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11

Staatsrat Goedeschal, noch im Bett liegend, drehte sich zum Waschtisch um, an dem seine Frau stand, und sagte, indem er auf die Zimmerdecke wies: »Er ist schon wieder auf. Halb Sieben. Jeden Morgen früher. Das geht nicht, der Junge braucht seinen Schlaf.«

Sie, das Gesicht über die Waschschüssel gesenkt, antwortete nicht.

»Wenn er um Viertel acht aufsteht, kommt er zeitig genug zur Schule. Hast du ihn gefragt, was er so früh schon treibt, Margrit?«

Sie schwieg. Dann, das von Wasser überströmte Gesicht ihm zukehrend: »Er sagt, er kann morgens am besten arbeiten.«

Das Gehen der Schritte oben wurde lauter. Kai hatte wohl seine Schuhe angezogen.

»Er arbeitet! Das ist etwas anderes. Ich glaube mich zu entsinnen, als junger Mensch lernt ich auch morgens am besten.«

Sie wandte ein: »Wenn er aber abends auch so lange arbeitet. Gestern mit Arne ...«

Er hörte nicht darauf. »Das ist recht. Das freut mich, daß er selbständig zu dem Entschluß gekommen ist. Selbständigkeit ist Hauptsache. Und überrascht mich eigentlich bei ihm. Er ist sonst so unfertig, kindlich. Immerhin – wir wollen ihn deswegen nicht mehr behelligen. Ernst werden! Die Wichtigkeit der Pflichterfüllung erkennen! Das ist ein großer Schritt vorwärts!«

Frau Goedeschal setzte das Wasserglas beiseite. »Kindlich, sagst du? Kai – kindlich?«

»Was denn anders, Margrit? Wie unfertig ist er mit seinen sechzehn Jahren! Wenn ich mich auch nicht mehr genau zu erinnern vermag, wie ich in dem Alter war, so vergleiche ich ihn doch mit seinen Freunden. Nimm zum Beispiel Arne, der schon etwas ausgesprochen Männliches hat. Und Kai – noch vor beinahe einem halben Jahr diese Puppengeschichte! Wenn das nicht kindlich ist!«

Sie blieb dabei. »Grade diese Puppengeschichte –« Aber er fiel ihr ins Wort: »Was heißt das: grade diese Puppengeschichte? Überlege doch, Margrit: seine Schwestern merken, daß in der Plättstube die Kästen mit ihren alten Spielsachen durchstöbert sind. Die Puppen, Kleider et cetera fehlen. Sie passen auf, suchen und entdecken –: daß Kai seine Kommodenschieblade als Puppenbett eingerichtet hat! Der große Junge spielt mit Puppen!! Ich begreife nicht, wie du da sagen kannst: grade diese Puppengeschichte!«

Sie murmelte: »Sie lief böse genug ab!«

Staatsrat Goedeschal wurde ärgerlich. »Warum lief sie böse ab? Weil ich auch da noch den Jungen überschätzte! Ich dachte, es ist eine verdrehte Jungensdummheit; ich zeige ihm kühl und klar, wie unsinnig für einen Obersekundaner, der Homer liest, derartiges ist, eine Kinderei, über die man nur lachen kann. Sollte ich es etwa ernst und tragisch nehmen? Dann hätte ich ihm vor allen Vorhaltungen über die einbrecherische Entwendung der Spielsachen seiner Schwestern machen müssen. Also, ich denke, nun wird sich der Junge, vernünftig geworden, über die Hänseleien seiner Schwestern hinwegsetzen. Statt dessen wirft er in sinnloser Wut nach Lotte mit dem Messer! Bei Tisch! In meiner Gegenwart! Wie ein kleines Kind, das überhaupt noch kein Verantwortungsgefühl hat. Daß ich da nun streng eingreifen mußte, ihm das Verbrecherische seines Tuns klarmachte man greift nicht zur Selbsthilfe, in Notlage wendet man sich an die zuständige Autorität, also mich! – und ihn schließlich mit Zimmerarrest bestrafte, war gegeben. Ich denke aber, er hat sein Unrecht eingesehen: er ist seitdem viel ruhiger geworden.«

Frau Goedeschal kämmte am Toilettentisch das Haar. Den Arm mit der Bürste sinkenlassend, war sie mehrmals im Begriff gewesen, ihren Mann zu unterbrechen, besann sich dann und schwieg.

Eine Weile war es still, dann fuhr er fort: »Also kindlich, oder, daß ich besser sage, kindisch ...«

Aber nun sprach sie rasch: »Ja, Heinz, was soll ich sagen? Ich weiß doch nicht! Sieh diese Puppengeschichte. Ob wir da so richtig vorgegangen sind? Vielleicht hätten wir grade das Kindliche stützen sollen. Du sagst: ›Warum hat er sich nicht an mich um Hilfe gewendet?‹ Aber grad, weil du's so obenhin verlachtest ..., ich weiß nicht, ich bin selber so gar nicht klar ...« Sie atmete rascher. Schließlich: »Es ist furchtbar schwer mit Kindern! Es ist so lange her, daß wir jung waren. Und ich war auch anders.«

Sie schwieg wieder. Auch Staatsrat Goedeschal sagte nichts, er sah sie an, aber sie vermied seinen Blick. Er fühlte, daß sie Wichtigeres noch verschwieg, und um ihr zu Hilfe zu kommen, sagte er endlich: »Du hast etwas auf dem Herzen, sprich!«

Frau Goedeschal machte eine ungeduldige Bewegung. »Da liegst du und sagst: ›Sprich‹, als wenn es wer weiß wie leicht wäre.« Schon verwusch Weinen die Worte. »Und sitzt dabei auf deinem Richterstuhl und willst im Grunde nur das hören, was deiner Meinung recht gibt, und ändern ... Grad, als wär ich angeklagt ...«

Er richtete sich im Bett auf. »Aber Margrit, ich verstehe dich nicht! Ich will doch nur sein Bestes. Du sagst: es ist schwer mit Kindern. Gewiß ist es das. Aber du machst es mir zum Vorwurf, wenn ich ruhig überlege. Wir müssen doch Vertrauen haben!«

Schon hatte sie sich besonnen. »Sei nicht bös. Aber natürlich habe ich Vertrauen, es ist nur schrecklich schwer, ich ängstige mich so um den Jungen. Man hat ja den besten Willen ... Du meinst: ruhiger ist er geworden. Ja, ruhiger, er redet kaum noch ein Wort, was wissen wir denn noch von ihm? Die Wochenzensuren! In Griechisch ist er auch wieder schlechter. Aber, die Hauptsache ist, er redet nichts. Kein Wort. Es war schon immer nicht leicht mit ihm, das rechte Vertrauen war nie da. aber seit diesen Puppen ... Vor dir nimmt er sich noch zusammen, aber bei mir ...«

»Mault er? Tückscht er?«

»Das wäre viel besser, das ginge vorbei, aber es ist einfach, als wären wir Fremde für ihn. Ich mag ihn noch so sehr fragen: ›Kai, was hast du? Ich sehe doch, daß du etwas hast, sprich dich aus.‹ Aber dann sagt er nur: ›Was soll ich haben? Gar nichts!‹ und geht raus. Und scheint sogar manchmal, als höhnte er: ›Mir geht's ausgezeichnet. So ausgezeichnet, davon hast du keine Ahnung!‹ Und sieht dabei aus, als wollte er weinen. Und wenn man seine Hand nimmt und ihn streicheln will, reißt er sich los, als haßte er mich. Es ist, als liebte er uns überhaupt nicht mehr ...«

Staatsrat Goedeschal hatte immer erregter zugehört. »Gut, daß du sprichst! Das kann so nicht weitergehen, darf nicht. Wir müssen etwas tun ...«

Aber sie unterbrach ihn. »Und morgens arbeitet er auch nicht! Das weiß ich genau.«

»Ja, aber was dann?«

»Er ist im Keller.«

»Im Keller?« fragte er verständnislos. »Was tut er denn da?«

»Ich weiß nicht, ich habe ihn gefragt. Er sagt, er müsse den Kessel nachsehen.«

»Und du hältst das für ausgeschlossen?«

»Ich bitte dich, jeden Morgen eine Stunde! Gerad er, der so gern lang schlief.«

»Aber was dann?«

»Ich sage dir doch – ich weiß nichts. Und der Schlüssel zum leeren Kellerzimmer ist auch verschwunden!«

»Und du meinst ...?«

»Ich weiß doch nicht! – Ich bitte dich um eins, Heinz, sei nicht erregt, erschrecke ihn nicht.«

Schritte, die man schon auf der Treppe gehört, tasteten leise an der Zimmertür vorüber. Staatsrat Goedeschal rief laut: »Kai!« Die Schritte wurden still, aber niemand kam. Er rief wieder: »Kai!« Nichts rührte sich. Er machte eine Bewegung zu seiner Frau. »Bitte, sieh nach!«

Auf dem Gang stand Kai, die Schultern hochgezogen, das Gesicht halb zurückgewendet. »Bitte, Junge, komm rein. Sag uns guten Morgen!«

Er trat ein. »Guten Morgen, Papa! Guten Morgen, Mama!« Und er gab jedem von beiden einen Kuß, dem Vater auf die Stirn, der Mutter auf die Wange.

»Guten Morgen, mein Junge. Nun, wo pilgerst du schon so früh hin? Wir hörten dich wie einen ruhelosen Geist über uns wandern.«

»Störte ich euch? Verzeiht.«

»Nein, nein, du siehst, deine Mutter ist beinahe schon in Gala.« Staatsrat Goedeschal sah seinen Sohn heiter lächelnd an. Der aber schien die Frage vorhin überhört zu haben, und so mußte sie denn der Vater, schon gezwungener, wiederholen: »Und wo wolltest du jetzt hin, Kai? So leise?«

»In den Keller. Zur Heizung.«

»Aber ...« Er besann sich. »Dazu ist doch der Heizer da!«

»Er kann morgens so früh noch nicht.«

»Und darum stehst du auf?«

Schweigen. Der Vater wartete und sagte dann: »Ich werde mit dem Mann reden. Er geht um sieben Uhr zur Arbeit, da kann er ruhig vorher noch einmal vorbeikommen. Wofür bekommt er sein schönes Geld!«

»Ich bitte dich, Papa ...« Aber Kai schwieg schon wieder.

»Nun, was denn?«

»Ach nichts.«

»Aber ...«

»Ja, wenn du es ihm sagst, machst du ihn nur wütend. Er kommt dann zweimal und bleibt doch wieder fort. Und schließlich platzt wie neulich ein Wasserstandsglas, und wir haben den Keller voll Wasser.«

»Sehr richtig, sehr vernünftig«, und Staatsrat Goedeschal sah befriedigt lächelnd zu seiner Frau hinüber. »Aber deinen Morgenschlaf sollst du deswegen doch nicht verlieren. Weißt du was? –: du lernst Erna an. Das Mädchen kann das ruhig machen.«

»Die findet nie mit den Hähnen Bescheid.«

Der Vater wurde ungeduldig. »Es scheint dir doch sehr viel daran zu liegen, sonderbar.«

»Mir? Gar nichts! Meinetwegen kann es Erna machen, ich reiß mich nicht drum, aber wenn was passiert, ich lehne jede Verantwortung ab.«

»Verantwortung! Ich möchte wissen, wer dir welche übertragen hat!«

»Wenn ich's ihr doch zeigen soll!«

»Junge ...!«

Aber Frau Goedeschal rief rasch und ängstlich: »Ich bitte dich, Heinz!«

»Ja so. Was ich noch sagen wollte – du weißt wohl auch nicht, wo der Schlüssel zum leeren Kellerzimmer hingekommen sein mag?«

»Nein. Ist der weg?«

»Ich sagte dir's schon, Kai«, warf die Mutter ein.

»Ach so, ja. Nein, das weiß ich nicht.«

»Nun, wir werden heute vormittag zum Schlosser schicken, der kann einen neuen machen.«

Der Vater sah seinen Sohn scharf an, aber der zuckte nicht.

»Und nun noch eins, ich wollte dir schon immer eine kleine Freude machen. Dein Griechisch ist zwar nicht sehr vorzüglich. Was meinst du, wenn du einmal ins Theater gingst?«

»Gern, sehr gern. Vielen Dank.«

»Schon gut. Sei nur recht fleißig.«

»Kommt ihr mit?«

»Aber natürlich. Also übermorgen abend: ›Die Räuber‹.«

»Ich danke schön«, und Kai küßte seinen Vater. Dann rascher: »Es fallt mir eben ein ... Nur so eine Vermutung ...«

»Nun, was denn? Sprich immer.«

»Vielleicht hat der Heizer den Schlüssel, er sagte immer, es sei im Kohlenkeller zu naß fürs Holz. Ich werde mal mit ihm reden.«

»Tue das, Kai. Also abgemacht. Du lernst heute und morgen Erna an, und wegen des Schlüssels redest du mit dem Manne.«

»Und der Schlosser? Damit können wir dann wohl warten ...«

»Ja, natürlich. Solche Eile hat das ja nicht.«

Kai ging.

Staatsrat Goedeschal sah seine Frau an. »Siehst du, es ist gar nicht so schlimm. Man muß nur vernünftig mit ihm reden. Natürlich hat er irgend etwas unten im Keller. Wenn er zur Schule ist, schicken wir zum Schlosser, na, es wird schon nichts Schlimmes sein, irgend so eine Jungensdummheit. – Hattest du den Eindruck, daß er sich aufs Theater sehr freute?«

»Eigentlich nein. Er fragte so komisch, ob wir mitkämen.«

»Aber ...!«

»Du, was mir eben noch einfiel: ich sprach neulich auch mit Frau Schütt über Kai, sie mag den Jungen gern. Und sie hat soviel Erfahrungen mit ihren sieben. Sie meinte, es wäre Zeit, ihn aufzuklären.«

»Aufklären? Nein. Ich habe ganz ausführlich mit seinem Klassenlehrer davon gesprochen. Die Jungen bekommen in der Oberprima die nötigen Mitteilungen durch einen erfahrenen Medizinalrat. Er bat mich dringend, dem nicht vorzugreifen. Und ich bin auch sonst dagegen. Warum sind die jugendlich Bestraften immer aus den unteren Volksschichten? Weil die Kinder dort sexuell aufgeklärt sind! Zu frühes sexuelles Wissen ist Verlockung, verleitet zur Haltlosigkeit, zur Genußgier. Und der Weg von da zum Verbrechen ist kurz. Nein, keinesfalls. Was heißt überhaupt Aufklärung! Was soll man dem Jungen sagen! Ich bin da ganz unsicher. Gerade für Eltern ist ihren Kindern gegenüber dies Gebiet mit einem gewissen Odium verknüpft, es muß tabu bleiben. Ich wenigstens könnte es nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Frau Goedeschal.


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