Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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110.

Herrenalb, den 10. August 1896.

Julie lebt noch, jetzt umgeben von sechsen der Ihrigen. Sie könnte zu Haus kaum besser gepflegt sein. Der Krankendienst, die Nachtwachen und alles, was dazu gehört, ist unter den Frauen in musterhafter Weise verteilt, während wir nutzlose Männer Botengänge machen und auch ohne solche fortgejagt werden. Es ist das einzig Richtige, was man in solchen Zeiten mit dem Herrn der Schöpfung tun kann.

Doch bin ich schon dreimal auch wieder geholt worden, weil sie glaubten, daß das Ende gekommen sei. Dann folgte ein kurzer Schlummer und ein neues Aufleben. Der Arzt meint seit einer Woche täglich, ein ähnlicher Fall sei ihm noch nicht vorgekommen, doch seien die letzten vierundzwanzig Stunden angebrochen. Ich habe aufgehört, ihn als Propheten zu verehren.

Sie ist nicht mehr fähig zu sprechen, aber Kindererinnerungen regen sich sichtlich in dem erlöschenden Geist. Es scheint sie zu beruhigen, wenn ich stundenlang Hand in Hand neben ihr sitze. Ich sehe dann hinaus über das grüne Tal hinweg und habe die jenseitige Bergwand mit dem kleinen Friedhof vor mir, von dem sie noch vor wenigen Wochen scherzend sagte, daß er ihr gerade passen würde. Es ist sicher genug, daß er ihr passen wird. Nicht zum erstenmal habe ich's erfahren, daß wir lächelnd ahnen, wo uns das bitterste Leid treffen soll. Doch nein! Dort draußen an dem sonnigen Hang, hinter dem ernste, schwarze Tannen einen grünbedachten Tempel aufbauten, wird sie kein Leid mehr berühren. Meine hastigen täglichen Briefchen geben Dir kein Bild von der Stille und Ruhe, die über dieser Natur schwebt, auch im Sterben.


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