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»Berlin ist mir behaglich durch Gewohnheit geworden.«
Bismarck, am 16. Juli 1894
Die tätige oder untätige Baupolitik großer Herrscher hinterläßt bleibende Spuren im steinernen Gesicht der Hauptstädte. Bismarck hat 28 Jahre lang geherrscht. Nachdem er die Schmollersche Unterstützung seiner Schutzzollpolitik ausgenutzt hatte, nahm er weder Anstoß noch Anteil, als Schmoller zum Kampf gegen die »größte Gefahr für unsere Kultur«, die Berliner Wohnungsnot, aufrief. Aber Bismarcks Sozialistengesetz bewirkte, wie bereits gezeigt, eine Schwächung der Baugenossenschaften und der wirtschaftlichen Selbsthilfe der Arbeiter. Bismarck hat einmal Deutschlands Mangel an Staatsmännern gerügt. Dazu hat er Deutschland eine Verfassung gegeben, die auf seine eigene Dauerbetätigung als Reichskanzler zugeschnitten war. Der von ihm gerügte Mangel an deutschen Staatsmännern und der entsprechende Mangel der deutschen Verfassung gestatteten es Bismarck nicht, gelegentlich aus der großen Politik auszuscheiden und die im englischen Staatsleben so oft bewährten Ferien zu nehmen, welche der politischen Gegenpartei erlauben, staatsmännische Talente zu entwickeln und zu zeigen, was sie besser und was sie schlechter machen kann.
Es ist eine reizvolle Frage, ob Bismarck, wenn er ähnlich wie Rosebery einmal die Verwaltung einer geeinten mächtigen Reichshauptstadt übernommen hätte, fähig gewesen wäre, sie vor dem sozialpolitischen und städtebautechnischen Durcheinander und vor der zersplitterten Kleinstädterei zu bewahren, in die Berlin immer schneller versank. Selbst nach seinem Sturz von 1890 war Bismarck noch kampflustig genug, daß er als politischer Leiter der Reichshauptstadt dort viel Versäumtes hätte nachholen und an der Spitze eines so machtvollen Gemeinwesens, wie die Hauptstadt es sein müßte, viel Schädliches für Stadt und Reich hätte verhindern können. In den Tagen nach seinem Sturz versicherte er immer wieder, »er fühle sich so gesund wie seit zehn Jahren nicht und habe sich darauf gefreut, dem Reichstag entgegenzutreten«.
Im Jahre 1872, in der Zeit höchster Berliner Wohnungsnot, hat Bismarck dem Oberbürgermeister Hobrecht bei seinem verständnisvollen Versuch großstädtischer Wohnungspolitik (durch Wiedereinführung der Erbpacht für Kleinwohnungen und durch Ausgestaltung des Verkehrswesens) nicht geholfen. Einige Jahre später aber ist es demselben Oberbürgermeister gelungen, Bismarck für die rechtzeitige Schaffung Groß-Berlins unter dem Namen »die Provinz Berlin« zu gewinnen. Die Notwendigkeit dazu war offenkundig. 1875 schied Berlin aus dem Kommunalverband der Provinz Brandenburg aus, und die neue Provinzialordnung versprach ein Gesetz für »die Bildung eines besonderen Kommunalverbandes aus der Haupt- und Residenzstadt Berlin und angrenzenden Gebieten«. Aber der Gesetzentwurf, den Bismarck dem Abgeordnetenhaus von 1877-78 vorlegen ließ, scheiterte an dem Widerstand der Konservativen. Da Bismarck damals gerade zur Schutzzollpolitik überging, wurden die Konservativen Regierungspartei und vermochten in diesem entscheidenden Augenblick die notwendige Entwicklung der Hauptstadt zu hintertreiben. Sie waren mächtig in den Landkreisen rings um das alte Klein-Berlin, dessen Vorteile und Bodenpreissteigerungen sie genießen wollten, ohne die damit verbundene Steuerpflicht zu teilen. Den Konservativen zuliebe mußte Bismarck seine Vorlage wieder zurückziehen. Bei einem Festmahl des gerade tagenden Teltower Kreistages wurde ein Spottlied gesungen, das ein Landrat verfaßt hatte und das mit den Worten begann: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist Herr Hobrecht mit seinem Kind.« Es schloß mit dem Freudenruf: »Die Provinz Berlin war mausetot.«
Mit diesem Lied wurde die dringend notwendige Einigung Groß-Berlins auf vier Jahrzehnte begraben. Nach Bismarcks Sturz hat unter der dann folgenden, vorübergehend sozialeren Regierung noch einmal »der Herr Minister des Inneren der Angelegenheit wegen Einverleibung der Berliner Vorortsgemeinden in die Stadt Berlin näher zu treten beabsichtigt«. So hieß es in dem Erlaß des Oberpräsidenten von Achenbach an den Berliner Magistrat (9. September 1891). Aber die bürgerliche Verwaltung Berlins war damals auf einem solchen Tiefstand angelangt, daß sie diesen Vorschlag nur im Licht kleinlichster Augenblicksvorteile zu sehen vermochte. Nach langem Hin und Her zwischen Stadtverordneten und Magistrat und zwischen Staat und Stadt beharrte der Berliner Magistrat bei seiner Ansicht, »soweit das Interesse der bestehenden Stadtgemeinde in Betracht komme, erscheine eine Einverleibung größerer Gebiete überhaupt nicht geboten« (30. Januar 1896). Unterdessen hatte auch die Regierung die sozialen Anwandlungen der ersten Herrscherjahre Wilhelms II. überwunden. Sie sah künftig in jeder Stärkung Berlins eine politische Gefahr. Der Berliner Verwaltungsbericht (veröffentlicht 1904) konnte deshalb berichten: »Die weit ausschauenden Verhandlungen über die Eingemeindung der angrenzenden Vororte … sind trotz des ungewöhnlich großen Aufwandes von Zeit und Arbeit gewissermaßen im Sande verlaufen … Rixdorf und Schöneberg erlangten schließlich die schon seit einer Reihe von Jahren begehrten Stadtrechte, und nur beiläufig … erfuhr man durch den Herrn Justizminister, daß der Plan einer Eingemeindung der Vororte nach Berlin endgültig aufgegeben sei.« Künftig wurden von der Regierung die Vorortgemeinden gegenüber der Stadt Berlin gestärkt und damit das Verwaltungsdurcheinander in Groß-Berlin systematisch vermehrt.
Schon unter den Augen Bismarcks hatte sich Berlins Verwaltung in das Durcheinander aufgelöst, »dem gegenüber« nach dem behutsamen Ausspruch des späteren Berliner Oberbürgermeisters Kirschner,»die Verhältnisse des seligen Römischen Reiches Deutscher Nation einfach und geregelt waren«. Bismarck hat kaum bemerkt, welche großen Schwierigkeiten hier gegen jeden Versuch pflichtgemäßer Wohnungspolitik künstlich aufgebaut wurden. Er scheint diese Schwierigkeiten nur aus dem Gesichtswinkel der Parteipolitik, seiner Zollpolitik und – so erstaunlich es klingen mag – seiner privaten Steuerrechnungen betrachtet zu haben.
Es wurde bereits geschildert (vgl. oben S. 247), daß Bismarck den großen Verkehrsproblemen der Stadt Berlin mit »kavalleristischen« Erinnerungen aus Paris gegenübertrat und damit noch wesentlich praktischer dachte als der Berliner Polizeipräsident und die Berliner Magistrate, die zur planmäßigen Lösung dieser Schwierigkeiten berufen waren, sie aber rücksichtslos vergrößerten und mit ihren Bebauungsplänen keine Rücksicht aufeinander oder auf die einfachsten Forderungen des Durchgangsverkehrs nahmen, von Park-, Spielplatz- und Freiflächen- oder gar Wohnungspolitik ganz zu schweigen.
Der schottisch-deutsche Baumschulenbesitzer John Booth, der bereits als der Erbauer des Kurfürstendamms und als der Unternehmer der »Villenkolonie« Grunewald geschildert wurde, war oft bei Bismarck zu Gast. Aus Booths ausführlichen Aufzeichnungen erfährt man, daß Bismarck am 19. März 1881 mit dem endlichen Fortschreiten des Kurfürstendammplanes zufrieden und »sehr aufgeräumt« war. »Die endliche Realisierung seiner vor acht Jahren in dem Gutachten vom 5. Februar 1873 ausgesprochenen Ideen war ihm willkommen.«
Aber es mußten noch große Schwierigkeiten überwunden werden. Zweieinhalb Jahre später schrieb Booth in sein Tagebuch: »Der Fürst erkundigte sich nach dem Kurfürstendamm, › ça marche?‹ Ich betonte die Schwierigkeiten, die mir der Dezernent der Potsdamer Regierung bereitete. ›Wissen Sie zufällig seinen Namen?‹ Ich nannte den Regierungsrat … ›Wie kann man von dem Träger dieses Namens etwas anderes erwarten?‹ sagte der Fürst und schloß daran einige Betrachtungen über die Schwierigkeiten, die er mit einzelnen Ministern gehabt habe.« Bei einer ähnlichen Gelegenheit erklärte Bismarck: »Bei uns wird es überhaupt nicht eher besser, bis nicht alle Geheimräte mit Stumpf und Stiel ausgerottet sind« (3. April 1879); oder: »Gewisse Minister sind ja doch nichts anderes und nichts besseres als Assessoren; sie glauben ihre Pflicht zu erfüllen und zu regieren, wenn sie jedem Aktenstück einen Zettel mit Nummer aufkleben« (26. Januar 1879).
Auch vier Jahre später war der Bau des Kurfürstendamms noch nicht beendet und aus der Villenkolonie Grunewald noch nichts geworden. Am 7. März 1887 besichtigte Bismarck die Arbeiten auf dem Kurfürstendamm. Booths Tagebuch berichtet: »Der Fürst erkundigte sich auf dem Weg nach Wilmersdorf nach der Entwicklung der Grunewaldkolonie, worauf ich ihm erwiderte, daß die politischen Störungen einen Pessimismus an der Börse hervorgerufen hätten und daß man noch nicht den Mut habe, das Optionsrecht auf das fiskalische Terrain auszuüben. Auf die Bemerkung Bismarcks: ›Bei Frankreich hängt alles davon ab, was Boulanger macht‹, erwiderte ich, daß man an der Börse namentlich über Rußlands Haltung besorgt sei, worauf der Fürst mit Sicherheit sagte: ›Nein, es droht nur von Frankreich, von Rußland haben wir nichts zu fürchten.‹ Der Fürst wollte augenscheinlich die Bedenken der Finanziers über die Opportunität eines aktiven Vorgehens in Sachen der Grunewaldkolonie beseitigen.«
Nachdem der Dreißigjährige und der Siebenjährige Krieg, die Napoleonischen Kriege und der Deutsch-Französische Krieg die Entwicklung Berlins schwer geschädigt hatten, scheint Bismarck endlich beschlossen zu haben, der Villenkolonie Grunewald zuliebe für Frieden zu sorgen, eine Aufmerksamkeit, welcher der Städtebau aller Länder in Zukunft in steigendem Maße bedarf. Vom 21. November 1887 berichtete John Booth aus Friedrichsruh: »Eine der ersten Fragen des Reichskanzlers war: ›Wie steht es mit dem Kurfürstendamm?‹ Ich erwiderte, daß unter der Leitung des Geheimrats Delbrück ein Konsortium in Bildung begriffen wäre und daß ich mit Bestimmtheit hoffe, die Sache käme zustande, um endlich aus den Händen des Fiskus herauszukommen. Nun sei aber durch die bedrohlichen Zustände an der russisch-österreichischen Grenze allen Interessenten angst geworden. Darauf sagte der Reichskanzler, dem es entschieden darauf ankam, die Bedenken bei mir und meinen Freunden zu zerstören, damit endlich der Kurfürstendamm in der Inangriffnahme des Grunewalds seinen Abschluß erhielte: ›Die Russen machen dort keinen Krieg – dafür komme ich auf‹, und bekräftigte diesen letzten Satz mit einem leisen Schlag auf den Tisch.«
Auch von Bismarcks letztem Besuch im Grunewald weiß John Booth zu berichten: »Am 25. März 1890 hatte ich das Glück, den eben aus seinen Ämtern geschiedenen Fürsten Bismarck bei dem letzten Besuch zu sprechen, den er dem Grunewald machte. Als der Altreichskanzler meiner ansichtig wurde, blieb er stehen und reichte mir die Hand. Darauf bemerkte der Fürst, zu der ihn begleitenden Dame gewendet: ›Hier kann ich Ihnen, gnädigste Frau Gräfin, den berufensten Zeugen meiner Tätigkeit im Grunewald vorstellen‹, worauf ich erwiderte: ›Was wäre wohl aus der Sache geworden, wenn Eure Durchlaucht nicht Ihre schützende Hand darüber gehalten hätten.‹ Der Fürst wollte dies aber in seiner Bescheidenheit nicht gelten lassen, und die Hand an die Mütze legend bemerkte er mit einer gewissen feierlichen Miene: ›Ich habe nur den Willen meines hohen Herrn ausgeführt.‹«
Schade, daß der »Wille seines hohen Herrn« die Aufmerksamkeit Bismarcks weniger auf die Arbeiterwohnviertel als auf die Villenkolonie Grunewald gelenkt hat. Bismarcks Haltung gegenüber der Wohnungsfrage des kleinen Mannes wird nicht angenehm beleuchtet durch eine Äußerung, die er am 4. Februar 1881 im preußischen Landtag tat, als er sich darüber ärgerte, daß die Erhöhung der Gebäudesteuer auch seine eigenen Güter betroffen hatte. Mit etwas eigentümlicher Logik erklärte Bismarck: »Wir Landwirte sollten ja eigentlich für landwirtschaftliche Gebäude keine Gebäudesteuer zahlen … Ja, die Wohnungen der Eigentümer – der Mann muß doch, wenn er sein Gut bewirtschaften will, ein Unterkommen haben –, das ist keine landwirtschaftliche Einrichtung, sondern wird behandelt wie ein Luxushaus in Berlin. Infolgedessen habe ich erlebt bei mir aus eigenster Erfahrung, daß meine Tagelöhnerhäuser, deren ich mehrere Hunderte besitze, plötzlich soundso viel mehr Miete bringen sollen, und da habe ich in ironischer Selbstbetrachtung als Minister erlebt, daß dieselben verfallenen Hütten mit denselben Strohdächern und ohne daß seit der letzten Einschätzung ich einen Dachsplitt gerührt habe, auch keine Fensterscheiben erneuert sind, plötzlich wegen des ›höheren‹ Wertes um den befohlenen Prozentsatz erhöht wurden.«
Sicher war Bismarck, gemessen an den Erwerbsmöglichkeiten, die einem Mann von seiner erstaunlichen Tatkraft offenstehen, ein sehr armer Mann. Immerhin durfte er in derselben Rede versichern: »Ich bin durch die Gnade des Königs so reich geworden, daß ich kleine Steuervorteile nicht nötig habe.« Jedenfalls erklärt Bismarcks Armut nicht seine jahrelange Versäumnis, die »verfallenen Hütten seiner Tagelöhner« auszubessern. Diese Versäumnis läßt vielmehr auf eine Geistesverfassung schließen, die stark an Treitschkes vorhin geschilderte politische Blindheit erinnert. Diese eigentümliche Blindheit machte es Bismarck auch unverständlich, warum seine Tagelöhner zusammen mit Hunderttausenden von ostelbischen Leidensgenossen nach Berlin flohen, wo nach Bismarcks Anschauung die Leiden der Arbeiter noch größer waren als auf dem Lande.
Im Reichstag erzählte Bismarck am 18. Mai 1889: »Ich habe Leute, welche, zuerst durch das Militärverhältnis veranlaßt, vorzogen, in dem Ort, wo sie gedient hatten, in Berlin, zu bleiben, und mir nachher mit starken Krankenhausrechnungen nach Hause kamen; und das zum zweiten Male. Da habe ich gefragt: Was ist denn das, was euch in Berlin so anzieht? Wohnung, Behandlung, alles ist kaum so gut wie zu Hause. Schließlich habe ich ausfindig gemacht: das einzige, was mir die Leute mit einem gewissen Erröten als durchschlagenden Grund sagten: Ja, so einen Ort, wo im Freien Musik ist und man im Freien sitzen und Bier trinken kann, ja den hat man in Varzin doch nicht.« Dieselbe Geschichte hatte Bismarck schon 1878 und 1879 im Reichstag erzählt.
Verständnisvoller als Bismarck hat Max Liebermann die Wohnungsnot des kleinen Mannes beurteilt. Er hörte einmal die oben angeführten Worte Schmollers über die großstädtische Wohnungsbarbarei: »Nur weil ein großer Teil dieser Armen bis jetzt einen Schatz guter Sitte, kirchlicher Überlieferung, anständiger Empfindungen aus früherer Zeit mit in diese Höhlen gebracht hat, ist das Äußerste noch nicht geschehen.« Max Liebermann antwortete: »Die Berliner Verhältnisse mögen schlimm sein, aber auf dem Lande sind sie oft noch schlimmer.« Er wollte nicht wie Bismarck daran glauben, die Bauern seien ganz unpraktisch und kämen nach Berlin nur, um dort »mit einem gewissen Erröten … im Freien Musik zu hören und Bier zu trinken«. Es sieht so aus, als wäre auf Bismarck der Vorwurf zutreffend gewesen, den er selbst 1883 (12. Februar) einem politischen Gegner machte: »Das zeigt nur, wie die reichen landwirtschaftlichen Erfahrungen, die der Herr ohne Zweifel früher … gesammelt hat, in dieser Wüste von Mauersteinen und Pflastersteinen und Zeitungen in Berlin vollständig verlorengegangen sind (Heiterkeit rechts). Er hat es vergessen, wie es auf dem Lande aussieht.«
Sogar wenn Bismarck zum Verteidiger des armen Mannes gegen die Wohnungsnot wurde, scheinen ihn vor allem tagespolitische oder gar persönliche Gründe geleitet zu haben. Im Reichstag erhob er am 2. April 1881 den Vorwurf: »Da hat man sich um den armen Mann gerissen wie um die Leiche des Patroklus (Heiterkeit). Herr Lasker hat ihn an dem einen Ende gefaßt, ich versuchte ihn ihm nach Möglichkeit zu entreißen.« Dieser Vorwurf der Popularitätshascherei traf am meisten Bismarck selbst. Aber Bismarcks schlagfertige Verteidigung des »armen Mannes« gegen die Berliner Wohnungsnot hat heute wieder großen Gegenwartswert. Nicht deshalb, weil sie Bismarck in seinen persönlichen Steuerangelegenheiten kleinlich erscheinen läßt – er wehrte sich lange und erbittert dagegen, Mietzinssteuer an die Stadt Berlin zahlen zu müssen –, sondern weil er schonungslos aufdeckte, welche Ungerechtigkeit die Mietsteuer für kleine Einkommen bedeutet.
Heute spielt die Miet- oder Hauszinssteuer, die der damaligen Mietsteuer nahe verwandt ist, eine große Rolle in Berlin und im ganzen Reich. In den Jahren 1926 und 1927 wurden in Berlin 300 und 338 Millionen Mark mittels Mietzinssteuer aufgebracht, wovon Berlin mehr als die Hälfte an den Staat abführte. Von diesem rasch wachsenden Steueraufkommen leistete jeder Berliner durchschnittlich beinahe hundert Mark. Es ist wichtig zu wissen, was Deutschlands größter Staatsmann über diese Steuer gedacht hat zu einer Zeit, in der sie noch sehr viel niedriger war als heute und jeden Kopf nur mit zehn Mark belastete.
Am 4. März 1881 erklärte Bismarck im Reichstag: »Meines Erachtens muß jeder politische Minister dahin wirken, daß die Mietsteuer überhaupt ganz abgeschafft werde. Die Mietsteuer ist eine der unvollkommensten, drückendsten, nach unten hin wachsende, sogenannte degressive Steuer, eine der unbilligsten, die überhaupt gefunden werden kann. Der Berliner Magistrat hat selbst erklärt: >Der Hauptvorwurf der Mietsteuer ist aus ihrer Unverhältnismäßigkeit zur Höhe des Einkommens herzuleiten. Nichtsdestoweniger aber erhebt er nach dieser Steuer 48 Prozent, also nahezu die Hälfte seiner gesamten städtischen Besteuerung … Ich halte diese Steuer um so mehr für reformbedürftig, als sie, wie ich schon erwähnte, den Armen ganz unverhältnismäßig höher trifft als den Reichen, und unter den Armen den Kinderreichen wieder höher als den Kinderlosen … Die Stadt Berlin erhob 1876 an Mietsteuer beinahe 10 Millionen Mark; sie hatte damals Einwohner nicht ganz 1 Million, man kann also sagen, sie nahm etwas über 10 Mark auf den Kopf.« Bismarck urteilte also genau wie die heutigen Kritiker der Hauszinssteuer, die gegenwärtig als ungerechte schwere Last nicht nur auf Berlin, wie zu Bismarcks Zeit, sondern auf dem ganzen deutschen Volke lastet. Als Oberregierungsrat Arnold Hoppe seine empfehlenswerte Schrift »Was soll aus der Hauszinssteuer (Aufwertungssteuer) werden?« veröffentlichte (1927), hätte er erwähnen können, daß – ganz ähnlich wie er oder schärfer – auch Bismarck diese Steuer verurteilt hat. Hoppe schrieb: »Wird der allgemeine Finanzbedarf nach dem Maßstab der Miete auf die Besteuerten umgelegt, so wird die minderbemittelte Bevölkerung, bei der von jeher die Miete einen größeren Anteil des Einkommens in Anspruch genommen hat als bei den wirtschaftlich günstiger Gestellten, vergleichsweise höher belastet, die kinderreiche Familie stärker für den allgemeinen Finanzbedarf herangezogen als die kinderlose, der Verheiratete höher besteuert als der Junggeselle. In der gegenwärtigen Gestalt darf die Aufwertungssteuer (Hauszinssteuer) keinesfalls für die Dauer in das deutsche Finanzsystem aufgenommen werden.«
Bismarck war derselben Meinung. Am 4. März 1881 erklärte er: »Es ist meines Erachtens eine der dringendsten Aufgaben der preußischen Regierung, mit allen Mitteln dahin zu wirken, daß dieser reformbedürftige Zustand in der Hauptstadt des Deutschen Reiches aufhöre, und ich glaube, sie wird damit auch wesentlich zur Befriedigung namentlich der großen Massen armer und mitunter erwerbsloser Leute beitragen, wenn sie diese bis in das Kleinste hinein treffende Steuer beseitigt. Der Schlafbursche muß seine Mietsteuer zahlen, nur ist der Hauptmieter, dessen Aftermieter er ist, genötigt, sie auszulegen … Also der Mann, der nichts weiter hat als die Schlafstelle, die er mietet … wird in Berlin, wenn er überhaupt ein Unterkommen haben will, zu dieser Steuer herangezogen; denn natürlich wird sie auf die Miete aufgeschlagen … Wenn der Herr Vorredner ferner zugunsten der Mietsteuer angeführt hat, sie bestände seit 1815, ja, dann ist man ganz erschreckt, daß diese ungeheure Summe von Ungerechtigkeit, die darin liegt, schon so lange dauert, und über die Geduld des ärmeren Volkes … Wenn das der Berliner seit 1815 ganz ruhig ertragen und nie eine Forderung gestellt hat, so muß ich annehmen, daß die Herren Stadtverordneten mit ganz anderen Fragen als den wirtschaftlichen Fragen ihrer Stadt beschäftigt gewesen sind und sich um das finanzielle Wohl der Einwohner der Stadt sehr wenig bekümmert haben seit 1815 … Ich muß überhaupt bei dieser Gelegenheit bemerken – und da wir genötigt sind, hier in Berlin zu tagen und zu wohnen, so ist die Bemerkung auch nicht unberechtigt –, daß mir das Finanzsystem dieser Stadt, die wir zu bewohnen gezwungen sind, im allerhöchsten Grade reformbedürftig erscheint und den Aufgaben, die einer so großen Verwaltung gestellt werden müssen, in keiner Weise entspricht … Es muß also, was früher der reiche Fremde zahlte, jetzt der arme Mann in Berlin und der kleine Beamte mit kümmerlichem Gehalt im Wege der Mietsteuer zum großen Teil aufbringen, lediglich wegen des Mangels an Geschick und Umsicht und des Mangels an Aufsicht seitens der Regierung über eine für das Gesamtwohl des Staates so erstaunlich wichtige Verwaltung, wie die finanzielle Verwaltung von Berlin ist … Ich möchte Sie auch bitten, mit Rücksicht auf den ärmeren Teil Ihrer Bevölkerung die Bestrebungen zu unterstützen, von denen die Reichsregierung im Bunde mit der preußischen geleitet ist, aus den Staats revenuen abgeben zu können an die Gemeinden, um ihnen tragen zu helfen einen großen Teil der Lasten, die ihrem Ursprung nach Staatslasten sind, die der Staat per fas et nefas auf die Gemeinden abgewälzt hat und für deren Leistung der Staat wenigstens die moralische Verpflichtung hat, erhebliche Zuschüsse zu machen.«
Bismarck war »erschreckt, daß diese ungeheure Summe von Ungerechtigkeit schon so lange dauert, und über die Geduld des ärmeren Volkes«. Es kann seinen Wünschen nur entsprechen, daß die Ursache seines Erschreckens, »die Geduld des ärmeren Volkes«, allmählich beseitigt wird.
Schade, daß Bismarcks überzeugende Ausführungen einen Teil seiner fast unglaublich langatmigen Verteidigung gegen seine persönliche Mietsteuerpflicht im Betrage von 746 Mark darstellen. Er hielt seine Rede vom 4. März 1881 nach eigenem Zugeständnis im eigentlichen Sinne des Wortes » pro domo«, d. h. für die Befreiung seines eigenen Hauses von der Mietsteuer. Sie gipfelte in den Worten: »Meine Überzeugung ist so unumstößlich fest, daß ich, solange ich lebe, ein Gegner der Mietsteuern bin und auf eine Reform der Berliner Stadtfinanzen dringen werde und auf den Schutz der Reichsbeamten auch nur vor der Vermutung einer Willkür.« Am 29. April 1881 machte er aufs neue in langer Rede seinem Groll darüber Luft, daß der Mietwert seiner Wohnung »von 15 000 auf 21 000 Mark heraufgeschoben wurde«. Sein redegewaltiger Gegner Richter hatte erklärt: »Was die Wohnung des Herrn Reichskanzlers betrifft …, so kann es ja allerdings auffallend erscheinen, daß hier gegenübersteht eine Mietwohnung im Wert von 20 000 Mark gegenüber einem Einkommen von 36 000 Mark Ministergehalt; aber ist der Reichskanzler wirklich einem Minister gleichzustellen? Nein! … Er hat mit Rücksicht auf ein Einkommen, das sich auf eine Viertelmillion Mark jährlich beläuft, nicht die Initiative dazu ergriffen oder Veranlassung dazu gegeben, sein Gehalt von 12 000 Talern zu erhöhen. Lägen nicht diese besonderen Verhältnisse vor, so würde man unzweifelhaft ein ganz anderes Gehalt für den Herrn Reichskanzler im Etat festsetzen müssen.«
Bismarcks erbitterte Antwort hat den Reiz unfreiwilliger Komik und gibt politisch unzufriedenen Leuten mit einer Viertelmillion Mark jährlichem Einkommen wertvolle Winke, wie sie, wenigstens für Steuerzwecke, mit einer Siebenzimmerwohnung auskommen können. Bismarck erklärte: »Ich mag nicht in den Händen meiner Gegner sein; dieses Gefühl verdirbt mir jedes Gefallen an und jedes Behagen in meiner Stellung, wenn ich mich für irgend etwas in den Händen meiner politischen Gegner finde, die bei mir Haussuchung halten können in Begleitung meiner Dienerschaft, während meiner Abwesenheit meine Sachen perlustrieren, sich dann ein Bild zu machen, als hätte ich 50 Privatzimmer, während ich das, was ich für meinen Privatgebrauch benutze, neulich wie auch heute auf 7 Zimmer angebe, und vielleicht noch einige leere, die ich nach Belieben ab und zu benutze, um Gäste unterzubringen … Ich bewohne viel weniger als ein Viertel des Hauses, welches so verbaut ist, daß die Treppen einen sehr unbilligen Raum einnehmen. Die Flügel sind eine nur einfache Kette schmaler Zimmer.« (vgl. Seite 100) … »Aber allerdings, ich habe vielleicht in dem Haus über 20 Dienerschaftszimmer vorgefunden, von denen stehen noch fünf bis sechs leer. Ich habe meistens verheiratete Leute, und gerade diese leeren Räume sind für die Leute die Verführung gewesen, zu heiraten, was für mich neue Belästigungen mit sich bringt (Heiterkeit). Aber ich habe nicht daran gedacht, diese Wohnungen dabei mitzurechnen, wenn ich sage, so viel habe ich zu meinem Privatgebrauch, und ich hätte jedenfalls eine viel weniger zahlreiche Dienerschaft, wie sie durch das Bewohnen eines so großen Hauses bedingt wird. Ich bin genötigt dieses anzuführen, sonst klingt es so, wenn man die wohlwollende Darstellung des Abgeordneten Richter gehört hat, als hätte ich über Sachen, die ich wissen muß, Falsches angeführt … Ich bitte also dringend, ändern Sie das Prinzip dieser Einrichtung, und ändern Sie das Prinzip dahin, daß das Gehalt die Grundlage der Besteuerung der Miete ist.«
Gemäß der preußischen Verfassung war die Stadt Berlin von den »fortschrittlichen« Besitzern der Mietskasernen beherrscht. Bismarck nannte sie den »Ring«. Sie verharrten bei ihrer rückständigen Mietsteuer. Der Berliner Oberbürgermeister verteidigte Berlin gegen Bismarcks »Vergleich der Berliner Stadtverwaltung mit dem berüchtigten New Yorker Verbrecherring« und erklärte wohl mit Recht, die Berliner »Mietsteuer wäre trotz ihrer Mängel noch lange nicht so schlecht wie die Zölle auf Lebensmittel und die Schlacht- und Mahlsteuer«, die Bismarck, der damals Schutzzöllner geworden war, als Allheilmittel predigte. Zur Rechtfertigung des anstößigen Wortes »Ring« machte Bismarck dem Oberbürgermeister den Vorwurf, den seitdem jeder Berliner Oberbürgermeister und neuerdings besonders Dr. Böß wieder zu hören bekam: »Ich halte den Herrn Oberbürgermeister nicht für so einflußreich in der Stadt Berlin, daß man ihn dafür verantwortlich machen könnte, ich glaube, daß auch er gegen den bestehenden Ring in keiner Weise aufkommen kann.«
Gleichsam als Rache dafür, daß die Stadt Berlin ihn Mietsteuer zahlen ließ, drohte Bismarck wiederholt mit »der Verlegung der Reichsregierung, vielleicht auch der preußischen, nach einem andern Orte wie Berlin … Die politischen Nachteile«, so fuhr Bismarck fort, »die mit den Tagungen verknüpft sind, bestehen nicht bloß in der äußerlichen Gefährdung der höchsten Behörden und des Reichstages, sondern noch mehr in dem Einfluß, welchen das Tagen an einem Ort von mehr als einer Million Bevölkerung, schließlich durch die Bequemlichkeit, hier zu wohnen, auf die Wahlen, also auf die Zusammensetzung des Reichstages übt, welche aufhört, die Zusammensetzung des Volkes richtig wiederzugeben … wir haben jetzt zu viel Berliner im Reichstag.« (29. April 1881).
Damals schrieb die »Deutsche Rundschau« (Bd. 17, S. 457): »Unter allen seltsamen Projekten des Fürsten Bismarck aus der letzten Zeit ist das neueste und seltsamste zumal sicherlich der Plan, Reichsregierung und Reichstag aus Berlin zu verlegen. Wie unendlich ist die Gewalt dieses einzigen Mannes geworden, wenn er vermag, das an und für sich fast Unglaubliche der öffentlichen Meinung insoweit aufzuzwingen, daß sie, ob auch kopfschüttelnd, zweifelnd, spottend, es zur allgemeinen Diskussion stellen und, so oder so, sich mit ihm abfinden muß.«
Indessen, die öffentliche Meinung hatte sich doch mit jenem Gedanken nur kurze Zeit zu beschäftigen. Denn schon im November desselben Jahres 1881 erhielt der neugewählte Reichstag den Antrag der Reichsregierung, die Errichtung des Reichstagsgebäudes auf dem Königsplatz zu beschließen. Schon 1882 ging der Frankfurter Architekt Paul Wallot als erster Preisträger aus dem Wettbewerb um den Plan eines Reichstagsgebäudes hervor. 1884 wurde mit der Ausführung begonnen. Der Bau, obgleich er erst 1894 vollendet und eingeweiht wurde, gehört also noch ganz unter die Herrschaft Bismarcks und ist ein genauer Ausdruck seiner Macht- und Kulturpolitik. Das darf nicht vergessen werden, wenn Wallots Reichstagsgebäude als der eigentliche Anfang der wilhelminischen Baukunst gerühmt oder getadelt wird und wenn man sich der treffenden Kritik erinnert, die darüber einmal der konservative alte Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, also kein Modernist, aber ein Künstler von Rang, gefällt hat. Hoffmann äußerte sich folgendermaßen über Wallots gepriesenes Werk: »Eigentlich ist alles falsch daran, alle Maßstäbe sind verkehrt. Wallot war ein vorzüglicher Zeichner; aber er ging beim Entwurf nicht von der Gesamtkomposition aus, die vor Beginn des Fassadenzeichnens im Geist des Künstlers vorhanden sein muß. Wallot ging vielmehr von der Zeichnung aus und ließ sich von ihren Reizen vergewaltigen. Sein ganzer Bau ist überdeckt mit gezeichneten Einzelheiten, die maßstäblich nicht zueinander passen. Das Ergebnis wirkt wie ein Leichenwagen erster Klasse.«
Bismarck war keineswegs blind für die Wertlosigkeit der Kunst, die auf den Mistbeeten seines Milliardensegens und der Berliner Bodenspekulation besonders üppig emporblühte. Ihre Schwächen erkannte er besonders klar im Ärger über den verhaßten Berliner Steuereinnehmer. Schon 1849 (18. Oktober) hatte er den Berlinern ihre »Vorliebe für oberflächliche und unsolide Eleganz« vorgeworfen. In seiner großen Steuerrede vom 4. März 1881 wetterte er über das Fassadenunwesen der Berliner Häuser. Gleichviel ob diese Blitze seinem eigenen Geist entzuckten oder ihm von einem geistvollen Mitarbeiter geliefert wurden (wer könnte es gewesen sein?), diese Blitze trafen und treffen bis in unsere Zeit. Es ist zu bedauern, daß die Berliner Architekten der folgenden vierzig Jahre sich Bismarcks Winke nicht sehr viel mehr zu Herzen genommen haben. Was er zu sagen hatte, klingt wie eine Brandmarkung der gesamten wilhelminischen Baukunst, ihrer öffentlichen Bauten und besonders der anspruchsvollen Aufmachung der Berliner Mietskasernen. Was Bismarck sagte, trifft leider noch heute zu, solange sich Berliner Bauherren durch vertikale oder horizontale Fassadenmoden terrorisieren lassen.
Bismarck knüpfte an die Worte seines Vorredners an, der gesagt hatte: »In der Regel wird das öffentliche Gebäude nicht, wie es sein müßte, von innen heraus, sondern von außen herein konstruiert, d. h. es wird eine Fassade entworfen, die sich möglichst geltend zu machen sucht, und nach dieser Fassade muß der Mann, welcher innen wohnt, sich so gut, als es eben gehen will, richten.« Bismarck sagte: »Mit dem Wort ›Fassade‹ traf der Herr Vorredner gerade den richtigen Punkt; es wird hier, wie er sagt, von außen hinein gebaut auf das Aussehen. Und nächst der Fassade ist es die kolossale Treppe, lebensgefährlich und ohne Geländer; ich erinnere nur an das Bankgebäude, an das Auswärtige Amt, wo die Treppe einen kolossal großen Raum einnimmt und den Wohnraum außerordentlich einschränkt. Das dritte Erfordernis für Baubeamte sind die Prunksäle, die für Vermögen und Gehälter berechnet sind, die wir bei uns gar nicht haben, Säle, die im Gebäude einen großen Teil der häuslichen Bequemlichkeit und des Bureauraumes wegnehmen. Ich erinnere namentlich an das Gebäude in der Voßstraße für das Reichsjustizamt und an unser jetziges Handelsministerium. Ja, die Säle, die da sind, sind ohne jedes Judicium in bezug auf die Gehaltbeirätigkeit der Bewohner angelegt, sie stehen leer, und der Nutznießer ist in Verlegenheit, wie er sie möblieren und benutzen soll, er gibt sie zu Wohltätigkeitsausstellungen her; deshalb werden sie aber doch nach ihrem objektiven Wert zur Mietsteuer angesetzt; ob er diese riesigen Korridore und Prunksäle benutzen kann, danach wird von Seiten der Stadtbehörde nicht gefragt. Wieviel nutzloser, wieviel toter Raum in dem Haus ist, das wissen die Herren nicht, sie kommen ja nicht in die Häuser hinein, wenn sie taxieren.« So war Bismarck wieder bei seinem Thema, daß er zu viel Mietsteuer zahlen müsse, gelandet.
Nachdem Wilhelm II. dem eisernen Kanzler verspätete Gelegenheit gegeben hatte, von den Berliner Streitigkeiten Ferien zu nehmen, wurde Bismarcks Herz milder für Berlin gestimmt.
Am 29. März 1894 erzählte Bismarck seinen rheinländischen Gästen sehr behaglich aus der alten Zeit: »1847 bei dem vereinigten Landtag und später bei größerer Leichtigkeit des Verkehrs kamen mehr Rheinländer als früher nach Osten und sahen mit einem gewissen Erstaunen, daß wir so wild und unzivilisiert nicht waren, wie man ihnen zu Hause erzählt hatte … Ich erinnere mich, daß ich mit einem Abgeordneten aus dem Trierschen Lande, einem alten, würdigen Herrn, auf das Schloßdach in Berlin gestiegen war, von wo wir Aussicht auf die im Bau begriffenen Werderschen Mühlen hatten, die im alten Burgstil, wie er damals vom König gepflegt wurde, aufgeführt wurden. ›Das wird nun auch wieder so ein Zwing-Uri‹, sagte mein Begleiter. – ›Wieso?‹ – ›Ja, sehen Sie nicht: Bastionen, Türme, Laufbrücken, doch natürlich, um Kanonen oben aufzupflanzen und Verteidigung gegen Volksaufstände vorzubereiten.‹ – ›Aber das sind ja Mühlen, und der König baut rein künstlerisch nach diesem Stil.‹ Er blieb dabei, es sei ein Zwing-Uri.«
Es sieht nicht so aus, als ob Bismarck für den lächerlichen »Burgstil« Friedrich Wilhelms IV. und Schinkels denselben Spott gehabt hätte, mit dem er in seiner Reichstagsrede von 1881 den ebenso lächerlichen Palaststil der »Gründerjahre« traf. Noch weniger scheinen ihn die verdienten Gewissensbisse bei der Erinnerung an das spätere Schicksal der »Burgstil«-Mühlen und des Mühlendamms geplagt zu haben. Diese Mühlen auf der ältesten Übergangsstelle über die Spree standen auf dem Stück Berliner Boden, das recht eigentlich als der Ausgangspunkt der gesamten Berliner Entwicklung bezeichnet werden kann. Die Bauten auf dieser geschichtlich bedeutsamen Stelle versperren den Blick flußaufwärts und -abwärts. Die Spree gibt große Möglichkeiten zur Verschönerung Berlins, die noch längst nicht genügend ausgenützt sind. Durch eine unverzeihliche Spekulation hat die preußische Regierung unter Bismarck diese Verschönerung verhindert. Die Spree ist bis heute ein Aschenbrödel geblieben, aus dem endlich ein Retter die Königin Berlins machen wird. Bismarck ist dieser Retter nicht geworden. Auch die für das Jahr 1930 geplante Neuordnung der Berliner Schleusen scheint den innerstädtischen Dampferverkehr, der eine der großen Annehmlichkeiten von Paris war, nicht ermöglichen zu sollen.
An dem Schicksal der abbruchreifen »Burgstil«-Mühlen Friedrich Wilhelms IV. übte der scharfblickende August Orth im Jahre 1873 treffend Kritik, die auch den damals mächtigen Bismarck traf. Orth schrieb: »Besonders nachteilig für die Entwicklung Berlins ist der großenteils planlos erfolgende Verkauf fiskalischer Grundstücke, der eine einheitliche Regulierung und Reorganisation der Stadt fortwährend mehr erschwert und fortwährend die Kosten derselben steigert. So sind neuerdings wieder die Königlichen Mühlen am Mühlendamm in Privatbesitz übergegangen, und doch würden beide auf eine Regulierung der Stadt von großem Einfluß sein können. Dieselben hätten nie in Privatbesitz übergehen dürfen, sind außerdem für eine Straßenregulierung an dieser Stelle unentbehrlich. Es läßt sich die Notwendigkeit der Wiedererwerbung im Interesse der Spreeregulierung voraussehen … Der Staat hat durch seine Gesetzgebung so lange die Entwicklung großer Städte zurückgehalten, daß er dieselbe auf diese Weise für Berlin nicht hätte schädigen sollen.«
Die Stadt hatte im Vertrauen auf die Unveräußerlichkeit dieses staatlichen Grundstücks über einem öffentlichen Wasserlauf den Ankauf abgelehnt. Sie mußte es zu hohen Preisen von privaten Spekulanten zurückerwerben, die genauso gut wie der Staat gewußt hatten, daß das Grundstück für die Spreeregulierung unentbehrlich war. Diese im Durcheinander der staatlichen und städtischen Verwaltungen Berlins ebenso häufige wie schädliche Posse hatte ein tragikomisches Nachspiel. Durch den hohen Preis, den die Stadt für das kritische Grundstück auf dem Mühlendamm gezahlt hatte, hielt sie sich zur baulichen Ausnutzung verpflichtet, und sie errichtete zu Anfang der Regierung Wilhelms II. die häßlichen Verwaltungsgebäude, die den lächerlichen »Burgstil« Friedrich Wilhelms IV. wieder getreulich nachahmen. Von diesen noch heute stehenden Neubauten sagte 1898 ein Gutachten der königlichen Akademie des Bauwesens, daß sie »in beklagenswerter Weise den Blick in beide Richtungen des Spreelaufes versperren«. Wilhelm II., dessen Aussicht vom Schloß sehr unter den städtischen Neubauten litt. hat damals, so wird glaubhaft berichtet, den treffenden Ausspruch getan: »Jetzt haben wir mal glücklich in Berlin einen freien Durchblick, da bauen sie mir gleich wieder eine Brauerei vor die Nase!« Es ist sehr zu hoffen, daß mit dieser »Brauerei« endlich ein besonders häßliches Denkmal der planlosen Kreuz-und-Quer-Regiererei verschwindet, die Berlins Entwicklung unter den Hohenzollern und gerade auch unter Bismarck und Wilhelm II. geschädigt hat.
Aus der Antwort, die Bismarck am 16. Juli 1894 auf den Gruß der Berliner Geschichtsstudenten gab, sprach schließlich eine verklärte Milde, ja eine Liebe für Berlin. Sie hätte ein würdiges Verhältnis zwischen einem großen Mann und der Hauptstadt seines Landes dargestellt, wenn sie auch tätig und fruchtbar geworden wäre, was ihr leider im tatenreichen Leben Bismarcks fast nie beschert war. Damals sprach Bismarck die denkwürdigen Worte: »Ich war sechs Jahre alt, als ich zuerst nach Berlin kam. Alle Örtlichkeiten, die ich hier wiedersehe, sind für mich Repräsentanten meiner Vergangenheit. Hier wurde ich als Schuljunge spazieren geführt, hier habe ich als Student, als Referendar, als Minister gelebt. Und gegenwärtig kann ich mir sagen, daß ich immer gern in Berlin gewesen bin, obschon ich auf dem Lande groß geworden bin und im Landleben Wurzel geschlagen habe. Aber Berlin ist mir behaglich durch Gewohnheit geworden. Ich kenne es schon aus der Zeit, als es noch keine Trottoirs gab und man noch auf spitzen Steinen gehen mußte. Damals gab es auf der Friedrichstraße zwischen Behren- und Kochstraße noch keinen einzigen Laden. Ich habe in Berlin 1836 und 1837 so genau Bescheid gewußt, daß ich hätte Droschkenkutscher werden können, was jetzt freilich nicht mehr geht (große Heiterkeit). Berlin ist mir jetzt über den Kopf gewachsen, wirtschaftlich und politisch. Politisch bin ich ja vielleicht in manchen Beziehungen mit der Mehrheit der Berliner auseinander gekommen, aber mein Heimatgefühl für Berlin und seine Umgebung ist immer dasselbe geblieben. Ich bin ein alter Kurbrandenburger. Und unsere Stadt Berlin, der Sie, meine Herren Studierenden, vorübergehend als Berliner angehören, der ich den größten Teil meines Lebens als Bürger angehörte, sie mag werden, wie sie will – ich wünsche ihr Gedeihen und Wohlergehen. Sie lebe hoch!«
So fand Bismarck in seinem Alter noch Worte für Berlin, die ebenso schön und für einen Deutschen noch ergreifender sind als Goethes Worte an Rom:
Straßen, redet ein Wort! Genius, regst du dich nicht?
Ja, es ist alles beseelt in deinen heiligen Mauern.
Wie anders sähe Berlin heute aus, wenn Bismarcks »Heimatgefühl für Berlin und seine Umgebung« früher erwacht und in mächtigen städtebaulichen Taten zum Ausdruck gekommen wäre!