochten zwar dem gemeinen Mann die »Freiheit des Rückens« zu erkämpfen: es wurde seit 1807 im preußischen Heer weniger barbarisch geprügelt als unter Friedrich II. Sie konnten auch den kleineren Städten etwas mehr von der Selbstverwaltung verschaffen, ohne die ein Gemeinwesen auf die Dauer nicht gedeiht. Aber die hoffnungslos zerfahrene Verwaltung Berlins konnten sie nicht zur Selbstverwaltung umgestalten. »Die Freiheit des Rückens« wurde dort auch von der neuen Städteordnung nicht durch die ebenso dringende Freiheit der Stadterweiterung ergänzt. Im Gegenteil, die Städteordnung oder wenigstens ihre geistlose Auslegung durch die preußische Regierung hat die städtebaulichen Verhältnisse Berlins noch verschlimmert. Die folgende Zusammenstellung Berliner Ereignisse von 1786 bis 1860 wird es beweisen.
Wie bereits erwähnt, setzte Friedrich Wilhelm II. zu Anfang seiner Regierung die unfruchtbare Wohnungspolitik Friedrichs II. fort. Er erweiterte wie sein Vorgänger Berlin himmelwärts, senkrecht statt waagerecht. Er errichtete bis zum Jahre 1795 im ganzen 133 »Immediatbauten«. Er stellte dann nach Abschluß dieser Tätigkeit noch einen mustergültigen Grundsatz auf, gegen den sein Vorgänger und seine Nachfolger bis zum Weltkrieg unermüdlich gesündigt und damit Berlin recht eigentlich zu einer Stadt häßlicher Hinterhöfe gemacht haben. In einem Reskript vom 13. Juli 1795 gab Friedrich Wilhelm II. den Befehl, »nicht mehr Hinter- und Nebengebäude … in Anschlag zu bringen, weil dies gänzlich gegen den Endzweck läuft, die Stadt zu embelliren«. Der König ahnte nicht, daß die Hypothekengesetzgebung seines Landes die Ausnutzung des Bodens durch Hinter- und Nebengebäude nicht nur ermutigte, sondern geradezu erzwang. Das Verbot der Hintergebäude, das der König 1795, zu spät für seine eigenen Bauten, erließ, konnte für die Allgemeinheit erst nach über hundert Jahren und als Folge einer Revolution endlich Gesetz werden: durch die Bauordnung von 1925.
Nachdem die Folgen der Kriegs- und Friedenspolitik des »großen« Königs allmählich überwunden waren, stellt sich in Berlin sogar auf dem Gebiet des Wohnwesens einiger Wohlstand ein. Im Jahre 1796 hielt sich der Berliner Schriftsteller Königs darüber auf, daß es in Berlin »allmählich ein Bedürfnis wird, fast zu jeder Verrichtung im menschlichen Leben besondere Örter im Hause zu haben … Diese Sucht erstreckte sich auch auf die unteren Volksklassen bis zu den Handwerkern, die bisher genügsam gewesen waren und die Gewerbe in eingeschränkten Wohnungen ruhig betrieben hatten.« Von diesen »besonderen Örtern für jede Verrichtung« bis zu der Übervölkerung der Berliner Wohnungen, wie sie die Volkszählungen von 1861 oder 1905 ans Licht brachten, führte eine verhängnisvolle Entwicklung, deren einzelne Schritte die folgenden Kapitel schildern sollen.
Wenn man jene Zeit zwischen den Kapitalverwüstungen Friedrichs II. und Napoleons I. mit den heute herrschenden Verhältnissen vergleichen will, muß man auch einen Blick auf die Ernährung werfen, die heute in verhängnisvoller Weise durch die Höhe des für Miete aufzuwendenden Anteils des Einkommens beeinträchtigt wird. Dabei überrascht es, daß im Jahre 1799 auf etwa 8 Bewohner Berlins ein geschlachtetes Rind, auf 4 ein Kalb, auf 1½ ein Schaf und auf 4½ ein Schwein kam. Die zahlreichen Hausschlachtungen von Schweinen sind dabei nicht mitgerechnet. Dagegen kamen 1904 erst auf 18 Bewohner, im Jahre 1924 sogar erst auf 25 Berliner ein Rind; in den Jahren 1904 und 1924 auf 14 Berliner ein Kalb, 1904 auf 6, 1924 auf 9 ein Schaf und 1904 auf 2 und 1924 auf jeden Berliner 1 geschlachtetes Schwein. Allerdings spielen die früher häufigen Hausschlachtungen von Schweinen heute keine Rolle mehr. Jedoch war der Berliner Wohlstand von 1799 nur ein kurzes Aufblühen zwischen den Verwüstungen zweier blutiger Herrscher. Nachdem der Gott der Schlachten einen Friedrich II. geschaffen hatte, gab er den Völkern einige Jahre Ferien, bevor sie sich im Dienst eines Napoleons schlachten mußten.
Die Kriege des großen Napoleon erwiesen sich als beinahe ebenso schädlich für das Wachstum Berlins wie die vorangehenden Kriege des großen Friedrich. Während des Siebenjährigen Krieges hatte Berlin (ohne die Garnison) 6000 Einwohner verloren, also 850 im Jahre. In der Zeit von 1801 bis 1811 verlor Berlin 3700 Einwohner, also 370 im Jahre. Doch war in Zukunft das Wachstum Berlins nicht mehr im selben Maße wie bisher auf die Vermehrung der Garnison angewiesen. In den 32 Jahren von 1754 bis zum Tode Friedrichs II. war die Bevölkerung einschließlich des Militärs um 22 000 Köpfe gewachsen. In der folgenden, halb so langen Frist, in den 15 Jahren von 1786 bis 1801, wuchs die Bevölkerung Berlins um 26 000 Köpfe. In den sechs Jahren von 1811 bis 1817 stieg sie um 23 000 Köpfe, also auf 196 000. Viel stärkeres Wachstum setzte nach 1822 ein. Schon 1831 zählte man 248 000, im Jahre 1840 bereits 322 000, 1852 schon 421 000 Einwohner, und bald wurden die Sprünge noch sehr viel größer.
Diese rasche Entwicklung verdankte Berlin teils der Bauernpolitik Friedrichs II., teils den zudringlichen Besuchen Napoleons, die Preußen und seine Reformer zum Bruch mit der alten verfehlten preußischen Handelspolitik zwangen. Friedrichs II. kurzsichtiger Fiskalismus hatte nicht nur die verschiedenen Fetzen Preußens vom übrigen Deutschland (aus dem er Preußen zu trennen erfolgreich bestrebt war), sondern auch die zerstreuten Provinzen Preußens gegeneinander abgesperrt, namentlich die westlichen zugunsten der östlichen, deren Gutsbesitzer damals noch ihren Vorteil in der Getreideausfuhr nach England fanden. Als Napoleons Kontinentalsperre und später die englischen Schutzzölle dem ostelbischen Junker den englischen Markt abschnitten, sah sich Preußen zu einer weniger deutschfeindlichen Zollpolitik gezwungen. Berlin, das im 18. Jahrhundert vor allem die Kaserne eines großen, zwangsweise festgehaltenen Söldner- oder Sklavenheeres gewesen war, wurde durch das Zollgesetz von 1818 und durch den Zollverein von 1834 zum ersten Male die wirtschaftliche Hauptstadt eines ansehnlichen Zollgebietes. Gleichzeitig wirkte sich die friderizianische Bauernpolitik aus und lieferte einen nie versiegenden Zustrom entrechteter Bauern nach Berlin. Friedrich II. war nur scheinbar bauernfreundlich gewesen; in Wirklichkeit hatte er die Verwaltung seines überwiegend landwirtschaftlichen Staates den steuerfreien Bauernvögten, d. h. also »der unleidlichsten monarchischen Aristokratie« ausgeliefert, von der Arndt sprach. Die unverwüstliche adelfreundliche Bürokratie Preußens machte auch aus den Stein-Hardenbergschen Reformen, besonders aus der sogenannten »Bauernbefreiung«, ein mächtiges Werkzeug zum Plündern der Bauern, zum »Bauernlegen«, zur schnellen Vergrößerung der ostelbischen Rittergüter und zur massenhaften Proletarisierung der Bauern, von denen viele in die Städte und besonders nach Berlin getrieben wurden, um dort zur Steigerung der Wohnungsnot, der Mieten und zur erschreckenden Verringerung der Wohnungsansprüche beizutragen. Welche verheerende Wirkung das ostelbische Bauernproletariat auf die großstädtischen Wohnungsverhältnisse gehabt haben muß, läßt sich aus der Gleichgültigkeit schließen, mit der selbst Bismarck den Wohnungsverhältnissen seiner Gutsarbeiter begegnete.
Die Gutsbesitzer wiederum wurden ähnlich wie die städtischen Grundbesitzer durch die endlose Schraube der friderizianischen Hypothekenordnung zu immer rücksichtsloserer Ausnutzung ihrer politischen Vorteile gezwungen und lieferten der in Berlin aufblühenden Industrie und der Berliner Mietskaserne immer neue und immer widerstandslosere Landflüchtige. In dem entscheidenden Augenblick, in dem Berlin durch den Zustrom entrechteter Bauern zur Großstadt werden sollte, erwies sich seine städtebauliche Verfassung, diese gerühmte Schöpfung der »großen« Hohenzollern, als unbrauchbar. Sie konnte schon unter Friedrich II. nur deshalb in Gang bleiben, weil die Bevölkerung Berlins kaum zunahm, und sie war auch damals auf die »alles wie eine Maschine bewegende Selbstherrschaft« des großen Königs angewiesen gewesen (das Wort stammt von Preuß, dem Historiographen Friedrichs II.). Auf städtebaulichem Gebiet genau wie auf politischem und militärischem erfüllte sich die bereits erwähnte Prophezeiung Ernst Moritz Arndts, der schon 1805 in seiner Kritik des friderizianischen Staates gewarnt hatte: »Alles nur Maschine! Ja, Maschine! … Aus dem Toten wird nur Totes geboren, und hohl und gespenstisch mit dem Abscheu der Zukunft wird das Kunstgerüst zusammenbrechen.«
Die Kritik Freys (Steins wichtigsten Mitarbeiters am Entwurf zur Städteordnung von 1808) richtete sich recht eigentlich gegen dieses scheußliche preußische Maschinensystem, das »Bürgersinn und Gemeingeist ertötete und eine verhängnisvolle Geringschätzung des Bürgers erzeugte«. Diese Leistung des »absoluten Polizei- und Bevormundungsstaates« wurde von Otto von Gierke 1911 in einer Schrift über die preußische Städteordnung von 1808 geschildert mit den Worten: »Schroffer und zielbewußter als irgendwo war in Brandenburg-Preußen die Verfassung und Verwaltung der Städte vom obrigkeitlichen Staatsgedanken durchsetzt. Sie waren Staatsanstalten für lokalobrigkeitliche, vom Staat delegierte, von ernannten (oder wenigstens erst durch staatliche Bestätigung autorisierten) Magistraten wahrzunehmende Funktionen! … Der Kreis der eigenen Gemeindeangelegenheiten war auf Vermögensverwaltung zurückgeschraubt! Auch dieser Rest von selbständiger Persönlichkeit war ein unsicheres staatliches Geschenk, eine von außen her angeschaffene künstliche Einheit, ein scheinlebendiges und ewig unmündiges fingiertes Subjekt, das vormundschaftlicher Leitung bedurfte! Daher auch auf diesem Gebiet alle korporative Lebensbetätigung ununterbrochener staatlicher Kontrolle unterworfen, jeder irgend erhebliche Beschluß an staatliche Genehmigung gebunden und schließlich gar das Gemeindevermögen als mittelbares Staatsgut willkürlichem staatlichem Eingriff preisgegeben! Das was das ideale Schema, dessen Verwirklichung man sich seit den einschneidenden Reformen Friedrich Wilhelms I. mehr und mehr genähert hatte; den Gedanken des sich selbst verwaltenden städtischen Gemeinwesens schienen sie für immer ertötet zu haben. Eine wunderbare Fügung war es, daß an die Spitze des Reformwerkes der Mann berufen wurde, dessen staatsmännischer Genius die Bewegung auf eine Höhe hob, die jenseits des Horizontes und der Leistungsfähigkeit der eingeborenen preußischen Bürokratie lag. Der Mann, der nicht bloß preußisch, sondern deutsch empfand. Der Freiherr vom Stein! … Von einer Wiederherstellung der städtischen Freiheit, von einer Wiederbeseitigung der staatlichen Bevormundung, von einer Rückgabe usurpierter Rechte an die Bürgerschaft ist in der Begründung des Freyschen Entwurfes die Rede. War doch das Gedächtnis der Blütezeit des deutschen Städtewesens unauslöschlich in das Herz der Nation eingegraben … Mit zündenden Worten hatte ein Jahr vor Erlaß der Städteordnung Fichte in den Reden an die deutsche Nation das alte deutsche Städtebürgertum gefeiert und seine republikanische Selbstverwaltung als einzigartig in Europa gepriesen … Gewiß war es ein Wagnis, über Jahrhunderte hinweg an die ehemalige Städteherrlichkeit anzuknüpfen. Ja, es fehlt diesem Beginnen nicht ein romantischer Zug. Allein das kühne Werk gelang … Gemessen an Steins großartigem Programm war die Städteordnung freilich nur ein Fragment. Und sie blieb, da ihrem Erlaß alsbald Steins Rücktritt folgte, auf lange hinaus ein Fragment … Endgültig erlag die Städteordnung von 1808 der Städteordnung von 1853 … Keine der Nachfolgerinnen der Steinschen Städteordnung atmet den gleichen freien Geist, der uns aus dem Werk Steins entgegenweht.«
Besonders unvorteilhaft für Berlin war, daß ihm auch der geringe Gewinn der neuen Städteordnung gleich von Anbeginn verwässert wurde. »Die Städteordnung ist nur allmählich, unter wesentlicher Veränderung der leitenden Grundsätze, unter mannigfachen Ausgleichsverhandlungen zwischen Staat und Stadt, und niemals vollständig in der Residenz Berlin Stadtrecht geworden« (P. Clauswitz).
Mit dem Gemeingeist und der Würde des Bürgers war von den preußischen Herrschern auch die Möglichkeit wirksamer Reform zerstört worden. Die Steinsche Städteordnung mag als ein genialer Versuch gelten, die Mängel des alten Systems zu überwinden. Sie brachte den lebenspendenden Gedanken der Selbstverwaltung und kommunalen Freiheit wieder in das öffentliche Gedächtnis zurück. Otto von Gierke erklärte: »Sie übernahm bewußt die in der französischen Gesetzgebung von 1789 bis 1795 für die Nationalvertretung ausgesprochenen Grundsätze, so daß ihre Stadtverordnetenversammlung im Grunde das erste moderne Parlament auf deutschem Boden war … Jedoch ist in den preußischen Städten zwar das allgemeine, nicht aber das gleiche Wahlrecht, das die Steinsche Städteordnung gewährte, aufrechterhalten. Vielmehr erfolgte die Wahl (seit 1850) nach dem Dreiklassensystem … Das Dreiklassensystem bleibt ja schon wegen seiner einseitigen Bemessung des Stimmgewichts nach der Steuerleistung eine unvollkommene Ordnung, die ihren kapitalistischen Ursprung nicht verleugnen kann … Die lebendige Teilnahme aller Bürger, die den Gemeinsinn wecken soll, wird nur allzu leicht zur Fiktion … Nur auf eine verhältnismäßig kleine Schicht innerlich interessierter Bürger stützt sich die vom Zentrum aus geleitete Verwaltung, als deren Werkzeug ein riesiges Beamtenheer tätig ist. Mit einer gewissen Naturnotwendigkeit wächst eine städtische Bürokratie empor, die sich von ihrem staatlichen Vorbild nur durch die Farbe unterscheidet.« Unter dem Einfluß dieser Bürokratie wurden die Steinschen Gedanken so umgedeutet oder abgeändert, daß ihre segensreichen Möglichkeiten großenteils verkümmerten. Otto von Gierke urteilte 1911: »In der Hauptsache beschränkt sich das Gebiet der Gemeindeangelegenheiten auf Verwaltung. Aus der Verwaltung aber schied die Städteordnung von 1808 die gesamte Polizei aus und überwies sie dem Staat. Die Stadtgemeinde trägt nur die Kosten und ist (kraft der ihr im Gesetz vom 11. März 1850 auferlegten Haftung für Aufruhrschäden) in gewissem Umfang für unzureichendes Funktionieren der staatlichen Polizeiorgane verantwortlich. Der deutschen Rechtsauffassung und eigentlich auch dem Grundgedanken der Steinschen Städteordnung entspricht diese Verstaatlichung der Ortspolizei nicht. In der Tat ist die völlige Loslösung der Polizei von der städtischen Verwaltung eine Verkümmerung der Selbstverwaltung … Vor allem war der Städteordnung von 1808 noch die Vorstellung fremd, die in Preußen später vielfach Boden gewann und auf die jüngeren Städteordnungen oder mindestens auf ihre Handhabung nicht ohne Einfluß blieb, als sei die Gemeinde im Gegensatz zum Staat ein wesentlich wirtschaftlicher Verband. Durchaus vielmehr ist ihr die Stadt ein politisches Gemeinwesen … Neben der wirtschaftlichen Förderung der Gemeindegenossen liegt ihr auch die Sorge für deren leibliches und geistiges Wohl und die Vervollkommnung der sozialen Sittlichkeit ob. Auch Armenpflege, Gesundheitswesen, Jugendfürsorge, Berufsfortbildung, Wohnungsverbesserung fallen in den Bereich der Gemeindeangelegenheiten … Für die Gegenwart ist die Erkenntnis der Universalität der Gemeindeaufgaben von besonderer Bedeutung. Sozialpolitik aber ist eben Politik. Mit dem riesigen Wachstum der Städte sind ihre Aufgaben umfangreicher, in der zunehmenden Kompliziertheit der Lebensverhältnisse verwickelter, mit der Steigerung der Interessengegensätze und des Klassengeistes dornenreicher geworden.«
Beschränkung des Berliner Weichbildes durch die Städteordnung.
Die weiße Linie zeigt das verstümmelte Klein-Berlin von 1808, die viel umfassendere dunkle Linie das mittelalterliche Weichbild, das nur langsam wieder erreicht und bis 1920 festgehalten wurde
So schilderte Otto von Gierke die Unzulänglichkeit der städtischen Selbstverwaltung in Preußen. Namentlich in Berlin wurde sie im Sinn des überlieferten preußischen Schlendrians noch weit unter das geringe Maß herabgedrückt, das ihr die Städteordnung von 1808 zumessen wollte. Der »anstaltliche Obrigkeitsstaat« (wie von Gierke ihn nannte) hatte Angst vor der heranwachsenden Großstadt.
Die Berliner Entwicklung wurde von vornherein schwer geschädigt durch den viel zu eng gefaßten Begriff, den die Städteordnung von 1808 von der Stadt hatte. Ihr vierter Paragraph setzte nämlich fest, daß »zum städtischen Polizei- und Gemeindebezirk alle Einwohner und sämtliche Grundstücke der Stadt und der Vorstädte gehören«. Gleich meldeten sich Zweifel, was man zu den Vorstädten rechnen dürfe. Die Stadt stritt sich mit den Landräten wegen militärischer Einquartierung in den Ortschaften der alten städtischen Feldmark. Dabei bewies sich die Staatsregierung als strenge Kirchturmpolitikerin und erklärte 1810 dem Berliner Magistrat, daß unter dem Gemeindebezirk nur die eigentliche Stadt innerhalb der Mauer nebst einigen kleinen, dichtbebauten Gebieten gleich außerhalb der Mauer zu verstehen sei und daß nur diese noch zur Stadtgemeinde gehören sollten (Seite 190). Die ganze Feldmark, die bisher mit der Stadt das Weichbild gebildet hatte, wurde dadurch von ihr abgetrennt und dem platten Land zugewiesen. Das platte Land aber unterstand den uralten landwirtschaftlichen Gerechtsamen und war dem Städtebau verschlossen. Der Berliner Polizeipräsident verschärfte dann sogar die Erklärung der Regierung und verordnete, das Bürgerrecht dürfe nur an Einwohner erteilt werden, die innerhalb der Mauer wohnten. Damit wurde mancher in die Stadt gedrängt, der sonst draußen gewohnt hätte; denn nach der Städteordnung gab nur das Bürgerrecht die Befugnis, »städtische Gewerbe zu treiben und Grundstücke im städtischen Polizeibezirk der Stadt zu besitzen«. Die Häuser außerhalb der Mauer wurden auch nicht in die städtische Feuerversicherung aufgenommen und die dortigen Straßen von der öffentlichen Beleuchtung ausgeschlossen. Durch derartige Maßnahmen wurden die gefährlichen monopolartigen Eigenschaften und der Wert des Bodens innerhalb der Stadtmauer gesteigert, seine erhöhte Ausnutzung erzwungen, die Stadterweiterung verzögert und der Wohnungsbau gehemmt. Da gleichzeitig, wie der Magistrat 1829 feststellte, die Zahl der unbemittelten Familien unverhältnismäßig stieg, war auch von dieser Seite die Möglichkeit zur Herabdrückung der Wohnungsansprüche gegeben. Die Ausnutzbarkeit des Bodens wurde durch den Ausbau der vorhandenen Häuser für immer zahlreichere und kleinere Wohnungen gesteigert. 1815 lassen sich durchschnittlich sechs Wohnungen auf ein Berliner Haus berechnen, 1830 sieben, 1840 beinahe acht, 1850 etwas über neun und 1860 fast zehn. 1815 kamen noch nicht 30 Bewohner auf ein Haus, 1828 35, 1848 43, 1850 48, 1860 49. Der Magistratsbericht von 1829 verzeichnete ein bedeutendes Steigen des Mietwertes, und die »Vossische Zeitung« klagte 1830, daß es für ärmere Leute an kleinen Wohnungen mangele, die Mieten zu teuer wären und die Wirte lieber die Wohnungen leer stehen ließen als den Preis herabzusetzen und so den Wert ihrer Häuser zu vermindern. Von 1830 an läßt sich das Steigen des Mietwertes von Jahr zu Jahr nachweisen. Er erhöhte sich von 4 400 000 Talern (für sämtliche Wohnhäuser) im Jahre 1830 auf 12 300 000 Taler 1860, was weniger aus der vermehrten Zahl der Häuser als aus dem Steigen der Mieten zu erklären ist. Der durchschnittliche Mietwert einer Wohnung betrug 1850 noch 98, 1860 schon 130 Taler im Jahr.