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28

Staatsrat Goedeschal reichte dem Arzt die Hand. »Verzeihen Sie, lieber Herr Doktor, daß ich Sie spät noch aufsuche. Eine wohlbegreifliche Unrast wegen Kais Befinden, auch der Wunsch, meine Frau zu beruhigen, zwangen mich hierher.«

»Bitte, Herr Staatsrat. Kai war bei mir. Von einer körperlichen Untersuchung glaubte ich absehen zu dürfen ...«

»Wie das?«

»Weil sowohl die Mitteilungen, die mir Ihre Frau Gemahlin übermittelte, als auch mein persönlicher Eindruck dafür sprachen, daß wir es hier allein mit einer nervlichen oder besser – verzeihen Sie, wenn ich einen so vagen Ausdruck gebrauche! – seelischen Überreizung zu tun haben.«

»Diese seelische Überreizung – ich werde Sie nach Abschluß Ihrer Ausführungen um eine Erläuterung dieses umschreibenden Ausdrucks bitten – steht Ihres Erachtens nach fest?«

»Sie steht fest. Um nun aber eine Prognose stellen zu können, ist es notwendig, die Entstehung dieser Überreizung zu erklären.«

»Hierin gehe ich mit Ihnen konform.«

»Und ich muß zuerst um eine Bestätigung bitten. Sie haben Ihren Sohn sexuell nicht aufgeklärt?«

»Nein.«

»Sie glauben auch nicht, daß Ihrem Sohn eine solche Aufklärung von anderer Seite geworden ist?«

»Hierüber kann ich eine bindende Erklärung nicht abgeben.«

»Mein lieber Herr Staatsrat, ich brauche keine bindenden Erklärungen. Ich möchte Ihre, natürlich gänzlich unverbindliche Ansicht hören.«

»Nach unser, der Eltern, heiliger Überzeugung ist Kai noch vollkommen unschuldig.«

»Unschuldig ...? Nun gut. Es ist demnach auch unnütz, Sie zu fragen, ob Ihrer Ansicht nach Ihr Sohn Kai den unter jungen Leuten seines Alters üblichen – ich will nicht sagen Mißbrauch, also – Gebrauch seiner Geschlechtskraft teilt?« Auf einen fragenden Blick: »Ich meine die Onanie.«

»Ach so! – Nach meinen soeben abgegebenen Erklärungen erscheint mir eine derartige Frage allerdings vollkommen unnütz.«

Der Arzt lehnte sich zurück. Der Seitentasche seines Jacketts eine silberne Dose entnehmend, griff er aus ihr eine Zigarette, die er entzündete, ohne eine abwehrende Bewegung seines Gegenübers zu merken oder zu beachten.

»Ich kann meine Ausführungen danach in fünf Sätzen zusammenfassen: Die seelische Überreizung Ihres Sohnes hat ihre Ursache in seiner vollkommenen sexuellen Unaufgeklärtheit. Indem er plötzlichen aus der Pubertät resultierenden Verschiebungen seiner Physis als etwas Rätselhaftem gegenübersteht, zwingen eben diese ständig vermehrten Verschiebungen seine Psyche, sich unausgesetzt damit zu beschäftigen. Diese Überreizung ist bereits derart stark geworden, daß sie in ihren Äußerungen das Pathologische streift, wenn nicht gar schon sehr hierin übergreift.«

Staatsrat Goedeschal strich mit der Hand über sein Gesicht. Den starrer werdenden Blick auf den Arzt geheftet, murmelte er halblaut vor sich hin: »Pathologisch! Geisteskrank! Schrecklich!«

Unbekümmert dozierte der Arzt weiter: »Die versäumte Aufklärung ihm jetzt noch zuteil werden zu lassen, erachte ich für untunlich, da eine solche Aufklärung in Anbetracht des Umstandes, daß das Sexuelle schon übermäßig starke erotische Reizwirkungen, auch auf seine Psyche, in ihm auslöst, nur ein unnatürliches Moment mehr hinzufügt. Der einzige Weg, der Natur zu Hilfe zu kommen, ist der, ihn aus den hiesigen Verhältnissen fortzunehmen und auf das Land, am besten in eine bäuerliche Wirtschaft, zu bringen. Dort, losgetrennt von all dem Bisherigen, wird er in der natürlichen Behandlung des Natürlichen Gesundung finden, zu der es, wie ich zuversichtlich hoffe, stärkerer Mittel zur Zeit noch nicht bedarf.«

Staatsrat Goedeschal hatte sich erhoben. Er stieß den Stuhl beiseite. »Sie sehen mich sprachlos, Herr Doktor, einfach sprachlos!«

Der Arzt machte eine beruhigende Bewegung und strich die Asche seiner Zigarette ab.

»Ich verstehe Sie nicht! Haben Sie sich denn die Tragweite Ihrer Vorschläge klargemacht! Ich soll den Jungen für Wochen – denn um Wochen würde es sich doch handeln?«

»Monate! Monate!«

»Monate ...! Also, ich soll Kai für Monate aus der Schule nehmen, ihn, der schon infolge der mit meiner Versetzung nach hier erforderlich gewordenen Umschulung ein halbes Jahr verlor! Das hieße ein weiteres Jahr verlieren; er würde bestenfalls mit nahezu zwanzig sein Abitur machen, also zu einer Zeit, da ich schon tief im Studium war! Ganz abgesehen davon, daß das Rektorat kaum seine Einwilligung zu einer solchen Versäumnis erteilen würde.«

»Auf Grund meines Attestes würde eine solche Einwilligung wohl ohne weiteres erteilt werden müssen

»Ihres Attestes ... Und Sie beabsichtigen in einem solchen Attest die sexuelle Frage anzuschneiden?«

»Versteht sich.«

»Und Sie begreifen nicht ... entschuldigen Sie, ich bin sehr erregt, ich meine, Ihnen ist nicht klar, wie unglaublich kompromittierend es für mich in meiner Stellung sein würde, wenn mein Sohn wegen, ich will sagen, einer sexuellen Überreiztheit, die ans Pathologische grenzt, – drücke ich mich richtig aus?«

»Ungefähr.«

»Also ... wenn mein Sohn aus – sexuellen Gründen vom Unterricht dispensiert würde? Welche Rückschlüsse würde man auf mein Privatleben ziehen! Ich höre schon unter meinen Mitarbeitern Redensarten wie: ›Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.‹ – Unmöglich! Einfach unerträglich!«

»Diese Einwendungen betreffen nicht die Sache.«

Staatsrat Goedeschal warf sich in einen Sessel. Erregt an seiner Brille rückend: »Ich komme zur Sache. Und da muß ich sagen, daß ich mit äußerstem Befremden, ja, mein lieber Herr Doktor, so leid es mir tut, mit äußerstem Befremden Vorwürfe gegen meine Gattin und mich aus Ihrem Munde gehört habe, die wir uns nie und von niemand erwartet hätten! Ich bitte Sie! Sie reden von Versäumnissen, die ich durch Nichtorientierung Kais über das Sexuelle begangen haben soll!«

»Versäumnisse, schwerwiegende Versäumnisse, wie Sie aus den Folgen sehen.«

»Sie übertreiben einfach die Folgen! – Sie vergessen ganz, daß Sie sich mit Ihren Ausführungen in einem schreienden Gegensatz zu unserm Kultusministerium befinden, das die sexuelle Aufklärung für Oberprima festgesetzt hat! Auch ist, soviel ich weiß, die Frage pro et contra Storch in der Literatur noch längst nicht entschieden!«

»Die Massenaufklärung in einer bestimmten Klasse ist, verzeihen Sie den harten Ausdruck, ein barer Nonsens! Ganz abgesehen davon, daß Aufklärung dann schon zu erfolgen hat, wenn die erotischen Reizwirkungen noch möglichst geringe sind, ist es ein Unding, von einer bestimmten Klasse zu erklären: sie ist reif für Aufklärung. Natur läßt sich nicht kommandieren: der eine reift früh, der andere später.«

»Sie reden immerzu von Natur! Das Natürliche ist es doch entschieden, die Dinge sich entwickeln zu lassen, wie ich es getan habe, und nicht mit allen möglichen ausgeklügelten und plumpen Eingriffen dazwischenzufahren.«

»Das Natürliche ist es, wenn Kinder im nächsten Konnex mit Tieren, Pflanzen und Menschen Geschlechtlichkeit vom ersten Tag als ein Selbstverständliches betrachten. Aufklärung wird für diesen Idealzustand stets nur Surrogat sein, ist deswegen aber nicht weniger notwendig.«

»Ihre Ansicht betreffs Entstehung dieser Überreiztheit ist falsch, das Sexuelle spielt dabei überhaupt keine Rolle. Mein Sohn ist unschuldig, das ist die heilige Überzeugung meiner Gattin und ...«

»Und Ihr Sohn ist schuldig, wenn er über Sexuelles orientiert ist?«

»Meinem Sohn fehlen die Voraussetzungen für Ihre Theorien! Er stammt mütterlicherseits aus den Kreisen der Geistlichkeit, väterlicherseits von Juristen ab. Bei Niederschrift eines Stammbaums gingen mir genügend Dokumente durch die Hand: es befindet sich unter allen Vorfahren kein übertriebener Erotiker. Ihre Behauptung ist blasse Theorie, sie widerspricht jeder Vererbungslehre.«

»Vererbung als ein Rechenexempel anzusehen, muß ich ablehnen.«

»Von einer Versäumnis kann überhaupt keine Rede sein, das alles ist von uns genau erwogen. Erst vor ein paar Tagen hatte ich mit meiner Frau dieserhalb ein eingehendes Gespräch.«

»Dieses Gespräch hätten Sie vor drei, vier, fünf, sechs Jahren führen sollen!«

»Ihre Ausführungen sind mir unverständlich!«

»Und mir Ihre Einwendungen!«

Atemlos betrachtete Staatsrat Goedeschal den Arzt, der sich hastig eine neue Zigarette anbrannte. »Wenn Sie wenigstens nicht rauchen wollten! Ich kann Zigarettendampf gar nicht vertragen!«

»Ach, verzeihen Sie!« Und er zerdrückte die brennende im Becher. »Vielleicht darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«

»Aber deswegen sagte ich es doch nicht! – Nun, sehr liebenswürdig!«

»Hier ist Feuer.«

In den Sessel zurückgelehnt, die ersten Züge einer milden Zigarre auf dem hinteren Gaumen kostend: »Ich hatte mich etwas erregt. So dienen wir der Sache nicht.«

»Zweifelsohne nicht.«

»Sie mögen in so manchem Recht haben.«

»Meine Vorschläge waren vielleicht zu weitgehend.«

»Sie sahen sehr düster, zu düster.«

»Vielleicht.«

»Eine Entschulung Kais ...«

»... ist vielleicht nicht notwendig, wenn andere Maßnahmen getroffen werden«, und der Arzt senkte die Lider.

»Darf ich Vorschläge erbitten?«

»Lassen Sie Kai unbehelligt. Er hat Bedürfnis nach Alleinsein, Selbständigkeit. Mag er's befriedigen.«

»Einverstanden.«

»Etwas Brom vor dem Schlafengehen. Kalte Abwaschungen morgens und abends.«

»Sehr wohl.«

»So wird sich die Nervosität beheben lassen.«

»Wie unnütz meine Erregung! – Ich danke Ihnen vielmals.«

»Keine Ursache. Ich bitte um Empfehlungen an die Frau Gemahlin.«

»Werden dankend ausgerichtet.«

Staatsrat Goedeschal wandte sich zum Gehen. »Noch eins. Kai möchte gern in den Wandervogel. Was meinen Sie dazu?«

»Wandervogel? Dieser Jungensverein? Ausflüge? – Natürlich. Wie gesagt, nicht behelligen.«

Eine Pause. Sie betrachteten ihre nach der Erregung wie verwelkten Gesichter.

»Und ihm Szenen ersparen, Szenen jeder Art.«

Auf einen fragenden Blick: »Bestrafungen ... nun, Sie wissen schon, was ich meine, sehr verehrter Herr Staatsrat. Guten Abend.«

»Guten Abend, mein lieber Herr Doktor.«


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