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24

»Wie klagte sie! Ihr Gesicht von Tränen überströmt und gerötet! Auch sie in Knechtschaft! Mein Leid wäre nicht einzig? Schreit es, klagt und stöhnt man um mich, tags wie nachts, und bin ich nur taub? Zu sehr in mich versenkt, um den stockenden Atem anderer zu hören? Bin nicht allein; schon für Trost bereitet durch Einblick in ihr Gesicht, bis aufs Herz beruhigt im Neigen über ihre angstvolle Hand? – Nein! Alles anders; keine Hilfe in dem. Stürzte Papa nicht vor ihren Tränen auf die Knie, fing er nicht, ihr zur Hilfe, schluchzendes Leid in seinem Arm? Wie sah er aus! So blaß! So viel Falten! Ach, unmöglich, selbst ihnen noch zu glauben. Nirgends Einheit. Nicht einmal ihn kann ich von jetzt hassen, auch er leidet. Vielleicht liebt er mich. Liegt auch er nächtens wach, zählt die Uhrschläge vom Turm und bedenkt Wege, die zu gehen sind? Sucht, fieberhaft hochfahrend, neue, andere: bessere? Wo ist Rettung?«

Er stöhnte auf. Zum Becken gehend, sah er im Spiegel die überquellenden Augen, das tränengenäßte Gesicht. »Nein, nicht mehr weinen! Wie stand ich vor ihm! Ich habe ihm meinen ganzen Haß ins Gesicht geschrieen, meinen ganzen Haß, den ich schon nicht mehr habe.«

Es klopfte. Das Gesicht gegen die Scheibe gelehnt, hörte er den Singsang des Mädchens. »Herr Kai möchten zu den Eltern kommen.«

»Es ist gut.« Er rührte sich nicht. »Schon wieder wollen sie mich. Noch nicht genug? – Merkwürdig, die Tür hat nicht geklappt? Ist das Mädchen noch da? – Nein, ich will mich nicht umsehen. – Ich muß. – Nein, nein.«

Das Genick versteift, die Augen gebunden: »Dort die Spatzen auf dem Draht: ein, zwei, drei ... fünf ... sieben. Ich will warten, bis zwölf dort sind oder alle fort, dann erst darf ich mich umwenden.«

Er schloß die Augen, und neu sie öffnend, flehte er: »Wie blau ist der Himmel! War er je so blau? Er ist unendlich. Sonne, Mond und Sterne in ihm. Dort die Venus. – Ach, hinter mir atmet etwas. – Ich darf mich nicht umdrehen.«

Seine Augen suchten die Vögel. »Fünf ... neun noch drehe ich mich nicht um, ich verspreche es mir, ehe nicht zwölf ... aber ich muß. Welche Angst.« Er wandte den Blick: ihm zu Gesicht stand das Mädchen, den Kopf gebeugt – »wie fettig glänzen ihre Haare!« –, mit vorgestoßener Stirn, die Augen unbelebt ihm zu. Lange, ohne Blinzeln. Ihr Atem stürmte.

Was war das Fremde? Luft roch schweißig. Sie stichelte an der Haut. In den Taschen die Hände bebten. Plötzlich stürzte Blut und Blut durch seine Wangen, Feuer brannten lodernd im Hirn. Verdunkelnder Qualm füllte das Zimmer, machte die Lungen zucken.

Sein Blick verließ sie, fiel. Er murmelte: »Was wollen Sie noch, Erna?«

Breit, wie lahmgedreht in den Gelenken ihre Hände. Bebend quirlten die Finger umeinander.

»Was stehen Sie hier, gaffen? Spionieren Sie?«

»Nicht traurig sein, Herr Kai, wir mögen Sie alle – so gerne.«

Ganz leise: »So gerne.«

Wie denn? Hatte es nicht geklungen, ein fernes Läuten, das näherstürmend an ihm sich brach: Wir mögen Sie – alle – so gerne?

»Nicht wahr, du? Der Himmel ist blau? Sonne träuft von den Dächern. Die Lokomotiven kreischen Freiheit in die Luft ... Wie dunkel. Vorhänge fallen. Ist hier kein Fenster ...? Ich bin so schwindlig ... Ja, so, so an deine Brust. Wie rast dein Herz. Schreit es auch ...? Ich glaube, ich versinke ... Die Spatzen schreien. Ich weiß, ich habe mein Wort gebrochen. Aber nun liege ich so ... Bist du das, Erna? Ist das Fleisch, diese Nähe ...? Nein, nicht dein Mund. Nicht dein Mund! Ich kann nicht! Ich sterbe ... Die Welt ist untergegangen. Still! Still! Du!«

Er wird ruhig, sein Stammeln löscht aus. Über den Schuppendächern des Bahnhofs verglimmt fahler Schein. Seinen Kopf zwischen den geröteten Händen, sieht sie über ihn fort, starr in die Weite des Horizonts. Ihre Brust atmet ebenmäßig.

»So. Ja, so wie Wellen. Immer geschaukelt. Einschlafen. Vergessen. – Deine Brust ist Tod, Grab und die ewige Seligkeit.«

Stille, ganz lange Stille. Auf der Straße entflammt man die Laternen. Das Mädchen räuspert sich. »Junger Herr, es ist Zeit. Sie müssen runter.«

»Ja, ja, gleich, nur eine Minute. Ich bin so müde.«

Die Spatzen sind aufgeflogen, den schwarzen Himmel beziehen Wolken. »Es ist Zeit, junger Herr.«

»Ich kann nicht erwachen. Nur schlafen.«

Sie hebt seinen Kopf. Stellt ihn gegen das durchleuchtete Fenster. Er schrickt auf. »Ich muß gehen.« Er greift an seine Augen, reibt die Stirne, zwischen den Fingern sein Haar knistert trocken. »Erna ... wie? Waren Sie das wirklich? – Erna ...! Nein, nein, ich habe geträumt.«

Er sieht die beschmutzte Bluse – versank dort sein Leid? Er duckt sich zusammen. Klein; zu sich: »Nein, ich darf es nicht sagen ... Doch, ich muß.« Lauter dann, noch mehr gebückt: »Erna, neulich auf der Treppe – ich habe Ihre Beine gesehen, Ihre Beine bis zum Knie.«

»Junger Herr!«

Er bewegt die Hand, vorwärts schleichend, von unten in ihr Gesicht geflüstert: »Schöne Beine, weiße Hosen, rote Bänder ...« An der Tür, plötzlich gestrafft, schreiend: »Alles habe ich gesehen! Alles!! Alles!!!«

»Junger Herr, junger Herr, wenn ich gewußt hätt, daß Sie so sind ...«

Und er, wieder leise geworden und ganz entleert: »Ja ja, Erna, Enttäuschungen. – Adieu.« Er geht – beim Öffnen fällt vom Türrahmen eine Last auf seine Schultern. »Habe ich meine Schiffe verbrannt?« – Trocken schluchzt er auf.


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