Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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Neunter Abschnitt. 1895 – 1896

Stuttgart

104.

Berlin, den 20. Oktober 1895.

Die Hitze in der Zimmerstraße, in der ich so manchmal sehnsüchtig nach Tiroler Bergluft schnappte, tut mir nicht mehr weh, aus dem einfachen Grund, weil wir aus unserm alten Nest, in dem ich zehn Jahre lang gewirtschaftet habe, nun glücklich ausgewandert sind, und das neue, schönere und bequemere Heim der D. L. G. jetzt Kochstraße Nr. 73 heißt. Nun haben wir Platz, Luft und Licht, vergoldete Treppengeländer und glasbemalte Fenster im Stiegenhaus und allen sonstigen Zubehör, der die Notlage der Gegenwart im allgemeinen charakterisiert. Auch meine Stube ist zweimal so groß, als sie war, und neu ausgestattet. Wölbling, der all dies besorgt hat, sucht mich sichtlich für die letzten Jahre meines Daseins auf besonders feine Federn zu betten.

Im neuen Haus beschäftigte uns zunächst die Frage meines Nachfolgers während langer, nachdenklicher Sitzungen. Der Plan, jemand zu suchen, dem meine billigen Schuhe passen würden, wurde nach kurzem Überlegen auf die Seite geschoben. Es war mit allem Umfragen niemand zu finden, der sie auch nur anprobieren wollte. Dabei entdeckte man mit der Zeit einen andern Ausweg, der gangbar zu sein scheint. Die Herren des hohen Direktoriums versprechen feierlich, sich mit verteilten Rollen mehr als bisher um den inneren Betrieb der Gesellschaft zu kümmern. Wölbling übernimmt neben seiner bisherigen Tätigkeit das Ausstellungswesen, soweit es sich von Berlin aus leiten läßt. Schiller, seit zwei Jahren mein technischer Hilfsarbeiter, wird für den Aufbau der Ausstellungen verantwortlich, und so gilt es nur einen Mann zu finden, der die nicht unwichtige repräsentative Seite der Ausstellungsvorbereitungen übernimmt. Hierfür meldeten sich fünfzehn Bewerber, worunter bezeichnenderweise nur drei Landwirte, dagegen acht Offiziere, vom Hauptmann bis zum General. Schließlich beschränkte sich die Wahl auf zwei: einen sichtlich sehr tüchtigen jüngeren Hauptmann z. D. und einen älteren Generalmajor, der mit besonderem Eifer eine passende Tätigkeit suchte und den gewinnendsten Eindruck machte. Aber es war nicht zu verkennen: der »General« machte uns bange, so daß das Direktorium in der entscheidenden Sitzung zwei Stunden lang plaudernd und schweigend überlegte, wo die größere Wahrscheinlichkeit eines Mißgriffs liegen möge. Alle denkbaren Versuche wurden gemacht, mich zu bestimmen, das entscheidende Wort zu sprechen. Ich weigerte mich jedoch hartnäckig und erklärte wiederholt und feierlich: »Sie, meine Herren, haben später mit dem Mann zu tun, nicht ich. Zwölf Jahre habe ich so ziemlich alles entschieden, was in unserm Wirkungskreis Bedenken und Zweifel erregte. Jetzt ist die Reihe an Ihnen. Ich stimme mit der Majorität!« Dann wurde aufs neue hin und her erwogen. Schließlich platzte der alte Sombart heraus, ein Mann von wunderbarer Energie für seine 79 Jahre, dem die Sache langweilig wurde: »Ich habe am meisten Angst vor dem ›General‹, aber ich hab's jetzt satt; ich stimme für Herrn von Holleben!« – Worauf Generalmajor von Holleben einstimmig gewählt wurde.

Nun ist für das kommende halbe Jahr ein sechsundfünfzigjähriger höherer Offizier der Kgl. preußischen Armee, früherer Gouverneur des Kadettenhauses zu Potsdam und Kommandeur einer Brigade zu Magdeburg, mein Schüler! Weiter kann es der Mensch nicht bringen. Es ist Zeit, daß ich wieder von unten anfange. Das wird ja bald genug kommen und hat mir noch immer gut getan.

Erinnerst Du Dich, wie ich als hochweiser Polytechniker schweren Herzens zum Schraubstock herabstieg, wie ich als superkluger Ingenieur von Dampf- und Gasmaschinen das Pflügen lernte, wie ich als anglisierter »berühmter Landsmann« mühselig die ersten Mitglieder der D. L. G. zusammenklaubte und eigenhändig für das erste provisorische Heim derselben einen blechernen Briefkasten kaufte? Aber neugierig bin ich doch, was nun kommen mag.


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