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25

Kai stürmte die Straßen entlang. Kaum dem Lichtschein einer Laterne entronnen, rief ihn der freundlich erhellte Abglanz der nächsten; seinen huschenden Schatten atemlos überhastend, sah er ihn wieder, weit vorn, stürmisch bewegt, automatenhaft stumm.

»Ob ich sie erreiche? Es ist halb sechs vorbei. Wie wenn sie nicht wartete? Fort, unerreichbar? Wäre ich eher geflohen! Niemand hätte es gemerkt, wie es niemand jetzt merkte.«

Er schlug mit dem Arm, den Schritt zu beschleunigen. »So viele Menschen und so langsame! Nichts, ihren Schritt zu beschwingen? Kein Wunsch? Keine Hoffnung?«

Verhaltend streifte er die nasse Riefung eines Hauses. »Heut mittag, sie reichte nicht die Hand. War es, weil ich sie wiedersehen würde? Ich muß sie sehen.«

In ihrer Straße: »Hier ihr Haus. So dunkel. – Nein, sie ist nicht da, gegangen, gegangen vielleicht vor einer Minute.«

Neubelebte Hoffnung ließ ihn die Straße hinabstürzen, einem Schatten nach, der, erreicht, ihm ein fremdes und abweisendes Gesicht zukehrte. »Nichts. Von der andern Seite werde ich am Haus emporsehen. – Hinter welchem dieser erleuchteten Fenster ist sie daheim! Ach, daheim sein, irgendwo mit ihr!«

Zurückgelehnt fühlte er das Wehen von Schnee über sein Gesicht: »Dort wird ein Fenster dunkel. Wer ging aus dem Zimmer und löschte das Licht? Sie? Sie! – Ach, wie kam es? Ist Liebe so? Gestern Spiel und heute – warum sehne ich mich fort von mir in ihre Hände? Ich glaube, ich habe nur für dich gelebt. Endlich erfüllt, reiche ich mich dir ganz.«

Er stürmte vor. »Ein Schritt auf der Treppe! Sie kommt. – Sie ist es!«

Mit einer raschen Drehung sah sie die Straße hinauf und abwärts. Er querte den Damm. »Endlich sind Sie da. Wie lange habe ich gewartet! Immer auf und ab und all die Lichter in den Fenstern. Sie erloschen, und andere kamen und vergingen wieder, aber immer und immer vergebens.«

»Sie haben gewartet?«

»Um fünf wollten Sie unten sein ...«

»Ja so, entschuldigen Sie, daß ich ...«

»Aber nein, es macht gar nichts. Auch solch Warten ist schön. Es ist Sehnsucht und Verzweiflung und immer wieder Hoffen.«

»Das Buch?«

»Hier ist es. Sie müssen, Sie werden es lieben. Das arme Jettchen! Wie sie hintreibt! Und dann kommt nach so viel Wehren und Bitterkeit doch alles, wie es kommen muß. Ihre Angst, ihr schmerzlicher Kampf: umsonst. Am Ende angelangt, sieht sie alles verloren.«

»Aber nein, nichts kommt, wie es kommen muß. Wie schwach ist das! Unser Leben in unsrer Hand bringt, was wir wollen.«

»Nein, nein, wir sind schwach, wir treiben – ›like water willy-nilly flowing‹ (Sie kennen Khayyam?). – Wir lassen den Dingen ihren Lauf. Fielen nie Ihre Hände in den Schoß, die Flächen zum Himmel: Komme, was kommen mag?«

»Und wenn auch. Einmal sind wir schwach. Aber dann heben wir von neuem die Hände, einem andern Tag entringen wir den Gewinn, den uns sein gestorbener Bruder verhielt. Das gute Ende heißt allein: Sieg.«

»Vielleicht sind Sie stärker. Aber ich – – –. Manchmal früher, als ich klein war, meinte ich, es müsse irgendwo jemand sein, genau der, der auch ich bin, und jener tut alles, was auch ich tue, leidet, was ich leide, freut sich und ist stark. Aber ich, sein Schatten, ein Spiegelbild, erlebe nur für ihn, und was mich bewegen sollte, in ihm klingt es. Leben, Haß, Arbeit und Lachen, Verzweiflung, Scham und das bißchen – Liebe: alles nur für ihn. – Ich weiß heute: er ist nicht da. Keiner erlebt, was ich zu erleben hätte. Seitdem bin ich ganz allein. All mein Sein taube Frucht.«

»Kommen Sie, wir wollen hier am Park entlang. Es ist dunkel, nur wenige Menschen.«

Ihr Atem zögerte, seine Hand streifte Schnee von den Büschen. »Und ist alles immer so trübe für Sie?«

»Nicht immer. Manchmal hoffe ich, jenen andern zu finden – und dann nur gut sein, dann nur liebhaben, ein wenig. Kein Vorbeireden mehr möglich, jedes für den andern gemeinte Wort macht alles gut.«

»Aber zu Anfang dieses: wahr sein.«

»Auch das: wahr sein ist aller Anfang und Grundlage.«

Sie blieb stehen, heftiger atmend, umklammerte sie mit ihrer Hand den Schaft eines Baumes. »Wahr sein ... Sie hatten nicht auf mich gewartet, Kai! Ich war unten, Sie waren nicht da, am Fenster lehnend wartete ich Ihres Kommens. Sie kamen spät.«

Er tastete blind nach ihrer Hand. »Nicht das. Nicht wieder Mißtrauen, keine Lüge. Sie verstehen mich nicht. Ihre Hand. Es ist so dunkel. Ja, ich kam spät, ich hatte Karzer, aus Scham verschwieg ich's. Verzeihen Sie. Vergessen Sie. Es war nichts. Sie müssen vergessen.«

»Sie dürfen nicht so. Kommen Sie. Ich habe vergessen. Es war nichts. Ich hätte schweigen müssen. Kommen Sie.«

Er grübelte: ›Warum log ich? Log ich überhaupt? War es nicht, in diesem Auf- und Abgehen, als hätte ich Stunden gewartet? Und schon von neuem sehe ich mich verstrickt: ich hatte nicht Karzer. Auch das wird sie erfahren.‹

Und laut: »Und der Karzer – wissen Sie, warum? Nein ... niemand weiß es, nur ich und gleich Sie.«

»Nun?«

»Es liegt im Buch. Ich dachte an Sie. Man fand es – das Konzept.«

Sie gingen rascher. »Ich komme zu spät. Kehren Sie nun um.«

»Darf ich nicht noch ...?«

»Nein, es ist anders besser.«

Sie gaben sich die Hand. Von ihrer Warme erfüllt, im Dunkel ihr Gesicht ahnend: »Wir sind Freunde?«

»Ja – ja.«

»Und Klotzsch?«

»Wie? Klotzsch?«

»Ist er auch Ihr Freund?«

»Ich mag ihn sehr gern ... anders.«

»Ich danke Ihnen, Fräulein Ilse. Und nun lesen Sie ›Jettchen‹: alles kommt, wie es kommen muß. Gute Nacht.«

»Alles kommt, wie ich es will. – Gute Nacht.«


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