Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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13.

Bonn, den 6. Mai 1883.

Der Tag, an dem ich in der schwäbischen Heimat vor leider allzu langer Zeit das Licht der Welt zum erstenmal bemerkte; der Tag, an dem im fernen Kuba mein lieber Bruder starb! – Daß ich ihn schon ein paarmal im Drang des Lebens vergaß, wißt Ihr. Diesmal soll es nicht geschehen. Ich will heute nachmittag nach Heisterbach pilgern, meinem Lieblingsplätzchen in der Umgebung Bonns, und hinter dem zerfallenen Klosterbau Todesbetrachtungen anstellen, an derselben Stelle – kann ich annehmen –, wo jener leichtsinnige Mönch wegen einer Nachtigall seinen Geburtstag dreihundertmal vergessen hat. Heute vormittag aber will ich mich zuvor nach rückwärts und vorwärts im Leben umsehen. Keine schlechte Vorbereitung für die Waldesstille hinter dem Petersberg.

Ein bewegtes Jahr liegt hinter mir. Der Abbruch einer langen Arbeitszeit, das Losreißen von einem Beruf, der mein ganzes Sinnen und Trachten dreißig Jahre lang erfüllt hat. Keine Expansionssteuerungen, keine Zentrifugalpumpen, keine Patentregulatoren werden mehr an meinem Wege blühen. Das alles ist hinter mir versunken, plötzlich, fast mit einem Schlag.

Vielleicht nicht ganz. Ich denke an die Ausstellungen, wie ich sie mir vorstelle. Kein Schwindel, kein leeres Schaugepränge: ernste, fortgesetzte Arbeit für die große Welt, in der wir Maschinenleute heute die treibende Kraft sind. Möglich, daß mir in dieser Form eine größere Aufgabe blüht als hinter Schraubstock und Reißbrett.

Die Sache wird immer ernster, ohne daß meine Hoffnungen gewachsen wären, so daß für die nächste Zukunft ein regelrechter Arbeitsplan nötig ist, wenn ich nicht im uferlosen Meer der Möglichkeiten versinken soll. Jedermann verweist mich auf die kommende internationale landwirtschaftliche Ausstellung zu Hamburg. Dort fänden sich die Leute zusammen, mit denen der Anfang gemacht werden könnte. Gut. Von diesen Tagen an muß ich innerhalb eines halben Jahres zweihundertfünfzig Mitglieder geworben haben, die schwören, der Sache zwei Jahre lang treu zu bleiben und sich das Provisorium des Deutschen Reichsvereins für Landwirtschaft nennen mögen. Im Lauf dieser zwei Jahre müssen sich 2500 Mitglieder, deutsche Landwirte und Freunde der Landwirtschaft, um unser Banner geschart haben. Jahresbeitrag 20 Mark. Dann erst soll der Reichsverein selbst gegründet werden. Auf diese Weise würden wir mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Mark und mit einer anständigen Mitgliederzahl, die auf Selbständigkeit und Selbsthilfe eingeschworen ist, beginnen und könnten etwas leisten. Bis dahin aber soll das Ganze als ein Experiment betrachtet werden. Bringe ich meine 250 Mann nicht in sechs Monaten, bringen diese ihre 2500 nicht in zwei Jahren zusammen, so wissen wir, daß der Boden für diese Art der Bearbeitung ungeeignet ist, und gehen still wieder nach Haus. So muß es versucht werden. Einen andern Weg sehe ich nicht.

Weit entfernt, hoffnungsfroh zu sein, bin ich nicht einmal sicher, ob ich in Hamburg zu einem Anfang kommen werde. Aber die Schwierigkeiten, die in den letzten Monaten mit jedem Tag deutlicher hervortreten, zeigen auch die Größe der Aufgabe, die zum Opfer von ein paar Jahren berechtigt, selbst wenn sie verloren sein sollten. Ohne alle verwerfliche Gefühlserregung beginnt mich die Sache dermaßen zu interessieren, daß ich aus bloßer Neugier bereit bin, ihr so viel meiner Kraft und Zeit zu schenken, wenn es auch beträchtlich mehr ist, als ich ursprünglich dafür ausgeworfen hatte. Denn von der Hälfte des Tags ist längst keine Rede mehr. Alles oder nichts ist die Losung und wird es wohl in nächster Zeit bleiben.

Meine Papierwirtschaft ist großartig und fast nicht mehr zu bewältigen. Die Broschüre über die englische R.A.S. habe ich mit der Frechheit, die der Glaube an eine gute Sache mit sich bringt, glänzend gebunden dem Kaiser und allen Königen und Fürsten des Deutschen Reichs geschickt und zumeist die höflichsten Dankschreiben und etwas zweifelhafte Versicherungen des Interesses der Allerhöchsten erhalten. Wichtiger waren eine Reihe andrer Antworten auf weniger fürstlich eingebundene Zusendungen; wenige freudig ermunternd, die meisten höchlich verwundert, mild-hoffnungslos; darunter manche wohlgemeinte Ratschläge, die ich nicht beachten darf, wenn ich vorwärts kommen will, und eingehende Begründung des allgemeinen Kopfschüttelns, an das ich schon halb und halb gewöhnt bin. Aus hocharistokratischen Kreisen wird mir gesagt: »Ihr Gedanke ist unausführbar, wenn Sie nicht eine bestimmte politische Stellung einnehmen. Wie können Sie erwarten, daß ein Graf Mirbach und ein Eugen Richter an einem Tisch zusammen ratschlagen werden. Die Zumutung ist eine Beleidigung.« – Sachlicher ist eine Stimme aus dem praktischen Leben: »Sie sind in einem unglücklichen Augenblick gekommen. Es fehlt zurzeit der Landwirtschaft an einer packenden Aufgabe. Das Gefühl, daß wir eine Organisation für gemeinsame Arbeit brauchen, haben nur die wenigsten.« – »Ja,« ruft ein dritter in einem bitterbösen Brief, »wenn Sie nicht mit aller Energie für die einzige Rettung der Landwirtschaft eintreten: für den ausgiebigsten Schutzzoll, haben all Ihre Bestrebungen keinen Zweck.«

Und schließlich bemerkt ein Herr, der die landwirtschaftlichen Vereinsverhältnisse besser kennt als alle andern zusammen: »Wissen Sie was, lieber Eyth: 250 Mitglieder bekommen Sie. So viel Narren gibt es in Deutschland, die bei jedem Schwindel mitmachen. 2500 niemals! Aber ich wünsche Ihnen von Herzen den besten Erfolg.« Und dieser Herr tat mehr. Er bot mir ohne weiteres seine Mitgliedschaft an – der erste weiße Rabe, den ich fing –, sobald ich es für gut fände, Mitglieder für das Provisorium zu werben. Er hatte den moralischen Mut, sich selbst an die Spitze der 250 zu stellen, die er vielleicht nicht ganz unrichtig charakterisiert hat.

Im allgemeinen ist aus den Briefen ein gewisser Rückschlag herauszufühlen, seitdem die Leute merken, daß es mir ernst ist. Zu Anfang sah man nur einen wunderlichen Gedanken, ohne jede praktische Bedeutung. Man konnte den halb verrückten Halb-Engländer, der so gar nicht wußte, wie das Land lag, mit wohlwollender Höflichkeit zurechtweisen. Das schien er jedoch nicht zu verstehen. Man muß schon etwas deutlicher sprechen.

Das Merkwürdigste ist mir und zugleich das Traurigste, wie sie alle, ohne Ausnahme, von unsrer Unfähigkeit überzeugt scheinen, etwas fürs allgemeine Beste selbständig und ohne Befehl von oben zu tun, und wie üppig unser Nationallaster: die Rechthaberei, das unfruchtbare Wortgestreite, die Unmöglichkeit, »ja« zu etwas zu sagen, das ein andrer gesagt hat, in Blüte steht.

Jetzt aber ins Kloster, nach Heisterbach!


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