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6

Er war allein, und nun, da er von den leergewordenen Stühlen zum Saalende zurücktrat, bedauerte er schon, daß dieses so leicht verlaufene Gespräch nicht länger gewährt hatte. Indem er die Augen schloß, erinnerte er sich an ein leises Lächeln von Ilse, ein Lächeln, das wie ein Stern über der leichten Melancholie ihres Gesichtes aufgegangen war. Es schien ihm, als müsse er dies ihm gewährte Lächeln um den Mund gleich einem Vermächtnis tragen.

»Nun ist alles gut«, sagte er zu sich und ließ seine Augen ruhiger durch den Saal gehen, dessen Gewirr ihn nicht mehr erschreckte. »Ist nicht jetzt mit dem ersten Schritt auch der schwerste getan? Beim Wiedersehen werde ich an die schon gesprochenen Worte anknüpfen können, ein Weg liegt vor mir, und ich, ich werde ihn gehen.«

Aber so sehr er sich mühte, nur Freude zu empfinden, meinte er doch, auf seiner Zunge einen bitteren Geschmack zu spüren, irgendwo saß ein Widerhaken und peinigte ihn. »Warum freue ich mich nicht?« fragte er. »Waren die Mädchen nicht gut zu mir?«

Er schwieg. Das Lächeln verging ganz, und plötzlich war alles wieder da, alles von vorhin: Scham, Demütigung, Neid und Selbstverachtung. Nun fiel es ihm ein: das Köpfezusammenstecken, rasche Blicke der beiden Mädchen, ihre Worte, die ihm Brücken bauen sollten. »Ach, was ist gesagt und was ist nicht gesagt, das für mich nicht Scham und Ekel sein muß? Ich fühle es wohl, so fremd ich hier bin, daß sie mir geholfen haben – aus Mitleid. Arne hat mit ihnen geredet, ich bin vorgeführt als ein Wundertier, wie im Hörsaal ein Kranker durch seinen Arzt.«

Die Scham über ihr Mitleid machte ihn zum äußersten unruhig. Es war ihm, als müsse er umherlaufen, irgend etwas tun, etwas Lautes, Aufsehenmachendes, um zu zeigen, daß er auch ohne dies Mitleid da war, daß er sich nicht schämte. Dann blieb er stehen, er sagte: »Glaubt ihr denn, ich durchschaue euch nicht? Gott sei Dank, ich bin immer noch klüger als ihr. Ich nehme eure Hilfe, weil es mir so gefällt, aus Mißachtung, Gleichgültigkeit. Verreckt doch, was geht das mich an.« Er fühlte, daß jedes Wort Lüge war, fühlte klar, daß er in einem Ton sprach, der nicht einmal ihn überzeugte. Schwankte nicht noch in seinem Innern die weiche Weinerlichkeit, die wie ertrinkend nach der hilfreichen Hand gefaßt hatte? Bebten nicht noch seine Knie?

»Feige war ich, feige wie immer. Deswegen sehe ich keinen Menschen an, deswegen sage ich kein zorniges Wort. Ich habe nicht einmal den Mut zu meinen Gefühlen. Ewig aus Haltlosem gehemmt, möchte ich vorwärts und lege mir selbst die Schlingen, die mich zu Fall bringen.«

Seine Gedanken erschreckten ihn. Er schüttelte den Kopf einmal, zweimal, viele Male, er zwang seine Augen aus der Ferne in das nahe flatternde Weiß der Mädchenkleider. Sein Ohr hörte statt auf die leisen Stimmen der Anklagen und Verzweiflung auf das Gelächter der Tänzer. Er fand Arne und Irene; ihrem Tanz nachblickend, erriet er einen Willen in den beiden, der ihn leiten hieß und sie folgen, ein Wille war da, der ihm so wie ihr gehörte. Aber vor dieses Bild schob sich das blasse Gesicht von Fräulein Lorenz. Es war unbewegt und nicht mehr gerötet als mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren Hauch. Ihre geöffneten, schmalen Lippen ließen die breiten Rechtecke der Zähne sehen, die fast zu schwer für dieses Gesicht waren. Die langen Wimpern der Lider waren gesenkt. Wie sie dort, die eigenwilligen Linien der Augenbrauen in die Höhe gezogen, gleichsam einsam tanzte, dem Manne an ihrer Seite die Führung als etwas Belangloses, aber doch mit allem Vorbehalt überließ, schien sie Kai jenen Madonnen zu ähneln, die, karg in Holz geschnitten, mit wenigen Linien eine Einsamkeit betonen, die sie von der ganzen Welt trennt. Und doch lag etwas in ihr, was diesem widersprach und seine Geltung auslöschte, und Kai las dieses andere in dem weichen Kreisen der Hüften, die, den umgebogenen Rändern einer Schale gleich, Sehnsucht nach dem Gefülltsein mit Früchten atmeten. Und während er gedankenlos und träumend ihrem stillen Schweben zusah, ahnte er tiefer in ihr als ihr Ziel die Auslöschung dieses Widerspruchs, das Überströmen der Weichheit über das herbe Abgeschlossensein ihrer Schultern und des Gesichtes.

Aber all dies war trübe, es war so schwer, sich über diese Dinge klarzuwerden, und beinahe unmöglich, Schlüsse aus dem Gewonnenen zu ziehen. Dunkel ahnte er, daß alles anders war, wie er gelesen, oder doch nur bedingt so: Liebe war innerlicher und beinahe qualvoll. Süß sicher nicht. Es war besser, sie von sich wegzustellen.

Seine Gedanken irrten ab. Eben stand noch Arnes Bild vor ihm, der mit strahlenden Augen von der Schönheit der Liebe gesprochen, nun dachte er an ein Mittagessen neulich, bei dem seine Schwester von einem Besuch im Museum geredet. Von einer Statue hatte sie gesagt: »Ihr Mund ist so fabelhaft sinnlich!« Wieder fiel auf ihn, gerad wie in jener Minute, ein atemlos erwartetes Zittern; der Vater würde empört sich so unanständige Reden verbitten. Aber es war still geblieben, eben still, und nur an seinen Augen hatte Kai gemerkt, wie wenig dem Vater das Thema paßte.

Und dies war es nun wieder, was ihn von neuem erschütterte: ein sinnlicher Mund. Auch das mußte mit dem zusammenhängen, was Liebe genannt wurde. So war also dies kein plötzlicher Überfall, kein Geschenk eines lächelnden Amor, nein, es war an den Körper geknüpft, lag von Kind auf im Leibe? »Aber dann«, so schloß er, im Innersten verwirrt, »kann es auch kein Zufall sein, wenn ich Ilse lieben würde. Es wäre bestimmt, es wäre unentrinnbar, Kismet? Aber wie? Wenn Arne nicht heute geredet hätte? Wenn er jemand anders wie Ilse vorgeschlagen hätte? Wenn er ...?«

Er brach ab. Sein nach unten gerichteter Blick streifte scheu seine Hände. Sie waren schmal und die Finger sehr lang. Eine leichte Biegung, mit der das Nagelgelenk ansetzte, erschreckte ihn von neuem. Finger mußten grade sein, dies war unrichtig und verkehrt. – »Ein sinnlicher Mund. Ob im Museum etwas zu finden wäre?«

Er sah wieder in den Saal, aber er war unruhig geworden. Sein Auge irrte von den Tanzenden ab und heftete sich auf die kleine Bühne, die die Schmalseite des Raums dem Haupteingang gegenüber abschloß. Der herabgelassene Vorhang zeigte eine albern lächelnde, halbnackte Göttin, die auf ihren Knien ein aufgeschlagenes Buch hielt. Um ihr Haupt tanzte ein Reigen von Putten, die die Gesichter hinter tragischen und komischen Masken verbargen. Zuerst war sein Blick weit und verschwimmend, aber plötzlich konzentrierte er sich: im enger werdenden Gesichtsfeld sah er nichts als die beiden fetten rosa Brüste der Muse. Seine Augen streiften angstvoll die blutroten, wie die Enden einer Zitrone zugespitzten Brustwarzen. Unvermittelt mußte er an seine Mutter denken. Verachtung und Ekel vor ihr stiegen in ihm hoch. Aber dann, als sein Blick in den Saal floh, sah er in all diesen Mädchen, diesen flatternden, weißen, fernen, gleichgültigen Abendfähnchen, nichts als Brüste. Ihre rosa Fülle drängte mit betäubendem Geruch auf ihn ein. Und alle wollten etwas von ihm, ihr Geruch war ekelhaft wie der von Schweiß aus den Achselhöhlen, der doch immer von neuem verlockte. Er zitterte und schloß die Augen. Ein kalter Schweiß stand auf seinem Leibe. Seltsam breitbeinig, mit stieren Augen und gespreizten Schritten, ging er dem Ausgang zu. Die frischere Luft der Vorhalle erinnerte ihn an Mantel und Mütze, er suchte die Garderobenmarke heraus und trat auf die Straße.


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