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15

Kai schiebt sein Heft von sich. Es freut ihn, diese Gleichungen zu lesen, diese a<sup>2</sup> und b<sup>2</sup>, diese Wurzelzeichen als fremde und ganz neue Dinge zu betrachten, die sich haben eindrängen wollen und die ihn nun doch gar nichts angehen.

Während er seinen Blick sichernd über den wolligen, tiefgesenkten Kopf Professor Bäckers gleiten läßt, blättert er weiter in seiner Kladde, fühlt das glatte Zurückgleiten der Seiten und liest das Gedicht, sein Gedicht, das er im Sieg über diese Stunden für Ilse geschrieben. Mathematikarbeit, aber nein, statt dessen ein Gedicht für Ilse! Dieses in »Jettchen Gebert« hineingelegte Blatt eines Tages findend, wird sie im halb verbotenen Überfliegen glauben, es sei durch Zufall im Buche.

Kai reißt ein Blatt aus seinem Heft, er schreibt die Zeilen ab, und ehe er sie knifft und in den Roman schiebt, liest er noch einmal die letzten Worte:

»Niemand verstand das stumme Flehen meiner Augen,
Und in dem Zittern der verkrampften Hände
Erkannten sie nur die empfangene Spende ...
Das ist mein Leid bei diesem Erdenwandeln.«

»Ja, dies ist alles und doch nicht zu viel. Abgesondert von allen mit traurigen Augen beiseitestehend, kann ich doch nicht – hier wird sie es fühlen – zu den andern treten, der ich so viel mehr bin als sie. Die Melancholie dieser Zeilen wird sie verführen, weich zu sein bei mir, und am Ende werde ich, den Kopf in ihrem Schoß, ausruhen können, meine Sorgen in ihre Hände hineinwachsen sehen und, nun ganz erleichtert, mich vor ihr neigen und ihre Hand küssen dürfen.«

Er sah vor sich. Wacher werdend, ließ er den Blick durch die Klasse gehen, und die Belebtheit der andern, ihr Zurechtrücken, ihr Blättern in Büchern ließ ihn leicht erschreckend zusammenfahren. Aber, da er nun begriff, als er sah, daß sie fertig waren, als die hastig hervorgezogene Uhr ein Viertel auf eins zeigte, hallte der Schreck, wie auf Messingplatten gehämmert, stärker, ein betäubender Lärm brach in ihm aus, er schrak zurück, sein Kopf strudelte, Wasser schien endlos zu stürzen.

Noch hoffend, schon verzweifelt, flüsterte er zum Nachbar: »Bist du schon fertig?«

»Längst! Du nicht? Ist doch blödsinnig einfach!«

Kai warf den Kopf herum, sah nach Arne: der blätterte in einem Buche. »Natürlich hat er sie nicht geschickt! Wieder vergessen! Hat gedacht, ich bekäme die Lösungen allein heraus. Aber ich habe doch sein Versprechen ...«

Er fühlte das Näherkommen der Gefahr, noch saß Bäcker mit gesenktem Kopf, aber wie lange noch, dann hörte er das Rascheln, das Rücken, das Atmen, sah auf und begriff.

»Nein, ich muß mich zusammennehmen. Noch ist nichts verloren.«

Er zitterte. »Wie ist es? Die Kubikwurzel aus ...«

Er schob die Kladde zurück. »Ich habe keine Zeit. Ich muß gleich ins reine schreiben.«

Blättern in der Logarithmentafel. »Ich finde nichts.« Dann, die Hände sinkenlassend: »Nein, es geht nicht. Ich bin verloren. Ich kann nichts tun. Mag kommen, was will.«

Er saß rascher atmend. »Kann ich denn mein Heft leer abgeben?! Ostern sitzenbleiben? Die Eltern ... heute früh. Es straft sich.«

Grübelnd: »Es? Was? – Es?«

Schneller: »Nein, das hilft mir nichts. – Müller, laß mich abschreiben. – Ich kann nichts sehen! – Nein, so geht es nicht. Schieb das Heft rüber, weiter! – Wie ist das? – Was heißt das? Sinus α? – Es geht nicht!« »Ich habe noch eine halbe Stunde. Ich schreibe an Arne.«

»Natürlich!«

Er schrieb. Der Zettel wanderte.

»Goedeschal, drehen Sie sich nicht um!«

Es war geschehen, Bäcker war wach geworden!

»Durch mich!«

Die Klasse schwieg, dann fiel ein Lineal rasselnd zu Boden, Zurechtrücken, Bücherklappen. Kai wagte nicht aufzusehen. Aber dann kam die Stimme wieder, und nun schob Kai den Federhalter weg. »Nutzlos!«

»Nun, wieweit sind wir? Hat jemand die ganze Arbeit fertig? Aufstehen!«

Kai überflog sie: Müller, Wellhöhner, Thümmel, Klotzsch, ach, so viele, und, dort hinten, Arne!

»Hat jemand schon vier Aufgaben fertig?«

Wieder.

»Und drei?«

Andere Köpfe, die hochschießen.

»Und zwei?«

(›Ach! Schneller, schneller!‹)

»Und eine?«

Kai sah nicht mehr auf.

»Und gaaaaar keine?«

Es zerrte und schob ihn aus der Bank. Er stand.

Es war ihm, als sei er sehr hoch über der Klasse, in anderer Luft. Und sehr allein. Sein Gehirn war abgestorben. Kraftlos und matt hingen die Hände herab. Kein Laut schien zu ihm zu dringen. Was sagten sie? Lachten sie? Hatte Bäcker gesprochen? Aber dann war die Stimme wieder da: »Goedeschal, bringen Sie Ihre Kladde!«

Das war die einzige Stimme, der einzige Laut, und sonst gab es nichts auf der Welt. Kai griff das Heft. Es suchte sich, zwischen zwei Fingern aufgehängt, ihm zu entziehen. »Was will es? Habe ich etwas vergessen? Nein! Nichts?«

Dann: »Doch, habe ich etwas vergessen! Aber ich weiß nicht mehr.«

Noch immer an seinem Platz fühlte er die kühle Glätte des Papiers zwischen seinen Fingern.

»Doch weiß ich. Aber ich kann jetzt nicht daran denken.«

Er ging auf das Pult zu, er mußte sehr vorsichtig auftreten, sonst zerbrach etwas in ihm. Die Gesichter seiner Kameraden waren gespenstergleich und aufgeblasen an den Seiten seines Weges, unter ihm wie Kohlschosse aufgewachsen. Automatenhaft rollten ihre Augen auf ihn zu. Hier war die Stufe zum Katheder. Ganz hoch auf den Zehenspitzen, versuchte er die Beine anzuziehen, die zu tief unter ihm waren. Bald wäre er doch gestolpert.

»Geben Sie schon her!«

Und nun durfte er es wieder wissen: »Warum habe ich denn die Seite nicht herausgerissen?! Vielleicht hätte ich's doch gekonnt.

Sind noch andre da? Hinten in meinem Hirn wird ein Film abgerollt, aber vorn denkt's: noch kann ich zugreifen, ihm das Heft fortreißen. Alles besser, als daß er die Verse findet. – Ah! ...«

Die Hände hatten aufgehört zu blättern. Kai wußte, was auf der Seite stand. Warum machte niemand in der Klasse Lärm? Kai stampfte mit dem Fuße auf, aber nur ein kleines, dürres Geräusch wie das Knarren einer Sohle kam zu ihm herauf.

Professor Bäcker schloß das Heft. Für einen Augenblick hielt er es in der Schwebe, legte es dann auf den Pultdeckel. Und wieder griffen die Hände zu, die Kai als seltsam zerfressen und in geweitete Haut gesteckt aus dem Augenwinkel sah, schoben es rechtwinklig zum Holzrand. Sie glitten zurück, und nun war alles entschieden.

Professor Bäcker räusperte sich. »Hierüber kann ich nicht befinden. Ich werde mich mit Herrn Direktor ins Benehmen setzen. – Gehen Sie, Goedeschal. Hefte einsammeln, Wellhöhner.«

Aufstürzender Lärm. Pultdeckelschlagen. Die Tintenfässer klapperten. »Herr Professor ... ich ... ich ... Sie ... Sie ...«

»Ich sage Ihnen ja: ich kann nichts entscheiden. Setzen Sie sich.«

Wieder saß er. Der Nachbar flüsterte: »Was ist denn?«

Er zuckte die Achseln. Überall drinnen brachen die Tränen hervor, und in seinem Innern rauschten sie wie endlose graue Vorhänge.

Der Primus zögerte an seinem Platz. »Was war denn los? Karzer?«

Kai reichte ihm das leere Reinschriftheft.

»Auch das kommt noch! Strafe! Karzer! Die Eltern. Endlich triumphiert Mama. Ich muß flehen, betteln, traurig sein, bereuen. – Aber er hat uns betrogen! Bis eins hatten wir Zeit, und um halb eins hat er die Hefte einsammeln lassen. Ich wäre fertig geworden, bestimmt. – Aber nein, ich sage den Eltern nichts, ich kann nicht. Ich flehe ihn an. Gleich nach der Stunde, auf dem Gang.«

Und sein Heimweg trat vor ihn, plötzlich überfiel ihn die Vision all der Häuser, rechts, links, vorn, hinten, über ihm und an seinen Füßen entlang schleichend. Hinter diesem Meere von Scheiben lebten Schicksale, Lachen, Weinen, Sorgen, und nichts hatte mit ihm zu tun. Auf allen Seiten war er eingeschlossen von fremden Tränen und Gelächtern; sein klägliches Geschick, gänzlich unbeachtet von tausend andern, sehnte sich nun nach Wärme.

»Ilse«, und dann wieder nur dies: »Ilse – Ilse – Ilse!«


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