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54

Da Kai sein Gesicht zum Himmel erhob, wo zwischen dem hastigen Zug wattiger Wolkentiere spärliche Sterne blitzten, schien es ihm, als habe er etwas vergessen. Doch schon dachte er dessen nicht mehr, fühlte nur strudelnd singenden Druck von Wind an Hüfte und Schulter, und jener dort, der Flüchtige, blieb ungerufen. Mochte er gehen! Die Wärme, die dieser begehrte, lag Kai nicht an. Auch nicht das Mädchen, das neben diesem Lebensdrallen kleine Rührungen in der Seele aufgehen ließ bei Liedern, zu schmissig und dann wieder zu süß gesungenen.

Doch fuhr die Hand zur Brust, hautgewärmtes Briefblatt gab Laut. »Diese Sätze – spottete ich ihrer? Verzeih, oh, verzeih! Sieh doch, hier wandere ich durch Nacht und das Eisige, wenn schon dein Ruf zur Wärme erklang. Du meinst, ich zürne? Jener Abend wuchs längst zu. Doch ...«

Er lauschte: eine Stimme schien zu flüstern; unwillig wies seine Hand sie ins Dunkle zurück. »Ich sollte verachten? Ihre laue Liebe? Ihren Mangel an Wärme? Aber bin denn nicht ich es, der, über sich gebeugt, hockend nur stets, zages Gefüge eigenen Seins betastet, statt aufjauchzend und selbstvergessen in ihrer Brust zu münden?! Nicht ich allein schuldig, Ängstler vor Lebfrischem?«

Er ging. Plötzlich war Singen da, und lange stand er geneigt am Pfahl, in dessen weißen Köpfen, droben nur geahnten, Melodie vieler Stimmen klang. »Ich liebe dich, wohl liebe ich dich! Gehst du je von mir? Hockt nicht dein Kinn, Nestvogel gleich, auf meiner Schulter, grüßt mich dein Auge nicht, wenn schon dein Antlitz in raschem Wenden fensterwärts fortglitt? Und drückte dein Finger nicht schneller als meiner die Klingel: schrillender Klang nur für mich allein, da niemand kam? Ewige Gefährtin!«

Er sah um sich: dort im Schatten der Baumgruppe konnte sie sein, seinen Spuren im Hohlweg gesellte sich vielleicht nur ihr Fuß, oder sie lauschte, an die Schneewange der Böschung gelehnt, seinen Klagen, die ihrem phantastischen Schatten Blut in die Adern zu zaubern sehnten. »Komm näher, du! Zeige dich mir! Entschleiere die Augen, schmiege die Flächen der Hände um meine Wangen und laß uns so die innigere Welt beschwören, die stets in unsern Worten zerrann.«

Er lauschte.

»Du kommst nicht? Entschwindest wieder, da mein Lockruf klingt, und läßt es genug sein mit dem betäubenden Duft entzündeten Blutes? Wieder wie gestern nacht nur die Ahnung deines Atems auf der Wange, die Ahnung deines Kopfes neben dem meinen auf dunklem Kissen, und im Umwerfen, im Zugriff der Arme, streichelsüchtig nach dir –: Entschwinden, Leugnung, beinahe Hohn? Körperlose du, Blutpeitsche, – ewig da, immer entflohen!«

Seine Hände wühlten im Schnee, schoben ihn fort, und nun, über die erstarrte Erde gewölbt, ahnten sie Fleisch, hofften Erwärmung, sehnten schwellenden Gegendruck: die Scholle blieb taub, umsonst sein Rufen: »Erwärme dich doch! Brich auf, Brust! Einmal brich auf!« Sie blieb taub, daß er endlich die Hand löste, die verklammte, und den schmerzenden Rücken zu Gradheit zwang, in ermüdetem Klagen: »Du willst nicht? Nur zum Verlocken kommst du?«

Vor sich sehend, sprach er, da die Wolle der Taschen das Eis unterm Nagel filzig verschmierte: »Ach! ich weiß wohl: du bist diese nicht, die meine Nächte erfüllt. Auch dein Gesicht schuf jener zu verführender Maske, der mein Feind ward, unbegreiflich wie und warum. Ferne stehst du und abseits – und jene Nacht, deren Frevel mich wie einen Pfeil in diese eisige Öde schoß, tilgte den Kai, den der zu Asche flatternde Zettel meinte und den diese Briefe suchen, deren süße und beinahe ein wenig tauben Worte nicht Rückkunft, sondern strengeres Exil noch predigen.«

Er schüttelte es ab, sah um sich, ahnte unter blasser Röte die Stadt. Und da er den Heimweg überdachte, schien kaum noch glaubhaft inmitten dieser namenlosen, windzerschnittenen Öde: Dehnen erleuchteter Straßen, Rückfall von Friesvorhängen in durchwärmten Cafés, Kleiderwinken und das duftende Kielwasser von Frauen, das die Wangen hitzte und Augen sich schließen ließ. Kaum glaubhaft, – wie je zu erreichen aus dem eisigen Dunkel verlassener Breiten hier, da die Schuhe durchnäßt, die Finger verklammt und der Weg so sehr weit?

»Ich bin so müde, ich kehre um ...«

Er kehrte um. Hüstelnd, vornüber gehängt schob er sich heim, schurrte im Schnee, trottelnden Kopfes –: Alter bereits, Greis gar, da der Lockerung der Glieder Trost zu entwachsen schien, Hoffnung auf Ende –: »Ende. Sehr alt schon, gewiß. Abschiedsbeflissen. Was noch zu wünschen?«

Aber da fand er's, da und dort eingeklemmt ein Wünschen, um dieses, um jenes; Straffheit kam und die Frage, ob nicht so viel Eifer im Kampf, so weiter Weg im Schnee zu belohnen?

»O gewiß! Ich schenke mir etwas ... Erlaubnis, ihr Haus zu passieren. In die Dämmerung eines Torwegs gedrängt, werde ich meinen Augen den Stern ihrer Fenster leuchten lassen, und es mag sein, daß den Vorhang streifend ihr Schatten mir erscheint, wahrer als jene Gespenster, die, auf meine Schulter gelehnt, unverständliche Worte lockend in mein Ohr flüstern.«

Sein Schritt schwang. »Ja, ja, ihr Fenster! Ihre Nähe! Und vielleicht kommt sie ... Aber nein, ein andres, jener Laden mit den Bildern ...« Er träumte. »Ja, also nicht ihr Fenster, der Laden: die Bilder der Frauen; Liebesszenen; Photographien; erträumte Gestalten, kaum verhüllte; Brust; Achselhöhlen, beflaumte; krampfig verschlungene Glieder; Wölbungen – oh, warum war ich nicht früher dort! Warum habe ich mich nicht vollgetrunken mit diesen Bildern, mein Hirn zum Überquellen gestopft mit diesem nackten Fleisch! Ich werde da sein, heute noch! Schneller! Schneller! Ich werde das heute Gesehene legen zu früher Erhaschtem: dem von der Bonne am Baum abgehaltenen Kind; den sich hetzenden Hunden; dem schlanken Bein, das sich vom Trittbrett der Bahn herab des deckenden Rockes entblößt! So viel Süßigkeit!«

Er strauchelte, fiel. Kies prellte die Knie, zwischen den Zähnen knirschte erdig eisiger Schnee. »Wo bin ich? Wieder verlockt! In Wind und Kälte, die Beine in äußerster Ermattung bebend, findet jener doch Kräfte genug in mir, Nahrung seiner Lockungen zu sein. Aber ich will nicht! Ich will siegen! Nicht umsonst dieser Kampf, dies Gewanke durch Eis! Helft mir! Laßt mich nicht allein! Menschen!! Menschen!! Freund, mir die Hand, Wärme, Zuspruch! – Dort, es flattert, es kommt näher, Fleisch quillt – nein! Nein! Hilfe! Menschen!«

Der Atem zuckte, sein Arm zerschlug die Luft in scherbiges Glas, indes sein Blick quoll. »Dort, ich sehe sie. Nein, geh fort! Sie bückt sich, ah! Sie hebt den Rock, die Elende, fort!«

Er sah sich umstellt. Er floh. Geheimnisvolle Schatten winkten im Wind; rätselhafte Gebärden drohten und lockten; eine Ackerscholle, die sein Schuh trat, schien fleischig zu erweichen, lustvoll seinen Fuß zu umquellen –.

Er durchbrach ihre Kette. Die Weite einer unbekannten Ebene dehnte sich vor ihm, nahm ihn auf, den Elenden; und fernen Hügelzügen zu entfloh er den Geistern, deren samtige Stimmen der Wind noch lang über sein Ohr strich.


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