Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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22.

Bonn, den 9. März 1884.

Endlich kommt es wieder einmal an Euch; auch an mich sozusagen. Denn in den letzten Wochen, die zu den interessantesten meines Lebens gehören, hatte ich nicht einmal Zeit, die gewohnten kurzen Tagebuchbemerkungen zu Papier zu bringen, so daß sich mein künftiger Biograph vom 15. Februar bis 5. März mit einer weißen Wüste begnügen muß. Für Euch will ich wenigstens ein Paar Bildchen anschwärzen, ohne Wahl und Ordnung, genau wie sie mir heute noch im Kopf umgehen.

Noch vor meiner Abreise erhielt ich ein Schreiben des Fürsten von Hohenlohe-Langenburg mit der freundlichsten Ablehnung, den Vorsitz in den kommenden Versammlungen zu führen, mit der mich auch seinerseits Graf Stolberg beehrt hatte. Zeitmangel; Arbeitsüberlastung. Allzu behaglich lebt ein Teil dieser hohen Herren in der Tat nicht. Ich schrieb nun an Rimpau, der in jeder Beziehung der geeignete Mann für den Tag gewesen wäre, erhielt aber umgehend die Antwort: Seinen Vortrag (»Die Aufgaben des künftigen Reichsvereins«) wolle er halten, präsidieren aber unter keinen Umständen; sein leidendes Gehör mache dies zur physischen Unmöglichkeit. Ich bat ihn nun, doch während der formalen Reden den Vorsitz zu übernehmen und ihn, sobald eine Diskussion entstehen sollte, dem Vizepräsidenten Noodt zu übergeben. Dies schien ein vortrefflicher Ausweg.

Den zweiten Vortrag: »Das Verhältnis eines staatlich nicht subventionierten Vereins zu den Regierungen«, hatte Thiel übernommen, und das erste, was ich im »Kaiserhof« in Berlin antraf, war ein Billett: daß er ernstlich erkrankt sei und nicht kommen könne. Noodt war sonntagshalber auch nicht aufzufinden, so landete ich nach längerem Umherkutschieren – o Ironie des Schicksals! – in der Neuen Ruhmeshalle, wo die Mordinstrumente aller Zeiten in künstlerisch schöner Weise aufgestellt sind, daß dem Teufel das Herz im Leibe lachen muß. Tausende drängten sich, Kettenkugeln, Kartätschen und Kugelspritzen zu bewundern. Ich kam mir recht klein vor mit meinem Landwirtschaftlichen Reichsverein in spe, ohne Präsidenten!

Noodt fand ich am Montag früh und machte ihm meinen Vorschlag bezüglich des Vizepräsidiums. »Unter keinen Umständen!« war seine prompte Antwort. Er sei politisch verdächtig bei den Agrariern und würde der Sache sechsmal mehr schaden als nutzen. Ich möchte doch Ökonomierat Kiepert in Marienfelde bitten, das Vizepräsidium zu übernehmen; der sei der beste Mann für derartige Aufgaben. Damit fuhr ich zu Thiel, den ich recht elend fand. Er erklärte, Noodts Vorschlag bezüglich Kieperts sei undurchführbar. Ich könne dem Präsidenten des mächtigen Deutschen Spiritusvereins unmöglich die zweite Stelle anbieten. ›Dies fängt an, pikant zu werden‹, dachte ich und fuhr nach Hause, um mich ein wenig zu stärken. Dort fand ich einen Brief von Rimpau, daß er auch meinen zweiten Vorschlag unter keinen Umständen annehmen könne; ich möge irgendeinen andern Ausweg suchen. Nun fuhr ich nach Marienfelde, einem Rittergut etliche zehn Kilometer von Berlin, und fand den stets gefälligen, herzensguten Kiepert nach einigem Sträuben bereit, meiner Verzweiflung ein Ende zu machen.

Ich will Euch mit der Geschichte von einem kleinen Dutzend ähnlicher Schwierigkeiten verschonen, die in den nächsten Tagen überwunden werden mußten und mich leidlich munter hielten. Das Ganze erinnerte mich lebhaft an die Anfänge des Dampfpflügens bei irgendeinem Pascha oder exotischen Zuckerpflanzer. Dieselbe Häufung von Hindernissen aller Art mitten im höflichsten Entgegenkommen, dieselben innern Zweifel an der Möglichkeit eines Erfolgs, die man lächelnd verstecken muß, dieselbe eiserne Notwendigkeit, aufs Ziel loszugehen, ohne zu beachten, was rechts und links geschieht. Die Dampfpflügerei war für meine jetzige Aufgabe keine schlechte Lehrzeit.

Am Dienstag schrieb ich ein halbes Hundert Sondereinladungen, um Leute zusammenzutrommeln; denn es wurde mir immer mehr bang, was aus meiner Versammlung werden würde. Ich hörte allzuviel von dem Widerstreben, das in den Kreisen der eigentlichen Agrarier zu gären anfange, überdies wollte es ein böser Zufall, daß der radikalste Zweig jener Richtung, die Steuer- und Wirtschaftsreformer, ihre Generalversammlung und das darauffolgende Festmahl im gleichen Gasthof abhalten wollten, in dem Noodt einen Saal für mich gemietet hatte.

Über den Verlauf der Versammlung haben Euch die Zeitungen das Wesentliche gesagt. Mein Begrüßungssprüchlein ging leidlich. Rimpaus Vortrag war kurz und sachlich. Man fühlte, daß ein Mann sprach, der wußte, was er wollte. Der Ausschuß zur Beratung des vorliegenden Statutenentwurfs wurde gewählt, und der Zeitpunkt für seine Zusammenkunft sowie der Tag für die eigentliche Gründung des Provisoriums bestimmt. Dann folgten einige hoffnungsvolle Trost- und Segensworte Kieperts, und damit war der Zweck des Tages erreicht. Interessant war, wenn man die tiefere Bedeutung des Vorgangs auch nicht gelten lassen will, nur ein Zwischenspiel. Die Herren Wirtschaftsreformer kamen in der Zahl von etlichen zwanzig Mann aus einem benachbarten Saal herüber. Sie waren sichtlich erstaunt, eine so große und ernste Versammlung vorzufinden, die zu sprengen nicht wohl anging. Sie schickten deshalb nur drei ihrer jugendlichen Kämpen vor. Der erste sprach seine Mißbilligung darüber aus, daß sich hier Leute versammelten, die drüben, im andern Saal, alles gefunden hätten, was die Landwirtschaft wirklich bedürfe. Der zweite, ein humorvoller Herr in Festmahlstimmung, drehte buchstäblich die Taschen seiner Beinkleider um und zeigte, daß sie völlig leer waren. Hier sehe man ein Bild unsrer heutigen Landwirtschaft. Diese Taschen zu füllen, müsse das Bestreben jeder Vereinigung sein, die ein Herz für den Landwirt habe. Das haben die Steuer- und Wirtschaftsreformer erkannt. Alles andre sei Schwindel. Der dritte endlich fragte in etwas säuerlichem Ton, was die Herren eigentlich wollten, die er mit Erstaunen in so beträchtlicher Zahl versammelt sehe. Wer sei denn dieser Eyth, den kein Mensch kenne? Vermutlich ein Herr, der sich mit der gewaltsam heraufbeschworenen Bewegung eine Stellung im Land zu machen suche.

Mit vielem Takte begrüßte Kiepert die ungebetenen Gäste zur Türe hinaus. Töricht war es meinerseits, daß es dem letzten der Redner gelungen war, mir einen Wespenstich zu versetzen, und daß die kleine Wunde, als ich abends todmüde nach Hause ging, noch immer ein wenig schmerzte. Ich hatte, sagte ich mir, nun anderthalb Jahre lang meine ganze Zeit und Kraft für diese Herren geopfert; und das war der Dank! Es war lächerlich, die Sache so aufzufassen; wahrscheinlich aber waren meine Nerven durch die Aufregungen der letzten Tage etwas angegriffen, kurz, ich schwur auf dem Wilhelmsplatz zu Berlin genau um Mitternacht den 14. Februar 1884 einen heiligen Eid, nie in meinem Leben von dieser – hier folgte ein unparlamentarischer Ausdruck – Gesellschaft einen roten Heller anzunehmen. Möglich, daß das alte Wort auch in diesem Augenblick zutraf: der Mensch in seinem Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist. Den Eid aber werde ich halten.

Die vorübergehende Mitternachtsstimmung klang vielleicht noch bis in den folgenden Sonntag hinein, an dem der Empfang des Landwirtschaftsrats im Klub der Landwirte stattfand, dessen Mitglied ich seit einiger Zeit selbst bin. Einige wenige dieser Herren, die heute als die offiziellen Vertreter der Landwirtschaft Deutschlands gelten, sind offene Freunde des entstehenden Reichsvereins, die meisten warten mit sichtlichem Unbehagen, wie sich die Sache des weitern entwickeln werde. An ihrer Spitze steht ihr Präsident, Herr von Wedel-Malchow, der mir mit sauersüßer Miene einen Finger reichte und sich rasch einer andern Gruppe zuwandte. Das ängstliche Zuwarten von Herren, welche sich durch die harmloseste Handlung der Welt nach irgendeiner Seite hin zu kompromittieren fürchten, ist eine Eigenheit, auf die ich allzuoft stoße. Was steckt dahinter? Mangel an Individualität? Mangel an moralischem Mut? Man sollte es nicht glauben, wenn man diese männlichen Bärte, diese schneidigen Soldatenköpfe ansieht. Aber das schneidet nur auf Befehl, oder wenn der Handgriff in gewohnter ordnungsmäßiger Weise möglich ist. Graf Behr, einer der regsten Agrarier, sagte etliche Tage später zu Noodt: Er könne nicht begreifen, wie die Geschichte so weit habe kommen können. Meine Mitgliederliste sei mit teuflischer Geschicklichkeit zusammengesetzt. Er sei überzeugt, Bismarck müsse gegen den Plan sein. Er werde zu Minister Lucius gehen und ihm die Staatsgefährlichkeit desselben klarmachen.

Ich würde eine solche Auffassung nicht für möglich halten, wenn ich sie nicht vor Augen hätte. Und neugierig bin ich, ob das junge Pflänzchen diesen ersten Sturm aushält. Er handelt sich um Verhältnisse und Kräfte, die sich aller Beherrschung durch einzelne entziehen. Mein moralisches Gleichgewicht gewann ich erst wieder in Magdeburg, wohin mich der Zentralverein der Provinz Sachsen zu einem Vortrag eingeladen hatte. Man ist dort unter Leuten, die auf dem festen Boden der Tatsachen und der Arbeit stehen und entschlossen sind, nicht zu versinken. Dort wurde mir wohler. Aber ich mußte schon am folgenden Tag nach Berlin zurück, wo der provisorische Ausschuß des Provisoriums seine erste Sitzung abhielt. Ihr seht, wie dies alles aus dem Nichts herausgearbeitet werden muß. Es galt, den Statutenentwurf durchzuarbeiten. Im allgemeinen blieb alles wie vorgeschlagen, nur etwas farbloser wurde das Ganze. Der Durchschnittsdeutsche von normaler Bildung hat eine unüberwindliche Scheu, dem praktischen Leben praktisch zu Leib zu gehen. Doch finden sich ausnahmsweise auch noch Leute, die im Gefühl ihrer Nationalschwäche nicht rasch genug mit dem Kopf gegen jede Mauer rennen können. So hatte ich einen lebhaften Kampf mit dem Abgeordneten Schultz-Lupitz, der den noch nicht geborenen Reichsverein ohne Verzug dazu benutzen will, dem deutschen Volk das Panier des Kainits voranzutragen. Mir scheint, wir sind noch nicht ganz reif für diesen Düngerenthusiasmus, so berechtigt er sein mag. »Lassen Sie uns doch erst auf die Welt kommen!« bat ich Schultz inständig. Er wollte nicht hören und verließ die Sitzung gekränkt und entmutigt.

Ihr werdet von dieser Geschichte noch mehr zu hören bekommen, fürchte ich. Sie scheint sich in hundert wirren Ringen wie eine Seeschlange vor mir aufzurichten. Dabei ist Schultz sichtlich ein kreuzbraver Mann und ein Idealist reinsten Wassers. Was nicht alles zum Ideal werden kann!

Dann aber floh ich nach Ruhrort zu Freund Schwarz, ließ mir von Schiffen erzählen und von den Nöten und Triumphen der Tauerei, und gestattete seiner liebenswürdigen Frau, mich zu pflegen. Es war hohe Zeit.


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