Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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4.

Bonn, den 4. November 1882.

Du hast es aufgegeben, mir das vermeintlich Nutzlose meines Treibens vorzustellen und deutest an, daß ich mir die Zeit in angenehmerer Weise vertreiben könnte als mit dem Schreiben von einundzwanzig Aufsätzen über ein nicht übermäßig interessantes Thema. Ich wage nicht, zu widersprechen. Aber ich bin entschlossen, etwas zu erreichen, bei dem die öffentliche Meinung ins Spiel kommt. Sie zu beeinflussen gibt es kein andres Mittel, als immer wieder das gleiche zu sagen. So fängt das schwer bewegliche Trommelfell der Masse an, in gleichen Schwingungen zu vibrieren und die dumpfe Seele der Menschheit wird unruhig. Dann gilt's, nicht nachzulassen. Summt es lange genug in ihren Ohren, so fängt sie an zu glauben, um Ruhe zu bekommen, und schließlich gerät sie in Bewegung, sie weiß nicht wie. Zugegeben, die Arbeit ist einförmig: das Tapptapp im Hammerwerk zu Ernsbach, mit dem Ihr mich in meiner Kindheit geneckt habt. Aber es schmiedet schließlich den härtesten Stahl und macht Stangen und Reifen aus der unförmlichen Masse. Das habe ich in England und Amerika gesehen. Könnte es nicht auch hier zutreffen?

Oft will mir's allerdings wunderlich vorkommen, wie anders sich hier die Massen bewegen lassen. Alles Befehle und Verbote und Anweisungen im Kommandoton, wo man anderwärts mit Suggestionen, Ratschlägen und klugem Überlisten sich behelfen muß. Vor etlichen Wochen hat der preußische Kultusminister die Schulbehörden angewiesen, ihre Jungen eifriger zum Spielen anzuhalten. Man denke sich etwas der Art auf einem Kricketfeld in England! Die kleine Verordnung liegt mir wie ein Stein im Magen, obgleich sie mich nichts angeht, und macht mich förmlich traurig. Steine im Magen sollen gewöhnlich diese Wirkung haben.

Übrigens versinkt man in landwirtschaftlicher Vereinsmeierei so wenig als in aufziehenden Herbstnebeln. Letzte Woche noch genoß ich einen herrlichen Tag zur Feier des Abschlusses meines dritten Aufsatzes – es ist merkwürdig, wieviel ich immer zu feiern habe –, indem ich nach Remagen fuhr und von dort nach Bonn zurückpilgerte; eine tüchtige Siebenstundentour mit den Umwegen, die sich daran schlossen. Denn ich bestieg natürlich an Hügeln, was mir in den Weg kam: den Apollinarisberg, die Rolandsburg und den vulkanischen Rodderberg, auf dessen Feuerherd sich ein Bauer mit Haus und Hof niedergesetzt hat. Der ganze Kraterwall ist noch aufs deutlichste zu erkennen, und die umherliegenden Lavaschlacken haben das Aussehen, als ob sie gestern ausgespien worden wären. Die mittlere Krateröffnung ist allerdings geschlossen, und der Bauer, ahnungslos wie Bauern sind, baut seinen Weizen mitten im Rachen der Urzeit. – Der Blick von der Rolandsburg auf Nonnenwert und das Siebengebirge ist der ganzen Welt so bekannt, daß sich nichts darüber sagen läßt, als daß die ganze Welt nicht imstande ist, der schönen Natur den Duft abzustreifen, trotz Eisenbahnen, Dampfschiffen, Hotels und andern Greueln. Und dann das Jauchzen und Singen entlang dem silberglänzenden Strom, das fröhlich-geschäftige Treiben des Herbstes auf den buntfarbigen, rebenbedeckten Berghalden!

So strahlt das Leben der Natur im Herbstsonnenschein. Acht Tage später war das Wetter umgeschlagen, und ich sah etwas von ihrem Sterben. Der schöne Bonner Friedhof liegt ganz in der Nähe meiner Wohnung. Einige seiner Denkmäler, wie das Schumanns, sind Meisterwerke, und das Kriegerdenkmal, das nicht unpassend auf geweihter Erde steht, ist eines der besten, die ich kenne. Der Allerseelentag wird hier natürlich in katholischer Weise gefeiert. Reiche Leute bedecken ihre Gräber mit Riesenkränzen und prächtigen Blumen. Studenten legen auf die ihrer Freunde Schärpen und gekreuzte Schläger. Dazwischen sieht man das frisch aufgeworfene Grab eines Armen, an dem kleine Waisenkinder weiße Beerchen in die Erde drücken und so ein Herz oder ein überaus krummes Kreuz zustande bringen, das einen geradlinig fühlenden Menschen zu Tränen rühren kann. Gegen Abend steckt alles Dutzende von Kerzen zwischen die Blumen und um die Beerchen und zündet sie an. Dann kommt der Novemberwind und bläst sie wieder aus. Die Totenfeier, welcher nun viele hundert fromme Seelen in stillem Eifer obliegen, scheint im wesentlichen darin zu bestehen, mit einer der noch brennenden Kerzen die ausgelöschten wieder anzuzünden und so einen unablässigen Kampf gegen die Mächte der Finsternis zu führen. Gegen sechs Uhr kommt die Polizei und bedeutet den Leuten sanft, aber bestimmt, daß sie jetzt genug gebetet haben und nach Hause gehen mögen. Dann ist der Herbstwind Herr im Feld. Zehn Minuten später hat alles Geflacker um Kreuze und Grabsteine aufgehört, und die armen Seelen haben wieder Ruhe. Es ist trotzdem ein schönes Fest, um das man die katholische Welt beneiden kann, sonderlich wenn man in England ein paar Jahrzehnte lang gesehen hat, wohin eine kalte, rationelle, allzu protestantische Nichtachtung des Erdenkloßes führt, aus dem der Mensch gemacht ist.

Als ich nach Hause kam, fand ich eine Todesnachricht auf meinem Tisch. Der gute, alte Burton, der Erfinder des Clipdrums, mit dem ich jahrelang mein Arbeitszimmer geteilt habe, ist gestorben. Ursprünglich ein Pianofortemacher in bescheidenen Verhältnissen, hatte er einen Kopf voll einfacher Gedanken, wo andre, weniger geniale Leute die größten Komplikationen sahen. Dabei war er ein Mann ohne Energie, wenn es galt, seinen Ideen Anerkennung zu verschaffen. So wurde er gründlich ausgebeutet, ohne von eigentlich bösartigen Menschen umgeben zu sein, und pflegte eine Art weicher Ergebung, die zuzeiten bitterer zu schmecken schien als die kühle Philosophie, mit der sich andre, die ich nicht nennen will, in ähnliche Verhältnisse finden.

Nun bin ich nicht mehr der einzige der Generation, die die Dampfkultur in die Welt gesetzt hat, welcher im laufenden Jahr das alte Haus verläßt.


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