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Der preußische Staat wurde nur durch solche durch und durch kathedersozialistische Maßregeln groß; der größte preußische König, Friedrich II., wollte nie etwas anderes sein als ein roi des gueux; derselbe Fürst tat den Ausspruch, die Steuern hätten neben den anderen Zwecken namentlich auch den, »eine Art Gleichgewicht zwischen den Armen und Reichen herzustellen«.
Gustav von Schmoller in dem »Offenen Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke«
Die Schlechtigkeit ist immer am größten in den höheren Ständen.
Fichte, zitiert von Heinrich von Treitschke
Die wirtschaftliche Inflation der »Gründerjahre« wurde begleitet oder verursacht durch eine geistige Inflation. Es kam zu einer Verwilderung der gesellschaftlichen Moral, wie sie schlimmer kaum in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg geherrscht haben kann. Diese Verwilderung entstellte sogar die Äußerungen der einflußreichsten Männer. Als Beispiel sollen hier und an einer späteren Stelle Äußerungen Heinrich von Treitschkes und Bismarcks mitgeteilt werden, aus denen eine heute kaum noch glaubliche Verständnislosigkeit für die lebenswichtige Wohnungsfrage des Volkes spricht. Die Spuren dieses Ungeistes bleiben im Antlitz des steinernen Berlin unauslöschlich eingegraben.
Heinrich von Treitschke – keineswegs ein Mann ohne geistige Verdienste – führte seit 1874 in seinen »Preußischen Jahrbüchern« einen scharfen Federkrieg gegen die wohnungs- und sozialpolitischen Schriften von Gustav Schmoller und »Arminius«, die beide damals den empörenden Materialismus der besitzenden Klassen gebrandmarkt hatten. In seiner Streitschrift »Der Sozialismus und seine Gönner« entschlüpfte Treitschke das bereits erwähnte Wort: »Jeder Mensch ist zuerst selbst verantwortlich für sein Tun; so elend ist keiner, daß er im engen Kämmerlein die Stimme seines Gottes nicht vernehmen könnte.« Hierauf gab Schmoller die ebenfalls bereits mitgeteilte Antwort: »Sittlich und geistig verwahrlosten Proletariermassen von den Gütern des inneren Lebens vorzureden ist ebenso müßig, als einem Blinden die erhabene Schönheit des Sternenhimmels zu erklären.«
Mit seinem frömmelnden Ausspruch bezog sich Treitschke augenscheinlich auf das Jesus-Wort des Matthäus (6,6): »Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene siehet, wird dir's vergelten öffentlich.« Diese Worte zeigen, wie selbstverständlich es für Jesus war, daß jeder Mensch ein Kämmerlein für sich hat, in dem er allein sein und sich abschließen kann. Die Berliner Wohnungsstatistik aus dem Jahre 1871 aber, die Treitschke vorlag und die er in seiner Streitschrift mit Verbeugungen vor dem »historischen Beruf der niederen Klassen« abtun zu dürfen glaubte, wies 162 000 Menschen nach, die – während Treitschke schrieb – dicht neben ihm in sogenannten »übervölkerten« Kleinwohnungen lebten, Wohnungen, meist aus einem Zimmer mit Küche bestehend, von denen jede im Durchschnitt mit 7,2 Menschen besetzt war. Dieselbe Statistik ergab insgesamt eine Bevölkerung von 585 000 Menschen in sogenannten kleinen Wohnungen (d. h. Wohnungen ohne heizbares Zimmer oder mit einem oder zwei heizbaren Zimmern), die durchschnittlich mit 4,2 Menschen belegt waren. Das entsprach nicht dem von Treitschke entweihten Christus-Wort zur Wohnungsfrage. Treitschkes heuchlerische Berufung auf dieses Wort läßt an einen Brief denken, den er als Zweiundzwanzigjähriger, kurz vor der Veröffentlichung seiner »Vaterländischen Gedichte« (1856), schrieb und der folgende prophetische Selbstentlarvung enthält: »Wenn ich jetzt täglich eine Stunde die leichte Ware von tausenderlei Zeitschriften gelesen, die doch der handgreiflichste Ausdruck unserer modernen Bildung sind: dann überkommt mich oft eine Verwirrung und Beschämung über meine Unwissenheit und doch zugleich eine unendliche Verachtung gegen die seichte phrasenhafte Weise, womit ich die größten und tiefsten Dinge behandelt sehe. Und diese beiden Empfindungen stärken mir die Wißbegierde, den beinahe krankhaften Ehrgeiz, daß ich nie zum geistigen Pöbel gehören möge, dem die Welt nur ein Gegenstand halber Teilnahme, halben Verständnisses ist.«
Treitschkes Vorwurf des »pöbelhaften halben Verständnisses«, den er hochmütig anderen machte, paßt recht eigentlich auf seine eigene scheinheilige Vermengung der Berliner Wohnungsfrage mit der Bergpredigt und entwertet auch viele seiner übrigen Urteile, z. B. seine seherhaften Bemerkungen über die kulturelle Bedeutung der »niederen Klassen«. Treitschke erklärte: »Gerade in der bescheidenen Enge des kleinen Lebens bewahrt das Gemüt eine frische, kernhafte, unmittelbare Kraft, welche den Gebildeten oft beschämt. Darum sind die niederen Klassen der Jungbrunnen der Gesellschaft. Aus den unberührten Tiefen ihrer derben Sinnlichkeit, ihres wahrhaftigen Gefühls, steigen immer neue Kräfte empor in die Reihen der rascher dahinwelkenden höheren Stände. Die Helden der Religion, welche das Gemütsleben der Völker in seinen Grundfesten umgestalteten, waren zumeist Söhne der Armut; wer kann sich Jesus oder Luther anders vorstellen denn als kleiner Leute Kinder? Dies hatte Fichte im Auge, wenn er mit seiner schroffen Härte sagte, die Schlechtigkeit sei immer am größten in den höheren Ständen.« Treitschkes eigene sozialpolitische Harthörigkeit und Herzenshärte läßt Fichtes Urteil beinahe glaubhaft erscheinen. Treitschke erklärte weiter: »Diese heiligen Empfindungen dem Menschengeschlecht zu bewahren, war allezeit der historische Beruf der niederen Klassen; durch solchen Dienst nehmen sie unmittelbar Anteil an der idealen Kulturarbeit der Geschichte.«
Was durfte Treitschke von seiner »idealen Kulturarbeit der niederen Klassen« oder von der »bescheidenen Enge des kleinen Lebens« oder von der Andacht »im engen Kämmerlein« erhoffen, wenn gleichzeitig Stadtmissionar Bokelmann in seinem Bezirk Häuser fand, die von 250 Familien bewohnt waren und wo 36 Wohnungen auf einen Korridor mündeten? Treitschke erklärte: »Diese Ordnung ist gerecht; denn das wahre Glück des Lebens, den Frieden der Seele und die Freuden der Liebe verschließt sie keinem.« Gleichzeitig berichtete Stadtmissionar Bokelmann, daß im selben Hause 17 Frauen in wilder Ehe, 22 Dirnen, 17 ungetraute Paare und vier von ihren Männern geschiedene Frauen zu finden waren.
Zur Entschuldigung Treitschkes läßt sich nur sagen, daß Bismarck gelegentlich ebenso verständnislos oder gleichgültig über die Wohnungsnot gesprochen hat.
Eines der Bücher, gegen welche Treitschkes Streitschrift sich richtete, trug den Titel: »Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot und die Grundlagen einer durchgreifenden Abhilfe, von Arminius; mit einem Vorwort von Dr. Th. Freiherrn von der Goltz, Professor an der Universität Königsberg; Leipzig, 1874.« Hinter dem Decknamen »Arminius« verbarg sich die siebzigjährige Gräfin Adelheid Dohna-Poninski. Sie hatte, bevor sie ihr Berliner Buch schrieb, in Wien gelebt und hatte in London den Adel kennengelernt, der dort der Bewegung für Wohnungsreform nahestand. Der Führer dieser Bewegung, Lord Shaftesbury, war nur drei Jahre älter als die preußische Gräfin. Auch mit den Schriften Hubers scheint sie vertraut gewesen zu sein. Mit dieser geistvollen Frau kam zum erstenmal ein männlicher Ton in des preußischen Adels unsagbar verständnis- und würdelose Äußerungen zur Wohnungsfrage. Für Liebhaber der Vererbungslehre sei erwähnt, daß der Begründer des gräflichen Hauses Dohna, dem Gräfin Adelheid entstammte, schon unter dem ersten Preußenkönig große deutsche Belange verteidigt und ein Regiment französischer Auswanderer gegen ihren König Ludwig XIV. und gegen seinen türkischen Bundesgenossen geführt hat. Auch aus dem Buch der Gräfin Poninski (geboren 1804 als Gräfin zu Dohna-Schlodien und vermählt 1841 mit Graf Lodzia Poninski, Besitzer der Herrschaft Hreherow in Galizien) klang nicht der fade kleinpreußische Ton, sondern ein vornehmer reichsdeutscher und weltmännischer Ton.
Das Buch Adelheid Dohnas umfaßt alle Teile des Städtebaues in einer vorher vielleicht noch nie dagewesenen Vollständigkeit. Aus dem Inhalt des 260 Seiten starken Bandes können hier nur einige Andeutungen gemacht werden. Die erste Anregung zu städtebaulichem Denken war der Verfasserin 1857 durch dasselbe große Preisausschreiben zur Wiener Stadterweiterung gegeben worden, das keinen einzigen preußischen Beamten zum Nachdenken angeregt hatte, obgleich die Erfolge und Mängel der Wiener Leistung erstaunlich genug waren, um eine einsichtige Frau die »Theorie der Architektur der Großstädte« fordern und entwerfen zu lassen. Sie bemerkte, was keinem einzigen preußischen Beamten bei der Aufstellung des Berliner Bebauungsplanes, der Berliner Bauordnung und sonstiger städtebaulicher Vorschriften eingefallen war: »Soll eine Großstadt erweitert werden, so ist dabei keine andere Aufgabe wichtiger als die Fürsorge für die kleinen Wohnungen, ihre Anzahl, Zweckmäßigkeit und ihr richtiges Verhältnis zu den übrigen Baulichkeiten … Gerade die Lage und Gruppierung der Arbeiterwohnungen wurde jedoch in keiner unserer Großstädte nach einem einheitlichen Plan und nach festen Grundsätzen geordnet, und nirgends ist das wahre Bedürfnis gegenüber der Laune und Willkür in seine ihm zukömmlichen Rechte getreten.«
In Berlin, so berichtete die Gräfin, hat man sich bei der Aufstellung des Bebauungsplanes von 1858 um die geeignetste Gruppierung der Kleinwohnungen wenig Sorgen gemacht, wohl aber »ging in gutunterrichteten Kreisen die Rede, daß in nächster Nähe der geplanten Neubauten die Erbauung einer Zitadelle in Aussicht genommen sei, um ein Proletariat im Zügel zu halten, dessen reichliches Zusammenströmen in dem zu errichtenden Stadtteil wegen der Nähe vieler Fabriken damals vorausgesetzt wurde«. Im reaktionären Wien Metternichs wurden gleichzeitig »Defensivkasernen« gebaut; Paris wurde damals nach militärischen Richtlinien – zur Meisterung der inneren Feinde – »saniert«. Aus demselben Geiste stammte die sozialpolitische Weisheit, mit der Hobrecht seine Mietskasernen als Mittel zu friedlichem Durcheinandermengen der Stände zu entschuldigen versuchte (vgl. Seite 232 ff.). Gegen diesen Städtebau aus sozialpolitischer Angst wandte sich Adelheid Dohna: »Die Furcht, daß Verbindungen zu einzelnen Gemeinschaften die Massen noch gefährlicher machen und das Bewußtsein ihrer Stärke erhöhen könnten, verleitete zu der falschen Absicht, ihre Kraft durch Zersplitterung brechen zu wollen. In dem verworrenen Knäuel der Massen glaubte man eine größere Sicherheit zu finden, und nur mit vereinzelten wohnungsreformatorischen Bestrebungen flickte man fort und fort an der unübersehbaren, unfaßbar großen Not in diesem Knäuel und bewältigte sie doch nicht … Leichtsinn, eigensinniges Vorurteil und vornehmlich Mangel an Verständnis für die Beschaffenheit und den Charakter zweckmäßiger Wohnungsgruppen für Arbeiter beladen die städtischen und staatlichen Autoritäten, welche hier tätig einzugreifen berufen sind, mit schwerer Verantwortung.«
Bismarck stand damals auf dem Gipfel seines Ruhmes. Über seinen Kampf gegen die Arbeitergewerkschaften fällte die Gräfin ein Urteil, das im Geist des alten Wohnungsreformers V. A. Huber geschrieben und dessen dem Kanzler überlegene Weisheit durch die spätere «geschichtliche Entwicklung bewiesen wurde: »Diese Assoziationsbewegungen der Arbeiter lenkten sich zunächst auf die Verbrüderung zur Arbeit und Lebensnotdurft, und diese sind es, die man, Wohlwollen und Zutrauen erweckend, zu unterstützen versäumt hat … Es war nicht nur Befangenheit und Kurzsichtigkeit, die lange Zeit in vielen sogenannt konservativen Kreisen herrschte, sondern auch Sünde, großstädtische Arbeiter assoziationen in ihrer Entwicklung aufhalten zu wollen, anstatt sich leitend ihrer anzunehmen.«
Wie richtig Gräfin Dohna Bismarcks verhängnisvolle Haltung beurteilte, zeigt »die deutsche Baugenossenschaftsbewegung«. Unter diesem Titel veröffentlichte Dr. Walter Voßberg, Halle 1905, eine Studie, aus der das oben folgende Zitat stammt. »Das über die junge Bewegung hereinbrechende Sozialistengesetz stärkte künstlich die politischen Tendenzen, legte aber jede gesunde, offene Betätigung auf anderen Gebieten lahm. Es blieb ferner die beengende Form der Genossenschaft mit beschränkter Haftung, und es kam die Krisis der Jahre 1873/74.« Bismarck war es gelungen, politische Märtyrer aus Arbeitern zu machen, die sich unter einer weniger ungeschickten Regierung zur Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Vorteile und zum Bau ihrer Häuser zusammengeschlossen hätten. Unter Bismarcks Leitung ging die Zahl der Baugenossenschaften im rasch wachsenden Deutschland stetig zurück. 1879 gab es noch 46; 1888 nur noch 28.
Das eingehende städtebauliche Programm der Gräfin Dohna deckt sich in vieler Hinsicht mit den wohnungs- und verkehrspolitischen Forderungen Hubers, Fauchers und Bruchs; aber stärker als alle drei betonte sie die Notwendigkeit öffentlicher Grünflächen in der Umgebung der großen Städte, wie sie der Berliner Bebauungsplan von 1862 durchaus vernachlässigt hatte. Dabei hat Adelheid Dohna die Theorie des grünen Ringes der Großstädte, des Wald- und Wiesengürtels in einer plastischen Ausführlichkeit entwickelt, die jenen zwei Jahrzehnte später in Wien geführten Streit der Architekten, wer dort um 1892 als erster den »grünen Gürtel« vorgeschlagen habe, etwas lächerlich erscheinen läßt, um so mehr als Gräfin Dohna eigentümlicherweise gerade für Wien genauere Berechnungen der Ausdehnung und Lage des notwendigen grünen Gürtels schon achtzehn Jahre früher veröffentlicht hat. Schon 1874 hat sie auch folgenden, heute selbstverständlich wirkenden Gedanken ausgesprochen, den erst das moralische Trommelfeuer des Weltkrieges schließlich auch in die Köpfe der preußischen Beamten hineinhämmern konnte:
»Die Stadtgemeinde in ihren verschiedenen Schichten soll menschlich wohnen – das ist das erste und vornehmlichste Bedürfnis, das beim Aufbauen sowie bei Erweiterung der Stadt versorgt werden muß! Das Bedürfnis des menschlichen Wohnens erstreckt sich im weiteren Sinne nicht nur auf die Behausung, sondern auch auf die Erholungsstätten im Freien und Grünen im Weichbild der Stadt … Die Erweiterung der Stadt ist so in Schranken zu halten, daß das Anrecht jedes Einwohners, innerhalb einer halben Stunde von seiner Wohnung aus die freie Flur erreichen zu können, nicht verletzt werde. Da bei dem hier anzulegenden Maßstab auch Alte, Schwache und Kinder zu berücksichtigen sind, welche im allgemeinen in einer halben Stunde nicht mehr als eine viertel Meile (= 1,9 km) zurücklegen können, so wird diese Entfernung als größte angenommen. Im Weichbild der Stadt ist eine grüne Fläche abzugrenzen; sie liegt zwischen einer Linie, welche die Stadt nach dem Umfang ihrer kompakten Häusermasse umschließt, und einer weiteren Linie, welche nach außen hin von der ersteren an allen Punkten eine halbe Meile (= 3¾ km) entfernt ist. Diese Fläche, als der kostbare grüne Ring, welcher der Stadt zu erhalten ist, darf nur in einem Fünfteile mit Gebäuden besetzt werden; der übrige Raum bleibt den Eigentümern und Pächtern zur Benützung als Garten, Feld, Wiese und Wald und dient zugleich der gesamten Bevölkerung in allen ihren Schichten zu mannigfaltigen, ihren verschiedenen naturgemäßen Bedürfnissen angemessenen Erholungsstätten in freier Natur, einschließlich der Nutzgärtnereien.«
Auf beschränkte Köpfe oder »Historiker« wie Treitschke wirkte dieser Gedanke der Gräfin Dohna damals ganz neu, erschreckend und »konfiskatorisch«, obgleich er überraschend an ein Gesetz erinnerte, das eine andere geistvolle Frau 300 Jahre früher und mit einer ganz ähnlichen Begründung erlassen hat. Im Jahre 1580, also bevor London durch das große Feuer gereinigt und zu seiner neuzeitlichen dezentralisierten Wohnweise geführt und damit für die Welt vorbildlich geworden ist, verfügte Königin Elisabeth: »Wo eine so große Masse von Menschen in kleinen Räumen wohnt, wobei viele sehr arm sind, ja sich vom Betteln und Schlimmerem nähren müssen, und beinahe erstickt werden, indem viele vielköpfige Familien in einem Hause oder in einer kleinen Mietwohnung zusammengepfercht sind, muß notwendigerweise im Falle von Krankheiten und Epidemien die ganze Stadt gefährdet sein.« Königin Elisabeth verbot deshalb »die Verstöße, die durch die Vermehrung der Aftermieter, Zimmerabmieter und Schlafgänger innerhalb der letzten sieben Jahre gegen die guten alten Sitten der Stadt geduldet worden sind … Der Oberbürgermeister soll schleunigst bis zum nächsten Allerheiligentag dafür sorgen, daß diese Aftermieter und Schlafgänger sich andere Wohnungen außerhalb der Stadt besorgen … Im Hinblick auf einen so großen Vorteil für das Allgemeinwohl des Königreiches sind alle Privatpersonen durch göttliches und menschliches Recht verpflichtet, von ihrem gewöhnlichen und außerordentlichen Gewinn Opfer zu bringen … Ihre Majestät befiehlt ausdrücklich, daß jedermann, welchen Rang er bekleiden möge, davon absteht, innerhalb dreier Meilen (also 4,8 Kilometer) von den Toren der Stadt London irgendein neues Haus oder Gebäude für Wohnzwecke zu erbauen oder zu dulden, daß mehr als eine Familie in irgendeinem der bereits vorhandenen Häuser wohne.«
Die ganze spätere Geschichte des Londoner Städtebaues wirkt wie ein erfolgreicher Kampf für den Sieg der anständigen Gesinnung, die in diesem Erlaß von 1580 zu Wort kam. Die Verständnislosigkeit für derartige große staatsmännische Gedanken ist es, die einem »Historiker« wie Treitschke, dem sie als Forderung und als Notwendigkeit lebendig begegneten, nicht verziehen werden kann.
Da das Gesetz der Königin Elisabeth erst kurz vor dem Weltkrieg wieder ausgegraben wurde, ist es unwahrscheinlich, daß Adelheid Dohna es gekannt hat. Wahrscheinlicher ist, daß sie den Plan der australischen Stadt kannte, die in ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr gegründet und der ihr eigener Name gegeben wurde. Adelaide, die Hauptstadt des Staates Südaustralien, wurde nach einer anderen englischen Königin benannt und von vornherein mit einem allerdings nur 800 Meter breiten, dafür aber durchweg unbebauten Gürtel von »Park Land« umgeben.
Manches in der Fassung, die Adelheid Dohna ihrem Grüngürtelvorschlag gab, erinnert an die 20 Jahre später (seit 1895) von Ebenezer Howard und den anderen Gründern der englischen Gartenstädte angestrebte landwirtschaftliche Zone, die heute in der deutschen Gartenstadtbewegung tatkräftige Anhänger wie Migge und Hahn gefunden hat. Wie sich noch zeigen wird, liefen aber die Forderungen der Gräfin Dohna auf vernünftige Baubeschränkungen, Zonenbauordnung und Flächennutzungsplan nebst Ausweis genügender Freiflächen hinaus, also auf Maßnahmen, die in einem Land ohne bürgerliche Selbsthilfe unentbehrlich sind. Wie diese Forderungen nach dem Weltkrieg endlich verwirklicht werden konnten, wird später geschildert werden. Die Phantasielosigkeit geistiger »Führer« wie Treitschke, welche die verständigen Forderungen der Gräfin Dohna ablehnten, ist schuld daran, daß die preußische Regierung achtzehn Jahre später (also 1892) keinen Erfolg hatte, als ihre Beamten endlich die Notwendigkeit der Dohnaschen Forderungen begriffen und 26 000 ha, also fast genau das von der Gräfin geforderte Gebiet, als Landhausgebiet oder öffentliche Freiflächen schützen wollten.
Berlin umfaßte 1874, als Gräfin Dohna ihre Forderungen aufstellte, 5920 ha. Der von ihr geforderte grüne Gürtel hätte also grob gerechnet etwa 25 000 ha umfaßt. Verglichen mit den 88 381 ha, welche das 1920 geschaffene Groß-Berlin heute bedeckt, erscheint das Gebiet, welches Gräfin Dohna 1874 unter Bauschutz stellen wollte, nicht allzu groß. Da aber diese 25 000 ha damals meistens noch unbebaut waren, hätte auf dieser Fläche, die heute großenteils mit unerfreulichen Mietskasernen bepackt ist, Mustergültiges geschaffen werden können, wenn es zur Zeit Bismarcks einen städtebaulich denkfähigen Staatsmann gegeben hätte.
Die Verwendung der geschützten Fläche, von der nur ein Fünftel gewissen streng beschränkten Bauzwecken zugeführt werden sollte, dachte sich Gräfin Dohna folgendermaßen: »Bei der Errichtung von Bauten auf dem fünften Teil (also etwa 5000 ha) vom Areal des grünen Ringes haben öffentliche Gebäude, welche dem Gemeinwohl dienen, wie Kirchen, Schulen, Seminarien, weibliche Erziehungspensionate, Diakonissenhäuser, Altersversorgungsanstalten, Herbergsasyle für junge Fabrik- und Nadelarbeiterinnen, Waisenhäuser, Unterhaltungsräume und andere, den Vorrang vor Bauten zu Privatzwecken als Zinshäuser, Villen u. dgl. Die Gründung neuer Fabriken im grünen Ring ist nirgends zulässig; dagegen gehören hierher auch Gruppen von Wohnungen für subalterne Beamte und für Arbeiter, jedoch in mäßiger Ausdehnung, so daß die richtigen Verhältnisse, welche durch die Ansprüche anderer gemeinnütziger Bauten bedingt sind, nicht überschritten werden.«
Im grünen Gürtel forderte die Gräfin Dohna »Erholungsstätten in freier Natur am Feierabend und Sonntag, insbesondere für die handarbeitenden Klassen« und »für die Intelligenten, die höheren Stände«. Sie trennte zwischen den verschiedenen Bedürfnissen nach »Gärten im Interesse des Familienlebens«, »Warte- und Spielplätzen für kleine Kinder«, »Kindergärten für Knaben und Mädchen im Schulalter«, »Feierabendstätten für die Jugend der handarbeitenden Klassen«, »für Gesellen und Lehrlinge«, »für die in Fabriken arbeitende männliche Jugend«, »für »Nadelarbeiterinnen«, »für die in Fabriken arbeitende weibliche Jugend«, »für Dienstmädchen«, »Villen mit Gärten und städtischen Hausgärten«, »Privatgärten für Familien in Gruppen angelegt«, »Lauben in Nutzgärtnereien«, und behandelt diese verschiedenen Notwendigkeiten in verschiedenen Abschnitten ihres Buches. Ein besonderer Abschnitt ist den »Gärten für besondere Genossenschaften und Institute« gewidmet. Weitere Abschnitte handeln von den »öffentlichen Restaurationsgärten«, »den öffentlichen Promenaden und Parkanlagen zwischen der inneren Stadt und den Vorstädten« und »jenseits der Vorstädte«. Besondere Beachtung schenkte sie der Freihaltung von Innenparks in solchen Städten, deren bebautes Gebiet bereits so umfangreich ist, daß den Bewohnern der inneren Teile das schnelle Erreichen des grünen Gürtels nicht mehr möglich ist. Gräfin Dohna schrieb: »Es wird wahrlich höchste Zeit, daran zu denken, daß in unseren Großstädten, deren Bevölkerung sich christlich nennt, die Gasse und der Rinnstein wie der enge Hof keine passenden Orte für die Erholung der Kinder sind und daß man Sorge tragen muß, gedeihlichere Stätten ihnen aufzuschließen und die nötigen Verbindungen herzustellen, anstatt müßig zuzusehen, wie an Abenden der schönen Jahreszeit die Kinder der untersten Schichten, aus den Hinterhäusern, aus hohen Stockwerken und Kellern hervorquellend, in zahlreichen Schwärmen die Höfe und die Straßen überfüllen, im wirren, unbeaufsichtigten Treiben.« Die Pferdebahnen, mit deren Bau Berlin hinter Bukarest und Konstantinopel einherhinkte, nannte Gräfin Dohna die »goldenen Brücken ins Freie, die Verbindung mit der blühenden Welt in Gärten, Feldern und Wäldern«, und von der Durchführung ihrer Vorschläge erhoffte sie die Abhilfe des »gigantischen Mißstandes, daß durch rücksichtslose, willkürliche, immer weitere Ausdehnung der Häusermassen in Großstädten ein zahlreicher Teil der Bewohner eingesperrt und verrammt« wird.
Die praktischen Mittel für die dringend erforderliche Neugestaltung des Städtebaues, namentlich in den Großstädten, fand Gräfin Dohna in einer neuen gerechteren Auffassung des Eigentumsrechtes am Grund und Boden der Großstädte. »Kein Neubau darf störend in ein vorliegendes Bedürfnis irgendeiner einzelnen Kategorie der Einwohnerschaft eingreifen.« Wie die Obrigkeit bisher das Baurecht zur Sicherung gegen Feuersgefahr und beim Bau von Festungen oder Eisenbahnen beschränkt hat, bedarf es künftig einer Beschränkung beim Bau der Städte zum Schutze gegen die »ungemessenen Schäden für Moralität, Gesundheit und Sicherheit, welche aus dem willkürlichen Verbauen der freien Plätze und Felder entstehen, deren jede Hauptstadt unveräußerlich bedarf«!
Bedeutsam ist die Art, wie ein einsichtiges Mitglied des Hochadels sich die Ablösung der »wohlerworbenen Rechte der Grundbesitzer« dachte. Derartige Ablösungen sind, so führte Gräfin Dohna aus, in Preußen durchaus nichts Neues: »Gleichwie vor beiläufig 50 Jahren im Königreich Preußen die Regierung Kommissionen einsetzte, welche durch den ganzen Staat den Wert der bäuerlichen Dienste zu taxieren hatten und die Dienstablösungen handhabten, unter den verschiedenartigsten und schwierigsten Modalitäten, so wird es auch heute geschehen können. Kommissionen einzusetzen, welche nach bestimmten allgemeinen Normen den annähernd richtigen, d. i. billigen Ansprüchen genügenden Modus für die Besteuerung der Hausherren und der Eigentümer von noch unbebauten Grundstücken in großstädtischen Weichbilden herausfinden. Man wird bei den Berechnungen von einem bestimmten Jahre, etwa von 1840, auszugehen haben, wobei man die damals herrschenden Preise beim Ankauf von Grundstücken und die Preise der Wohnungsmieten als normal annimmt.«
Wenn Gräfin Dohna also auch etwas freigebiger war als der »Große« Kurfürst, der bestenfalls den Ackerwert vergütete, so kann doch das Jahr 1840 als ein brauchbarer Ausgangspunkt angesehen werden, weil damals die vom preußischen Staat und seinen Nutznießern mittels einer unverantwortlichen Bauordnung und des schlechten Berliner Bebauungsplanes verursachten schwindelhaften Preissteigerungen noch nicht eingesetzt hatten. Im Anschluß hieran entwickelte Gräfin Dohna ausführlich eine Steuertheorie, die allerdings von »Historikern« wie Treitschke als »Expropriation« abgelehnt wurde, die sich aber wenig von dem unterschied, was schon 1869 Julius Faucher und was 1872 einer der auch amtlich geschätztesten deutschen Volkswirte, der Berliner Professor Adolf Wagner, unter Berufung auf seinen Vorgänger aus der »Freihandelsschule« gefordert hatte. Ihre Steuertheorie lief praktisch auf eine Besteuerung nach dem wirklichen Verkaufswert oder dem sogenannten gemeinen Wert des Bodens hinaus und mutete den Grundbesitzern weniger zu, als in den Staaten der amerikanischen Union gang und gäbe ist.
Das eigentümliche Werk der Gräfin Dohna enthält einen ausführlichen Plan für das Zusammenwirken von Staat, Gemeinde, Arbeiter- und Arbeitgeberverbänden sowie privaten und gemeinnützigen Vereinigungen. Die gleichzeitige Anwendung aller Mittel, Steuerreform, Boden-, Wohnungs- und Städtebaupolitik, erschien ihr erforderlich. »Nicht dringend genug kann wiederholt werden, daß halbe Maßnahmen heute die Großstädte nicht mehr retten, sondern daß man nach der Summe der Hilfen, die Gottes Hand darbietet, sich umschauen muß, und daß innere und äußere Hilfsmittel zusammenwirken sollen.« Sie forderte für die zersplitterten Verwaltungen der verschiedenen städtebaulichen Gebiete der Großstadt den Zusammenschluß zur einheitlichen und machtvollen Behörde, eine Forderung, die ähnlich in immer neuer Form wiederholt, aber bis auf den heutigen Tag nicht erfüllt wurde. Bis zum Weltkrieg hörte der bürgerliche Kleinkrieg nie ganz auf, den die verschiedenen Gemeinden Berlins, die Privat- und Staatsbahnen und die verschiedenen Ministerien des Staates mit ihrem großen Geländebesitz zum Schaden der städtebaulichen Entwicklung gegeneinander führten. Was Gräfin Dohna vorschwebte, hat etwa Lord Rosebery verwirklicht, als für Groß-London im Jahre 1888 mit dem Londoner Grafschaftsrat eine einheitliche Verwaltung geschaffen wurde. Der erste Vorsitzende, den sich der neue Rat wählte, war Lord Rosebery, einer der Führer der großen englischen Politik. Daß er als Kandidat für die Wahl zu diesem aufreibenden Amt auftrat, wurde allgemein als Beweis für seinen Gemeinsinn und für die überragende Bedeutung der neuen großstädtischen Aufgaben gewürdigt. Er war wiederholt Staatsminister gewesen, und seiner Leitung Groß-Londons folgte seine Herrschaft als englischer Premierminister. Zwanzig Jahre vorher hatte Gräfin Dohna geschrieben: »Sobald die Lebendigkeit und Energie, die heute im Auffassen und Betreiben materieller Interessen sich kundgibt, auch nur zum hundertsten Teil der Beseitigung sittlicher Notstände sich zuwenden wollte, alsdann würde die Aussicht auf ihre Bewältigung eine ganz andere sein als bis zur Stunde.«
Da dieser Antrieb fehlte, brauchte sogar der wachsame »Verein für Sozialpolitik«, der Stolz der deutschen Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts, zehn Jahre, bis er endlich Zeit fand, die furchtbare großstädtische Wohnungsnot zum Gegenstand seines besonderen Studiums zu machen. Im Jahre 1886 »veröffentlichte er auf Antrag seines Mitgliedes Dr. Miquel, des damaligen Oberbürgermeisters von Frankfurt am Main und späteren Finanzministers von Preußen, Gutachten und Berichte über »die Wohnungsnot der ärmeren Klassen in deutschen Großstädten und Vorschläge zu deren Abhilfe«. Miquel faßte die Ergebnisse seines Studiums der erschreckenden neuen Wohnungsstatistiken in die Worte: »Es hat sich herausgestellt, daß auch in Zeiten wirtschaftlicher Ruhe fast überall in den größeren Städten eine Art Wohnungsnot besteht.«
Gleichzeitig erließ der Gründer des »Vereins für Sozialpolitik«, der Berliner Universitätsprofessor Gustav Schmoller. seinen »Mahnruf in der Wohnungsfrage«. Darin heißt es: »Es ist das Eigentümliche der Lage, daß es weder an Häusern noch an reger Baulust fehlt, sondern nur an Wohnungen für die kleinen Leute und noch mehr an Wohnungen, die geeignet sind, ihr körperliches und sittliches Wohl zu fördern. Die Zustände sind so entsetzlich, daß man sich nur wundern muß, daß die Folgen nicht noch schlimmere geworden sind. Nur weil ein großer Teil dieser Armen bis jetzt einen Schatz guter Sitte, kirchlicher Überlieferung, anständiger Empfindungen aus früherer Zeit mit in diese Höhlen gebracht hat, ist das Äußerste noch nicht geschehen. Das Geschlecht von Kindern und jungen Leuten aber, das jetzt in diesen Löchern aufwächst, das muß mit Notwendigkeit alle Tugenden der Wirtschaftlichkeit, der Häuslichkeit, des Familienlebens, alle Achtung vor Recht und Eigentum, Anstand und Sitte verlieren. Wer keine ordentliche Wohnung hat, wer nur in der Schlafstelle schläft, der muß der Kneipe, dem Schnaps verfallen, er kann schon seine animalische Wärme nicht anders herstellen … Die heutige Gesellschaft nötigt die unteren Schichten des großstädtischen Fabrikproletariats durch die Wohnverhältnisse mit absoluter Notwendigkeit zum Zurücksinken auf ein Niveau der Barbarei und Brutalität, der Roheit und des Rowdytums, das unsere Vorfahren schon Jahrhunderte hinter sich hatten. Ich möchte behaupten, die größte Gefahr für unsere Kultur droht von hier aus … Die besitzenden Klassen müssen aus ihrem Schlummer aufgerüttelt werden; sie müssen endlich einsehen, daß, selbst wenn sie große Opfer bringen, dies nur eine mäßige, bescheidene Versicherungssumme ist, mit der sie sich schützen gegen die Epidemien und gegen die sozialen Revolutionen, die kommen müssen, wenn wir nicht aufhören, die unteren Klassen in unseren Großstädten durch ihre Wohnungsverhältnisse zu Barbaren, zu tierischem Dasein herunterzudrücken.«
Schmoller war also nicht davor zurückgeschreckt, die Berliner Wohnungsnot mit Worten zu kennzeichnen, die ebenso scharf und noch schärfer waren als die von Gräfin Dohna gebrauchten Worte. Treitschke hatte noch geglaubt, das Buch dieser Frau ebenso wie die gleichzeitigen Schriften Gustav Schmollers und anderer Kathedersozialisten als überspannt und gefährlich abtun zu können. Preußen aber und seine Regierung urteilten anders. In den achtziger Jahren wuchs Schmoller zum führenden Volkswirt Preußens heran; schon 1874 war er zum Mitglied des preußischen Staatsrates ernannt worden.
Welche Taten wurden durch Schmollers Worte ausgelöst? Oder waren seine Worte belanglos? Keineswegs. Als Bismarck sein Finanzprogramm auf Schutzzölle gründen wollte, hatte Schmoller ihre wissenschaftliche Rechtfertigung geliefert. Schmoller war nach Berlin berufen worden. Gleich nach Erscheinen seines »aufrüttelnden Mahnrufes zur Wohnungsfrage« wurde Schmoller zum amtlichen »Historiographen für brandenburgische Geschichte« ernannt. Dank seiner Forschungen wurde der vorher verspottete Ahnherr des herrschenden Kaisers, der halbverrückte »Soldatenkönig«, plötzlich als »das Fürstenideal ganz Europas« erkannt (Seite 89). Schmoller wurde Exzellenz. Nur Schmollers schärfste und dringlichste Forderungen zum preußischen Wohnungswesen beachtete kein Mensch. Aber Schmoller wurde geadelt. Schmoller war der führende Volkswirt der Wilhelminischen Zeit, die moralische Verpflichtungen nicht so ernst nahm wie Spielschulden (vgl. Seite 104). So blieb alles beim alten. Bei den »großen Opfern«, die Schmoller von den »besitzenden Klassen« gefordert hatte, war nichts zu verdienen gewesen.
Erst sehr viel später sollte Schmollers wichtigste praktische Forderung in Erfüllung gehen. Er hatte ähnlich wie vor ihm V. A. Huber, Faucher und Gräfin Dohna verlangt: »Wir müssen große Aktiengesellschaften ins Leben rufen, die in den Vorstädten Einzelhäuser für die Elite der Arbeiter, der kleinen Beamten, der Werkmeister bauen, aber nicht in erster Linie den Verkauf ins Auge fassen, die aber noch mehr beginnen, die eigentlichen Arbeiter- und Armenquartiere im Zentrum der Städte aufzukaufen, sie, soweit es nötig ist, umzubauen nach den englischen Vorbildern, soweit es aber geht, sie nur zu renovieren und in musterhafter Weise zu vermieten … Es gibt wenige gleich dringliche Aufgaben. Um der Verrohung unserer unteren Klassen, dem schnöden Wohnungswucher, den ungesunden Mietverhältnissen unserer großen Städte entgegenzuwirken, ist die Gründung großer humanitärer Vereine und Gesellschaften das einfachste und das am sichersten wirkende Mittel.« Schmoller hoffte, daß »im Verlauf von ein bis zwei Menschenaltern wenigstens 10 v. H. der Gebäude unserer Groß- und Fabrikstädte in solchen Besitz und in solche Verwaltung übergehen und damit ein Vorbild geschaffen wird, das auch auf die privaten Vermieter notwendig zurückwirkt«. Diese wichtigste praktische Forderung Schmollers scheint durch die Folgen des Weltkrieges, der Inflation und durch die Unmöglichkeit, heute anders als mit öffentlichem Geld zu bauen, allmählich erfüllt werden zu sollen. Die großen gemeinnützigen Baugesellschaften werden von vielen Freunden der Privatwirtschaft als bedauerliche Folgeerscheinungen des Krieges verwünscht. Sie stellen die Erfüllung von Forderungen dar, die nicht nur dem seherischen Wunsche V. A. Hubers entsprachen, sondern auch das reifste Ergebnis der amtlichen sozialpolitischen Studien der Vorkriegszeit waren.
In demselben Jahre 1887, in dem Schmoller die »soziale Revolution« ankündigte, hat die preußische Regierung die unerhört schlechte Berliner Bauordnung von 1853 wirklich »verbessert«. In Zukunft war es nicht mehr möglich, wie bisher ein gewöhnliches Berliner Grundstück von 20 mal 56 Metern mit 325 Menschen, sondern nur noch mit 167 Opfern preußischen Reglementierungseifers vollzupacken. Dazu bemerkten Paul Voigt (1900) und Rudolf Eberstadt (1920): »Diese neue Bauordnung hielt die königliche Regierung in Potsdam für so ideal, daß sie nichts Eiligeres zu tun hatte, als sie unter dem 24. Juni 1887 auf fast sämtliche Vororte auszudehnen, denen damit das System des Massenmietshauses von Obrigkeits wegen geradezu aufoktroyiert wurde. Selbst für die schönen Villenorte im Südwesten wurde die fünfstöckige Mietskaserne als angemessene Bauart erklärt.« Die alte »Villenkolonie« Westend hatte im Jahre 1885 120 Häuser, in denen durchschnittlich 6,5 Menschen wohnten. Nach Einführung der neuen staatlichen Bauordnung von 1887 wurden (bis 1890) in Westend nur 10 neue Häuser gebaut, die aber durchschnittlich mit 42 Menschen besetzt waren.
»Damals versuchte Charlottenburg für die Villenkolonie Westend die landhausmäßige Bebauung durch Ortsstatut einzuführen, wurde aber von der Regierung mit seinem Antrage abgewiesen. Ebenso erging es wenige Jahre später der Gemeinde Friedenau, die den Entwurf einer den Villenbau sichernden Bauordnung fertig ausgearbeitet der Aufsichtsbehörde unterbreitete – auch vergebens. Man wußte es am grünen Tische besser und gab den Vororten im Jahre 1887 einfach die Berliner Bauordnung, welche allenthalben den Bau fünfstöckiger Mietshäuser mit geschlossenen Höfen gestattete. Die von sachverständiger Seite ausgesprochenen Warnungen hatte man unberücksichtigt gelassen, und so geschah, was vorauszusehen war: der Bau der Berliner Mietskaserne wurde nun auch in den bisher davon verschont gebliebenen Vororten gewissermaßen mit Gewalt ins Leben gerufen. Selbst auf solche Orte, in denen Baugesellschaften die Errichtung von nur landhausmäßigen Häusern durch grundbuchliche Eintragungen sicherzustellen angestrebt hatten, wie die Villenkolonie Grunewald, Südende, Lichterfelde usw., wurde die Berliner Bauordnung ausgedehnt« (»National-Zeitung«, 27. Juli 1893).
Eines der Opfer der kgl. preußischen Zerstörungswut schilderte seine Leiden in einer Zuschrift an die »Berliner Vorort-Zeitung« (9. April 1893) folgendermaßen: »Mein Haus wurde erbaut, als an den Bau hoher Mietshäuser hier noch gar nicht gedacht wurde. Infolge der Übertragung der Berliner Baupolizeiordnung auf die Vororte begann auch hier der Bau hoher Mietshäuser, deren eins von vier Geschossen an meinem Garten errichtet wurde (in 6 m Entfernung, also mit Fensterrecht). Das Haus wird von sogenannten kleinen Leuten bewohnt. Diese Nachbarschaft macht mir und meiner Familie die Benutzung des Gartens oft unerträglich. Nicht nur, daß wir die Redensarten der in den Fenstern Liegenden über uns ergehen lassen müssen, haben uns auch die Schimpfworte der Kinder wiederholt aus dem Garten getrieben. Außerdem werden alle möglichen Gegenstände aus dem Fenster in meinen Garten herabgeworfen, als zerbrochenes Porzellan und Glas, mit Vorliebe Lampenzylinder, Knochen, Fleischreste, Lumpen, altes Schuhzeug etc. etc. Unter solchen Umständen blieb mir nur die Hoffnung, mein Grundstück gelegentlich zur Erbauung eines Mietshauses verkaufen zu können und dadurch meiner Familie dasselbe verwertbar zu machen.«
Aber auch diese Hoffnung glaubte die preußische Regierung ihren Opfern nehmen zu müssen. Im Jahre 1892 hatte sie endlich angefangen, die Berechtigung des nachgerade 50 Jahre alten Berliner Kampfes für Landhäuser zu begreifen, und erließ deswegen kurzerhand eine Bauordnung, mit der sie ihre früheren Sünden ungeschehen machen zu können glaubte. Unter der Herrschaft ihrer bis dahin geltenden Kasernenbauordnung waren in den 6 größten Berliner Landhausvororten (Südende, Steglitz, Friedenau, Schmargendorf, Westend, Grunewald) von 1885 bis 1890 nur 221 Landhäuser gebaut worden. In diesen 221 Häusern hatten 2232 Menschen, also weniger als der hundertste Teil des gleichzeitigen Großberliner Bevölkerungszuwachses, Platz gefunden. Die übrigen 99 v. H. waren in Mietskasernen gepackt worden. Nachdem also Groß-Berlins gesamter Bedarf an Villengelände in diesen fünf Jahren weniger als 100 Hektar gewesen war, glaubte die Regierung mit einem Federstrich 26 000 Hektar der Umgebung Berlins mit der »Bauordnung für die Vororte vom 5. Dezember 1892« belegen, d. h. zu Villengelände machen zu müssen. Plötzlich sah die Regierung keine rechtlichen Bedenken mehr gegen die Baubeschränkungen, die sie vorher abgelehnt und die sie durch ihre Verordnungen von Mietskasernen unmöglich gemacht hatte. Das amtliche »Centralblatt der Bauverwaltung« erklärte (14. Januar 1893): »Die gesetzliche Grundlage für diese Beschränkungen gewährt der § 6 des Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850. Nach diesem gehört mit zu den Gegenständen der ortspolizeilichen Vorschriften: die Fürsorge gegen Feuersgefahr und die Sorge für Leben und Gesundheit. Die durch die Verfassung gewährleistete Unverletzlichkeit des Eigentums versteht sich nur unter den in den Gesetzen gegebenen Einschränkungen … Es wird aber nicht wohl bezweifelt werden können, daß Bestimmungen über die Anlage von Bezirken mit offener Bauweise in den Großstädten insofern zu den Gegenständen der ortspolizeilichen Vorschriften gehören, als durch diese Bestimmungen die Förderung der öffentlichen Gesundheit erstrebt wird.«
Die Regierung hatte also nach eigenem Zugeständnis ihre pflichtmäßige Sorge für die öffentliche Gesundheit 42 Jahre lang versäumt. Diese plötzliche Sinneswendung der Regierung entsprach in vieler Hinsicht den alten Forderungen der Gräfin Dohna. Aber was sehr wohl möglich war, als eine verständige Frau es forderte, erwies sich zwanzig Jahre später, als die preußischen Beamtentolpatsche es endlich begriffen, als nicht mehr möglich. Von der städtebaulichen Geschicklichkeit, mit der die Regierung ihre neue Bauordnung ausgearbeitet hatte, lieferte die »Berliner Vorort-Zeitung« (21. Mai 1893) folgende Beispiele: »Mehrfach ist in der neuen Bauordnung festgesetzt, daß diese und jene Straße beiderseits in einer Tiefe von 40 m geschlossen, also mit Mietshäusern bebaut werden darf; hinter der 40-m-Linie hebt dann der Landhausbezirk an. Nun sind aber die Grundstücke in ihrer Mehrzahl über 40 m tief: meist dürfte die Tiefe zwischen 40 und 60 m betragen, so daß die Grundstücke an diesen Straßen mit ihrem vorderen Teile im Mietshausbezirk, mit dem Rest ihrer Tiefe dagegen im Villenbezirk liegen. Die neue Bauordnung gestattet für die erste Bauklasse Gebäudehöhen von 18 m (bis zum Hauptgesims), wodurch sich mit Einschluß des Daches durchweg eine Gesamthöhe der Mietshäuser von 20 bis 23 m ergeben wird. Villen werden dagegen bei zwei Geschossen meist nicht viel höher als 10 bis 13 m gebaut, werden also durchweg gegen 10 m niedriger sein als die Mietshäuser der ersten Bauklasse. Uns sind Fälle bekannt, wo nahe einer Villa nachträglich hohe Mietshäuser errichtet wurden und das Wohnen in der Villa aufgegeben werden mußte, weil – die Schornsteine in dem niedrigen Hause nicht mehr zogen.«
Ein besonderer Reiz der neuen Bauordnung war ihre Bestimmung, daß das Kellergeschoß der »Landhäuser« bis zu drei Viertel zu Wohnzwecken eingerichtet werden durfte. Da das alte Berlin vorher durch die Bauordnung von 1887 von Kellerwohnungen in Neubauten befreit worden war und da diese Berliner Bauordnung 1887 auch den Vororten aufoktroyiert worden war, führte also die neue Bauordnung von 1892 für die Vororte »auf dem Umweg über die herrschaftliche Villa die in Berlin mit Recht verbotene Kellerwohnung glücklich wieder ein« (»Vossische Zeitung«, 24. Dezember 1892). Die halb aus der Erde ragende Kellerwohnung vernichtet einen Hauptreiz des Landhauses, seine ebenerdige Verbindung zwischen Wohnraum und Garten.
Vor ihrem städtebaulichen Dilettantismus wußte die Regierung nur sich selbst zu schützen. Vorsorglich befreite sie die staatliche Domäne Dahlem von der neuen staatlichen Bauordnung. Die staatliche Domäne sollte zugunsten des staatlichen Fiskus als eine Mietskasernendomäne in den 26 000 Hektar, auf denen sonst nur Landhäuser gebaut werden durften, aufgespart werden. »Der Fiskus kann die Werterhöhung, welche der Domäne Dahlem durch die Baupolizeiordnung zuteil geworden ist, getrost nach Millionen schätzen« (»National-Zeitung«, 14. März 1894).
Der Teltower Landrat Stubenrauch hatte diese sehr wohlgemeinte, aber zu spät kommende und technisch verfehlte Bauordnung ohne Anhörung der Gemeindevertretungen beinahe heimlich vorbereitet und erlassen. Der Widerstand gegen diese Leistung der Regierung war so stark, daß die Bauordnung wenige Tage nach ihrem Erlaß einer »Nachprüfung« seitens der Regierung unterworfen, d. h. wieder aufgehoben werden mußte. Sie wurde dann im Jahre 1897 erheblich verschlechtert. Einen weiteren bedeutenden Rückschritt brachte die Bauordnung von 1903 und die von 1907, die auch das Tempelhofer Feld mit fünfgeschossiger Bauweise belegte und damit den großen Bodenschacher vorbereitete, mit dem das Kriegsministerium sich kurz vor dem Krieg den Unwillen aller Gutgesinnten zuzog.
Die verschiedenen Gemeinden Groß-Berlins, denen die Regierung zwar nicht die Anfertigung der Bauordnungen, wohl aber die Aufstellung der Straßenpläne überantwortet hatte, versuchten unter der Führung ihrer Grundbesitzerparlamente der städtebaulichen Torheit der Regierung nachzueifern. Der Erfolg blieb nicht aus: Als die Berliner Architektenschaft unter Leitung von Otto March, Heimann und Hermann Jansen für ihren Großberliner Wettbewerb von 1910 zum ersten Male eine Zusammenstellung aus den buntscheckigen Straßenplänen der Großberliner Gemeinden machten, schilderte Hermann Jansen, (der später mit einem ersten Preis in diesem Wettbewerb ausgezeichnet wurde) das Ergebnis folgendermaßen: »Allenthalben findet sich ein ganz unüberlegtes, schematisches Aneinandergliedern von Bebauungsplänen, von denen die meisten gar nicht kläglicher ausfallen konnten; es fehlt jede Rücksicht auf Örtlichkeit, Bahnlinien, überhaupt Kunst im Städtebau. Selbst beim Versagen all dieser Eigenschaften wäre es doch das Nächstliegende gewesen, wenigstens auf die Nachbarn Rücksicht zu nehmen, die eigenen Straßen mit jenen des Nachbars in Einklang zu bringen und für entsprechenden Durchgang der Hauptstraßen zu sorgen. Statt dessen ziehen sich die Hauptstraßen, mit dem Titel »Prachtstraße« dekoriert, von einem Ende der Gemeinde zum anderen und verlaufen dann tapfer im Sande oder in einer Nebenstraße. Von großzügigen Hauptverkehrslinien, wie sie der Millionenverkehr und der kommende Schnellverkehr einer Großstadt erfordern, ist nichts zu bemerken. Höhere gesundheitliche und ästhetische Grundsätze schieden erst recht bei diesem egoistischen Sondervorgehen aus; genügend große Teile für Erholungsplätze, Parkstraßen, Volksgärten freizulassen, lag natürlich ganz außerhalb des Interesses der Spekulanten, welche ein Maximum von Bauland herauszuschlachten als alleiniges Ziel erstrebten.«
In dem langen Kampf, den groß denkende Männer, wie Huber, Faucher, Bruch, Carstenn und viele andere hier nicht genannte, für das billige Kleinhaus auf billigem Boden gegen die große Mietskaserne auf teurem Boden gekämpft hatten, war die Mietskaserne siegreich geblieben. Unter der Leitung der preußischen Beamtenschaft und der ihr gleichwertigen, oben geschilderten Hausbesitzerparlamente gedieh die Wohnkaserne zur Befriedigung des deutschen Wohnbedürfnisses.
Wie urteilten Gebildete über den neuen Berliner Erfolg? »Der Inhalt der heutigen Stadtwohnung birgt eine Summe von Unkultur, wie sie in den Wohnungsverhältnissen der Menschheit noch nicht dagewesen ist.« Dieses Urteil über die Wohnungsform, die der preußische Staat seit den »Gründerjahren« der Stadt Berlin und allmählich den meisten deutschen Städten aufzuzwingen vermochte, stammt von dem Architekten Hermann Muthesius, der – zusammen mit Otto March und Paul Schultze-Naumburg – nach langjährigem Studium des englischen Hauses zu den vornehmsten Bahnbrechern neuer »Wohnkultur« in Deutschland gehörte und trotzdem als Geheimrat im preußischen Ministerium für Handel und öffentliche Arbeiten saß, seitdem dieses, zu spät, seine alten wohnungspolitischen Versäumnisse nachzuholen versuchte.
Julius Faucher hatte noch gehofft, daß die »gebildeten Klassen« Widerwillen gegen diese »Summe von Unkultur« verspüren würden. Der Kranz von Landhaus- und Gartenvorstädten, der Berlin vor 1870 zu umgeben anfing, schien Faucher recht zu geben. Nach dem Krieg von 1870 »verbreitete sich« dann, um mit Nietzsche zu sprechen, »der Irrtum, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampf gesiegt habe und deshalb mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Erfolgen gemäß seien«. Damals söhnten sich auch die »gebildeten Klassen« Deutschlands mit der Mietskaserne aus, die ihnen das siegreiche Berlin als die zeitgemäße großstädtische Wohnungsform bescherte. Statt Widerwillens gegen die Mietskaserne wurde (das Folgende sind wieder Worte von Muthesius) »überall der billigste Surrogatschwindel mit Behagen entfaltet. Es herrscht allein das Bestreben, dem Urteilslosen durch Prunk der Ausstattung zu imponieren. Die Etagenwohnung wird von den ungebildetsten Elementen des Volkes geliefert und von den gebildetsten hingenommen. Wäre nicht der deutsche Geschmack auf einen kaum zu unterbietenden Tiefstand gesunken, wäre nicht das Gefühl für die einfachsten Forderungen der Gediegenheit, für ruhigen Anstand und vornehme Zurückhaltung gänzlich untergraben, so müßte es für den Gebildeten ebenso unmöglich sein, in diesen Etagen zu wohnen, als er es abweisen würde, schlechtsitzende Kleider aus schäbigen Stoffen zu tragen, die äußerlich prätentiös aufgemacht sind. Die Forderung der Gediegenheit und geschmackvollen Zurückhaltung auch an die Wohnung und den Hausrat zu stellen, versagt der heutige Deutsche noch vollständig.« So schrieb Muthesius noch im Jahre 1907.
Auch was aus den Berliner Landhaus- und Gartenvorstädten geworden ist, auf deren heilende Wirkung Faucher und seine Freunde ihre Hoffnungen setzten, hat Muthesius geschildert. Er nannte die »deutsche Villa« eine »Ausgeburt der Lächerlichkeit«, denn »die vielfachen Unzuträglichkeiten der städtischen Etage sind gewohnheitsmäßig mit in das Landhaus geschleppt worden. Die verkrüppelten Vorrats- und Wirtschaftsräume, die dunklen Korridore, die Oberlichter, die wir im deutschen Landhaus vorfinden, sie alle leiten ihren Ursprung aus der Etage her, die darauf angelegt ist, durch Äußerlichkeiten zu imponieren. Zu diesen Äußerlichkeiten gehört die oft übertriebene Größe und Höhe der Wohnräume, das heißt vor allem derjenigen Räume, in denen der Mieter Besuche empfängt und die heute üblichen Monstregastmähler gibt. Diese Weiträumigkeit der Vorderzimmer ist aber durch einen Raub an den Wirtschafts-, Neben- und Schlafräumen erreicht … Daß im Landhaus die Forderungen des Mietshausbesitzers fallen können, ist im deutschen Villenbau noch keineswegs klar zum Ausdruck gekommen. Man hat noch nicht eingesehen, daß das Landhaus ein freies Wesen ist, das man anlegen und gestalten kann, wie man will … Statt dessen ist die Stellung der »Villa« auf dem Grundstück von vornherein dadurch gegeben, daß das Haus an der Straße liegt, so weit von dieser abgerückt, als die amtlich vorgeschriebene Vorgartenbreite beträgt; und selbstverständlich werden die Wohnräume an die Straßenfront gelegt. Liegt diese Straßenfront nach Norden, so wohnt man eben nach Norden, liegt sie westlich, so wohnt man westlich. An die Himmelsrichtung wird bei der ganzen Anlage überhaupt nicht gedacht.«
Zu dieser dummdreisten Bedürfnislosigkeit wurde der Berliner durch die staatlichen Bauordnungen für die »Villen«-Vororte gleichsam erzogen, denn diese Bauordnungen wurden von Beamten gemacht, die entweder selbst in einer Mietskaserne wohnten oder, in selteneren Fällen, sich zur »Ausgeburt der Lächerlichkeit einer deutschen Villa« aufgeschwungen hatten. Infolge von Vorschriften der staatlichen Baupolizei sind, so schrieb Muthesius, »in den landhausmäßig bebauten Bezirken um Berlin mindestens ein Viertel aller Wohnräume Kellerräume. Denn Kellerräume muß man auch schon solche Räume nennen, die 50 cm in die Erde versenkt sind; es ist eine bekannte Tatsache, daß der eigentümliche muffige Geruch – der beste Anzeiger für die ungesunde Luft – auch schon aus solchen Räumen nicht zu bannen ist.« Selbst wo das gelingt, behält Muthesius doch recht, wenn er fortfährt: »Gibt es etwas Verschrobeneres, als durch eine behördliche Maßregel die Kellerwohnungen der Stadt auf das Land zu übertragen, wo man vollauf Raum hat, sich über, statt unter der Erde ansässig zu machen? Man könnte einwenden, daß solche Räume ja nur gestattet, nicht zu bauen befohlen würden. Demgegenüber muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß das, was polizeilich erlaubt ist, auch gebaut wird.« Das trifft bei den überhohen Bodenpreisen Berlins unweigerlich zu. Muthesius fordert deshalb: »Trifft die Baupolizei überhaupt Bestimmungen über die Höhenlage der Räume, so hätte die erste die zu sein, daß in landhausmäßiger Bebauung Wohnräume, die mit ihrer Sohle unter der Erde liegen, nicht gestattet sind. Das wäre eine natürliche Vorschrift, die zur gesundheitlichen Förderung der Bewohner beitragen würde …«
Das unselige Bild der Berliner Landhausvororte, wie es sich vielfach noch heute im alten Geist weiterentwickelt, erklärt Muthesius weiter: »Zugeschnitten auf die Bautätigkeit eines in Großstädten (mit Mietskasernenbau) aufgeschlossenen Unternehmertums, dem das Bauen gewissenloser Gelderwerb ist, das so billig und schlecht konstruiert, als es nur eben möglich ist, und das für seine Handlungen infolge der eigentümlichen Praxis des Baustrohmannes nicht haftbar zu machen ist, bevormunden und kommandieren unsere Baugesetze auch im Einzelhausbau den Bauherrn in einer Weise, als wäre er ein rückfälliger Bauschwindler … Die für die Villenvororte von Berlin erlassene Vorschrift, daß die Aufbauten an den Fronten, (also hauptsächlich Giebel) nicht mehr als ein Drittel der Frontlänge des Hauses einnehmen dürfen, züchtet jene erbärmlichen kleinen Giebelchen auf den viereckigen Mauerkästen, die zu den alltäglichsten, aber traurigsten Eigentümlichkeiten des deutschen Vororthauses geworden sind. Für das Bild unserer Villenvororte wirkt auch höchst verhängnisvoll die Vorschrift der Bauwiche.« Diese Vorschrift zwingt dazu, die Häuser durch offene Zwischenräume (Bauwich) zu trennen, was dem Verbot von Reihenhäusern gleichkommt und also das unmöglich macht, was Schinkel in London jährlich zehntausendweise erstehen sah: »Drei und vier Fenster breite, aneinandergeschobene Privatwohnungen« (vgl. Seite 183). Muthesius fährt fort: »Unter gewissen Verhältnissen, das heißt für größere Häuser wird man gewiß nichts dagegen einzuwenden haben, daß jedes Haus einen eigenen Baublock bilden soll. Wenn es sich aber um kleinbürgerliche Häuschen handelt, die auf winzigen Bauplätzen von 18 bis 20 Meter Straßenseite stehen, so wird die Vorschrift des Bauwiches zu einer Lächerlichkeit … In konstruktiver Beziehung ist die 38 cm starke balkentragende Wand eine Materialverschwendung, die niemand Nutzen bringt … Mit der Entlastung von Mauerbögen durch eiserne Träger wird ein wahrer Unfug getrieben. Aber es ist erlaubt, daß man Klosettraum und Speisekammer, durch eine dünne Drahtputzwand getrennt, zu einem Raum vereinigt (in Berlin und den Vororten – so schauderhaft es auszudenken ist – die typische Anordnung).« Und hier sind es nicht die besitzenden Klassen, die Bewohner der »deutschen Villa« allein, die zu leiden hatten und vielfach auch heute noch leiden müssen, sondern, wie Muthesius an anderer Stelle ausführte, durch die übertriebenen hygienischen Vorschriften blieben »Tausende von Minderbemittelten, die sonst ein gesundes Eigenheim erwerben könnten, weiter darauf angewiesen, sich mit gemieteten Zimmern zu behelfen, deren gesundheitliche Verhältnisse oft die traurigsten sind. In dieser Beziehung sind zu hoch gespannte Anforderungen geradezu volksfeindlich.« Der »Volksfeind«, von dem Geheimrat Muthesius sprach, war der paragraphenwütige preußische Staat und seine verbildete Beamtenschaft.
Diese Warnung vor »zu hoch gespannten Anforderungen« trifft heute besonders die übertriebenen Forderungen an Breite, Tiefe und Höhe der Wohnräume und Treppen, die dem Berliner im Jahrhundert vor dem Krieg durch die schlechten staatlichen Bauordnungen angezüchtet wurden und die es ihm heute, obwohl die Bauordnung endlich verbessert wurde, unmöglich erscheinen lassen, sich mit ähnlichen Zimmergrößen zufriedenzugeben wie ein Holländer oder Engländer. Wenn man aus den anspruchslosen Wohnungen der Länder kommt, die im Weltkrieg als Neutrale oder Sieger weniger verloren als Deutschland, wirken die anspruchsvolleren deutschen Wohnungen geradezu aufreizend.
Die von Muthesius geschilderte eigenartige Form der Berliner Gartenvorstadt entwickelte sich am vollendetsten in der »Villenkolonie Grunewald«, von deren Ursprung im Zusammenhang mit dem Riesengeschäft beim Bau des Kurfürstendamms schon die Rede war. Der geschickte schottisch-deutsche Baumschulenbesitzer John Booth hatte 234 Hektar des Grunewaldes zu 1,20 Mark für den Quadratmeter erworben. Paul Voigt berichtet: »Der Selbstkostenpreis für den Quadratmeter nutzbaren Baulandes hatte sich, für die Kurfürstendamm-Gesellschaft, auf etwa 4 Mark (2 Mark für Grunderwerb, 2 Mark für Meliorationen) gestellt. Die Gesellschaft verkaufte ihrerseits den Quadratmeter anfänglich mit 8 Mark, später steigend, im allgemeinen mit 10 bis 17 Mark.« Dann kam die Entwicklung der Berliner »Mietvilla«, wie sie ähnlich auch in Nikolassee und anderen Berliner Vororten steht und die nur eine als Villa maskierte kleine Mietskaserne ist. Für Treppen und Aborte waren Lichtschachte von 4,75 × 5,30 m erlaubt. Bei derartiger Bodenausnutzung konnten die Preise für den Quadratmeter in der »Villenkolonie« Grunewald auf 50 bis 70 Mark im Jahre 1910 steigen. Der Berliner Privatdozent Paul Voigt, der zu früh verstorbene Lieblingsschüler Gustav von Schmollers, hatte dieser Entwicklung eine besondere Studie gewidmet und schilderte im Jahre 1900 die Verhältnisse in der führenden Berliner Gartenvorstadt folgendermaßen:
»In der Kolonie Grunewald spekuliert jetzt beinahe alles: es gibt hier kaum eine populärere Erwerbstätigkeit. Wenn auch gelegentlich in den Salons der Grunewaldvillen die theoretische Frage nach der ethischen Berechtigung der Terrainspekulation aufgeworfen wird, so steht doch ihre praktische Bejahung längst außer Zweifel. Der Terrainbesitz gilt als die solideste und einträglichste Sparkasse, der man seine Kapitalien zuführen kann. Angehörige aller Berufe haben eine größere oder kleinere Anzahl Baustellen zum Zweck gewinnreicher Wiederveräußerung erworben. Neben den erwerbs- und gewohnheitsmäßigen Spekulanten haben wir hier Amateurspekulanten in selten großer Zahl, die der Terrainspekulation im Grunewald ihr eigentümliches Gepräge verleihen. Neben verschiedenen Fabrikanten, Kaufleuten und Bankiers, einzelnen Handwerkern, zahlreichen Architekten und Ingenieuren, Maurern und Zimmermeistern finden wir hier Beamte der verschiedensten Rangklassen vom Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat bis zum Postsekretär und Hauptkassenbuchhalter. Ärzte und Apotheker sind ebenso wie Schriftsteller und Gelehrte, Universitätsprofessoren und Gymnasiallehrer vertreten. Auch Künstler, Maler und Bildhauer, Sänger und Sängerinnen und Schauspieler fehlen nicht. Sogar einige Pfarrer haben es nicht verschmäht, sich durch den Besitz mehrerer Baustellen die Sorge für den andern Tag in wirkungsvoller Weise zu erleichtern.«
Die hohen Spekulationsgewinne der Pastoren und Geheimen Räte erklärten sich zu einem wesentlichen Teil aus der Steuerhinterziehung, die einem Berliner vor dem Krieg gesetzlich erlaubt war, wenn er seinen Wohnort in einem der reicheren Vororte und besonders, wenn er ihn in der »Kolonie« Grunewald wählte. Einer der Berichterstatter auf der Generalversammlung des Vereines für Sozialpolitik 1911 stellte fest, daß der Besitzer eines bestimmten Vermögens bei einem Umzug z. B. aus dem alten Berlin nach »Kolonie« Grunewald eine Villa im Wert von mehreren 100 000 Mark infolge der geringeren Steuern, die er in Zukunft zu zahlen hat, sozusagen gratis erwerben kann.
Es war kein Wunder, daß die Nachfrage nach Grundbesitz im Grunewald kaufkräftig war und daß die Bodenpreise in der Gartenvorstadt mietskasernenmäßig emporschnellen konnten. Kein Wunder auch, daß sich die Reichen der Vororte, welche die Steuern hinterzogen, nach Kräften gegen die Vereinigung mit Berlin wehrten, wo nach ihrer Ansicht augenscheinlich nur die Ärmeren wohnen sollten, welche die höheren Steuern zahlen mußten, damit den reichen Vororten die begehrten Vorteile Berlins ohne Teilnahme an den Lasten bequem zugänglich seien.