Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8

Er griff ein Buch aus den Reihen, schlug es auf, blätterte, las diesen und jenen Satz. Sein Wortsinn schien gleichgültig, tiefer tastend fühlte er: »Es sagt nur, daß ich zu Haus bin. Du dort hinten, du Ferne, du Erschrockene, und ihr, die ihr nach mir jagtet, bleibt draußen. Hier – der Schrank, der Sekretär, wieder umringt ihr mich und jenes fernere Leben, von dem ich Rettung erflehte, bleibt hinten.«

Er schlug die Vorhänge zurück. Auf dem Güterbahnhof glänzten die gleichgültigen Sterne der roten und grünen Lampen. Anfahrende Rangierlokomotiven schrieen aufgeregt, schwiegen, und nun ertönte das rasche, trockene Klappern der abgestoßenen Wagen. »Dort arbeiten sie. Die kleinen Pfiffe der Rangiermeister, ihr Laufen nach den Weichen, die zurückfallenden Kuppelungen der Wagen betreffen mich nicht. Sie alle, die dort draußen arbeiten, lachen und schlafen, haben nichts mit mir zu tun. Ich bin frei! Kein Weg führt von ihnen zu mir. Ich kann sie um Hilfe anflehen, Böses kann ich ihnen tun, sie verfolgen mich, aber am Ende bin ich doch immer hier im Geborgenen – allein. Verantwortungslos. Unerreichbar. Unsere Leben sind so getrennt, daß ich sie töten könnte, und nicht einmal das klebrige Gerinnsel des Blutes schüfe eine Brücke zwischen uns.«

Er ließ die Gardinen fallen, schob ihre Falten zurecht. Dem sich Umwendenden sprangen wieder die altbekannten, ruhigen Dinge entgegen.

Er entkleidete sich. Im Bett liegend, im Dunkel, fand er den Schlaf nicht. Den vergessenen Aufruhr des Körpers meinte er im Geist sich erneuen zu fühlen. Eine lässige Schwere dehnte seine Glieder in die Länge und rieb ihre Haut gegen die erhitzte Glätte der Laken. »Genügt ihm sein Sieg noch nicht? Immer noch nicht? Was hat er aus meinem Körper gemacht, scheinen nicht alle Glieder verwandelt?«

Er warf sich herum; das Kissen gegen seine Brust pressend, sein Gesicht darin vergrabend, meinte er das gleichmäßige Wogen ferner Wellen zu fühlen, schlanke Schiffe schaukelten im dunkelblauen Wasser eines Hafens, und ihre bewimpelten Masten neigten sich gegeneinander. »Ich werde hinuntergehen, in den Salon, und im Stehspiegel mich ansehen.«

Er hob den Kopf, lauschte in das Dunkel, die Augen weit aufgerissen horchte er auf zwei Stimmen, die sich begegneten:

»Welch Wahnsinn! Was für ein Vorschlag!«

»Ich bin verändert, eine Krankheit verzehrt mich. Vielleicht finde ich ihre Male und bin gerettet.«

»Jetzt in der Nacht! Die Treppen hinabschleichen, unten in nächster Nähe das Zimmer der Eltern!«

»Keiner hört es, ich werde nackt sein.«

»Habe ich nicht gestern erst gebadet, sah ich mich nicht?«

»Ich achtete nicht auf mich.«

»Habe ich mich nicht abgetrocknet, wo waren da die roten Flecke, die ich, von anstürmendem Blut gebildet, fürchte?«

»Sie können erst gekommen sein.«

»Seit gestern! – Ich bleibe!«

»Du gehst.«

»Nein.«

»Doch.«

Die Stimmen wurden still, nichts war entschieden, aber dann war es doch, als sei alles Reden nur nebenher gewesen, Kai stand auf und tastete die Stufen hinab.

Er hob die Hand. Auf den weißen Schimmer seines Leibes im großen Spiegel deutend, erkannte er: »Das bin ich, das ist mein. Das ist mein Leib, mein, das geht und läuft, wie ich will, das ißt und trinkt, Muskeln und Sehnen straffen und lockern sich – hierdurch lebe ich – und – so fremd, oh!, so fremd!«

Den rechten Fuß vorsetzend, stützte er die Hand auf die Hüfte und übersah rasch das leichte Auf- und Abwellen der Linien. Er füllte seine Lungen mit Luft. Der gleich einer Trommel im Ausatmen gespannte Bauch war ein Plateau, zu dem von den Seiten und unten das Fleisch herandrängte. Dem prüfenden Blick auf das Gesicht war auch dies nun fremd geworden, es war Fleisch; Fleisch, das sich rötete und erblaßte, das man immer vergaß, an das man nie dachte und das doch sein war – sein, sein: »Kai Goedeschal kann damit tun, was er will.«

»Und all dies ist vergessen gewesen, schien nie dazusein! Aber dies bin doch ich, hier, die Haut, kühl und gestrafft, dort von heißerem Blut gedehnt und weich, dieser Arm, der Fuß, das bin ich! Gehört mir allein! Nie wieder darf ich es vergessen.«

In jeder Linie, in jeder Falte und Muskel meinte er die Physiognomie seiner Innerlichkeit, Begründung seines Geschmacks und seiner Neigungen zu entdecken. Halb sinnlos murmelte er vor sich hin: »Ich muß meine Nacktheit erleben. Nacktheit erleben. Erleben? Was ist das?« sann er weiter. »Erleben, ist das nicht ...?« Er sah vor sich einen aufsteigenden Weg, er wollte »emporleben« sagen, aber da fand er das richtige Wort und sagte rasch: »Teil werden lassen an mir. Ich darf nie wieder meine Nacktheit, meinen Leib vergessen, immer muß ich an ihn denken. Er muß teil werden in mir.«

Ein freieres Gefühl überkam ihn. Wo waren die Schüchternheiten des Abends! Durch das Erkannte stolzgemacht, seines Eigentums gewiß, hob er sich auf dieselbe Höhe mit den Beneidetsten, ja, isolierte sich auch von ihnen.

Dann warf er sich herum. Über die Schulter schauend verwirrte ihn plötzlich heiß das schräge Anschaun der kleinen Rundungen seines Gesäßes. Wie es kam, er wußte es nicht – plötzlich lag er am Boden, er wälzte sich auf dem Teppich, mit einem seltsam schmerzlich wilden Gefühl erfüllten ihn die stacheligen Streicheleien der borstigen Unterlage. Er weinte haltlos, aber immer von neuem umschlang er mit den Armen seine Glieder, er verknäuelte sie, er biß sich in die Schenkel, seine ahnungslosen Hände umschlangen die Fesseln, streichelten die Haut der Brust. Bis zur Sinnlosigkeit erschütterte ihn die plötzliche Überwältigung seines Fleisches. Er versuchte seinen Nabel zu küssen.

Aber dann war er zu Tode erschöpft. Langsam wieder zu Atem kommend, auf der Erde liegend, fand er sich tief gefallen, der er sich eben noch so sehr erhoben hatte. Mit gesenktem Blick löschte er das Licht. Im Dunkeln tastete er zum Zimmer empor. Er wagte nicht, ein Hemd anzuziehen, aus Furcht, seinen Leib zu berühren. Man durfte ihn nicht wieder aufwecken. Alles war Lüge gewesen. Dieser Leib war kein Freund, kein Ich, er war der Feind.


 << zurück weiter >>