Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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48.

Schruns in Montafon, den 10. August 1886.

Mein guter Freund Schwarz hat mich hierhergelockt. Einen größeren Freundschaftsdienst hätte er mir nicht erweisen können. Was mir not tat, war nicht ein verlorenes Felstal oder ein einsamer Berggipfel, sondern das liebliche Montafon mit seinen freundlichen Bewohnern, die lachende Sonne auf den blitzenden, nicht zu nahen Schneebergen, das friedliche Glockengeläute auf den Almen ringsumher. Hier ist gut sein, und seit acht Tagen werde ich langsam wieder ein Mensch, ähnlich andern Wesen meiner Gattung.

Das alles mußt du selbst sehen. Ich will Dir deshalb nichts erzählen vom Silbertal und seinem brausenden Wildbach, von den stillen Kapellen auf dem Bartholomäusberg, von der Sulzfluh, an der ein bescheidenes Gletscherchen klebt, und von der wundervollen Luft, die über all dem webt und wogt und dem Menschen wieder Mut und Kraft gibt. Auch käme ich nicht dazu, all dies auch nur zu erwähnen, wenn nicht ein milder Sommerregen vor meinem Fenster auf das sattgrüne Laub der Bäume rieselte und mir eine sanfte Ermüdung, die ich der Scesa plana verdanke, das Briefschreiben nahelegte.

Es war ein herrlicher zweitägiger Ausflug; keine Kletterei irgendwelcher ernsterer Art, aber gerade genug für einen sorgenbeladenen Mann meines Alters und Gewichts. Der Abend in der Douglashütte am einsamen Lünersee stand fast noch zu sehr unter dem Zeichen trinkbarer Kultur. Dann aber ging's in tiefer Nacht unter einem kalten Sternenhimmel – eine Reihe mit Laternen bewaffneter Diogenesse – durch Felsentrümmer entlang dem Seeufer und empor an den steilen Hängen des Gebirgsstocks. In der Dämmerung winkten uns weiter oben rötlich angehauchte Halden voll schlummernder Alpenrosen; dann kamen, geisterhaft bleich, die ersten Schneeinseln, die der Neuling im Bergsteigen jubelnd begrüßt, später das »Totenfeld«, ein steil abfallendes großes Schneefeld, das man nicht ohne einiges Zögern kreuzt, schließlich ein Gewirr von Felsblöcken, das den Gipfel krönt, und damit auch, wie auf Verabredung, die Morgensonne, die, soweit das Auge reicht, eine ganze Welt von Zacken und Spitzen mit ihrem Gold überschüttet. Wie dort oben mit jedem Schritt die Brust weiter wird und die Seele freier, so daß sie zerfließen möchte in der großen Gotteswelt, hoch über der dunstigen Enge zu unsern Füßen. Und gleichzeitig regt sich in der sonnigen Stille die wiedererwachende Spannkraft. Wir fühlen, daß auch wir in dieser Gottesnatur unsern Platz haben, unten im dämmernden Nebel der Täler, draußen in der duftigen Ferne, und daß sie uns nicht umsonst die Kräfte erneut, die wir in ihrem Dienst gebrauchen, jeder in seiner Art.

Wahrhaftig, es ist nicht bloßes Scheinen: es liegt eine ausgleichende Milde im Leben der unberührten Natur, und es ist, als ob wir einen Teil davon bis in unsre Niederungen mit hinab nähmen, die lindernd und stärkend zugleich unser unharmonisches Menschendasein durchdringt. Laß Dir ein Beispiel erzählen, von dem mir täglich erzählt wird. Eine halbe Stunde von Schruns liegt ein freundliches Nonnenklösterlein. Es ist mit einer kleinen Badanstalt verbunden, die die Schwester Angelika in Zucht und Ehren verwaltet. Nun kommt seit mehreren Jahren der preußische Kultus- und Kulturkampfminister Falk nach Schruns, um inmitten der katholischen Älpler seine Sorgen auf ein paar Wochen zu vergessen. Und ebenso regelmäßig nimmt er dann zweimal die Woche bei der Schwester Angelika sein Gebirgswasserbad. Daß ersichtlich eine warme Freundschaft zwischen dem Minister Baalims und der frommen Schwester aufgeblüht ist, des freut sich das ganze Tal.

Der Regen hat aufgehört. Der Wildbach im Silbertal braust mir lauter in die Ohren. Ich muß doch nachsehen, wie er mit den Felsblöcken fertig wird, die ihm im Wege liegen.

Merkwürdig, daß alle Kraft von oben kommt. Das klingt wie ein Sätzchen aus einer Predigt, und ist doch nur eine Tatsache der Physik. Wer weiß, manchmal predigt auch die Physik, dem, der Ohren hat, zu hören.


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