Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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40.

Bonn, den 25. November 1885.

Eine üble Gewohnheit neuerdings, meine Briefe mit einem Trompetenstoß zu beginnen! Aber nur Geduld, es wird schon wieder anders kommen. Diesmal aber mußt Du mich noch einmal mit vollen Backen blasen lassen. Bismarck, der große Bismarck ist Mitglied der D. L. G. geworden!

Schon vor zwei Monaten wurde der Versuch gemacht, ihn für die Sache zu gewinnen. Geheimrat Dünkelberg kennt sein land- und forstwirtschaftliches Faktotum, Lange, und setzte diesen in Bewegung. Darauf kam die Antwort, daß der Fürst grundsätzlich keinem Verein beitrete, um in der Vereinsmeierei des großen Vaterlands, das wir ihm verdanken, nicht ersticken zu müssen. Und nun erhalte ich aus vorläufig unerklärlichen Ursachen ein kurzes Schreiben von Graf Rantzau, daß Seine Durchlaucht hiermit seinen Beitritt erkläre. Es ist dies natürlich nur eine Formsache – mitarbeiten wird Seine Durchlaucht schwerlich –, allein eine Form, auf die auch der stolzeste Verein stolz sein dürfte; und das sind wir doch noch nicht, unmittelbar vor unsrer Geburt.

Diese aber bereitet sich jetzt mit Macht vor. Die Novembersitzungen liegen hinter uns und haben alles Vorgesehene und nichts Unvorhergesehenes gebracht. Die letzten Änderungen meines Verfassungsentwurfs, die sich vornehmlich auf meine Stellung zur Gesellschaft bezogen, erfand Kiepert, und schließlich war das Ganze so vorbereitet und eingepaukt, daß es ohne irgendwelche Für- und Gegenrede vom Ausschuß angenommen wurde und voraussichtlich am 11. Dezember, dem kommenden feierlichen Gründungstag, von der Generalversammlung bestätigt werden wird.

In diesen Bestimmungen, mit deren Einzelheiten ich Dich verschone, ist nahezu alles geblieben, wie ich sie mir ausgedacht hatte. Nur ich bin, wie sich bald zeigen wird, mehr Diktator geworden, als mir lieb ist, obgleich der Diktatur eine möglichst zurückhaltende Form gegeben wurde. »Geschäftsführendes Mitglied des Direktoriums« klingt wenigstens nicht anmaßend. Dies muß festgehalten werden, solange ich mit der Sache zu tun habe, wenn das Ziel erreicht werden soll, das mir vorschwebt. Weit besser noch wäre es, wenn ich nach Landessitte »Geheimes geschäftsführendes Mitglied des Direktoriums« sein könnte. Du siehst, auch ich fange an, in rollenden Titeln zu schwelgen und am »Geheimen« meine heimliche Freude zu finden. Zum Schluß dieser Auseinandersetzungen aber verzeihe mir die Langeweile, die sie Dir gemacht haben. Einmal mußte ich Dich damit quälen. Wüßtest Du, wieviel hundertmal ich sie im Kopf hin und her gewälzt habe!

Ungefähr drei Tage lang hatte ich dem Sturm von Glückwünschen zu trotzen, die sich nach meiner Ankunft in Berlin erneuten. Niemand, war der vielen Reden kurzer Sinn, hätte vor einem Jahr geglaubt, daß ein solcher Erfolg möglich sei. Noch nie seien in Deutschland so viele deutsche Landwirte unter einen deutschen Hut gebracht worden. Wenn ich das alles kühl ansehe, wie ich es kühl anhörte, so wird mir etwas bang. Es zeigt die ganze Trostlosigkeit unsrer Verhältnisse. Wie soll das weitergehen, wenn die Leute schon jetzt, ehe die Fundamente lose aufgeschüttet sind, sich über sich selbst wundern, als hätten sie einen Prachttempel errichtet. Die einzige Gruppe, in der etwas sachlich Nennenswertes fertig gebracht wurde, ist die Düngerabteilung. In dieser aber haben die drei Hauptpersonen, Schultz, Beck und Grahl, solche Händel, daß es meines ganzen milden Scharfsinns bedarf, Mord und Totschlag zu verhindern. Kaum war ich in Berlin angekommen, so stand Beck vor meiner Tür und erklärte, mit den andern zwei Herren sei es unmöglich, weiterzuarbeiten. Dieselben seien der Ruin nicht bloß der Sache, sondern ganz Deutschlands. Gleich darauf kam ein Telegramm von Schultz-Lupitz: sobald er in Berlin eintreffe, müsse er mich dringend sprechen. Er sprach mich denn auch dringend, nach einem heißen Tag, von halb neun bis Mitternacht und erklärte, daß Beck zweifellos verrückt sei und Grahl jede Gelegenheit benutze, die D. L. G. zu Fall zu bringen. Grahl denkt über die beiden andern nicht um ein Haar besser, und das ist die erste Kommission, die wir für praktische Zwecke nach dem Grundsatz: »viribus unitis« und »Eintracht macht stark« gebildet haben. Was man von mir denkt, sagte mir Thiel gelegentlich beim Nachhausegehen nach einer langen Geheimsitzung, in der wir die Liste der achtzig Ausschußmitglieder festgestellt hatten, für die ich Vorschläge durch eine Umfrage in den zwölf Gauen zusammengebracht hatte. Wir waren beide gründlich erschöpft, und fast wehmütig meinte er: »Sehen Sie jetzt, wie es bei uns steht? Welch behagliches Leben könnten Sie führen, wenn Sie vernünftig wären.«

In der entscheidenden Sitzung am Schluß der Woche wurde Grundgesetz und Geschäftsordnung noch einmal gründlich durchgenommen. Zur sichtlichen Genugtuung aller versprach ich, die Leitung der Geschäfte nach dem vorgeschlagenen Entwurf auf zwei Jahre zu übernehmen. Der Plan, versicherte mir jedermann, könne ja jederzeit und in jeder mir passenden Weise abgeändert werden. Ich hatte mich in meinem eignen Netz dermaßen gefangen, daß mir nichts übrigblieb, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. War es doch eigentlich kein böses Spiel. Zum Schluß wurden sieben weitere Sonderausschüsse gebildet: für Saatgut, für Ackerbau, für Tierzucht, für Maschinenwesen, für Landeskultur, für die erste Wanderversammlung und für die erste Ausstellung. Wenn es jetzt nicht mit den Taten losgeht, ist uns nicht mehr zu helfen. – Nach all dem saß ich halb betäubt noch ein paar Stunden lang mit Geheimrat Settegast zusammen, einem Sprachkünstler erster Klasse, um alle Fremdwörter aus unsrer Geschäftsordnung auszujäten. Dann stieg ich in meinen Kölner Nachtzug, innerlich und äußerlich »fertig«.

Übrigens noch nicht ganz. Denn gegen Mitternacht, im rhythmischen Rasseln der Räder, packte es mich wieder einmal in alter Weise, so daß ich im Morgengrauen des folgenden Tags mit einem Festgedicht in Bonn ankam. Wenn ich Galgenhumor genug finde, es am 11. Dezember aus der Rocktasche zu ziehen, bekommst auch Du es zu lesen.

Noch etwas Nebensächliches aus Berlin, als Beweis, daß auch dort nicht alles in Grundgesetz und Geschäftsordnung unterging. Schon vor mehreren Monaten hatte ein mir völlig unbekannter Herr Hensel geschrieben, daß er und seine Familie mein Wanderbuch gelesen haben und sie dringend wünschten, mich kennen zu lernen. Er sei der Sohn von Fanny Hensel, der Lieblingsschwester von Felix Mendelssohn-Bartholdy, und der Vater eines Buchs: Die Familie Mendelssohn, das ich vielleicht kenne. Hierin täuschte er sich; ich aber lief schleunigst in meine Buchhandlung und kenne es jetzt. Er habe das Unglück, Direktor einer Berliner Ballgesellschaft zu sein. Ich möchte ihn doch besuchen. Ähnliche Briefe wiederholten sich, bis ich zwischen den Zeilen die Bibelstelle herauszuhören glaubte: Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Überdies zog die »Familie Mendelssohn« fühlbar. So besuchte ich ihn diesmal in seinem Bureau in der Mohrenstraße, und fand einen liebenswürdigen, in geistreichen Sprüngchen sich fast überstürzenden Herrn, der mich sofort nach Westend schleppen und den Seinen vorstellen wollte. Das ging nun nicht ohne weiteres, macht sich aber vielleicht später. Jedenfalls ist mir Berlin jetzt nicht mehr eine wildfremde Stadt, die mich noch vor einem Jahr anstarrte wie eine Zusammensetzung von Kalkutta, Tobolsk und Chikago. Man wird wohl auch hier leben können, wenn man muß.


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