Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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20.

Bonn, den 10. Januar 1884.

Eine willkommenere Gabe hätte mir ein freundliches Geschick nicht unter unsern Weihnachtsbaum legen können als den zweihundertfünfzigsten Mann meines Reichsvereins. Sein Eintreffen stimmte fast auf den Tag, so daß die Aufgabe, die ich mir für das vergangene Jahr gestellt hatte, genau vierzehn Tage vor Ablauf der gegebenen Frist (den 7. Januar) gelöst war. An diesem Tag hatten wir bereits 265 Mitglieder, denn die Mühle steht nicht still, und ihr fröhliches Klappern geht weiter im neuen wie im alten Jahr.

Vox populi! Das millionenköpfige Orakel hat gesprochen, und seine Priester schütteln verwundert die Köpfe. Es sprach diesmal anders, als die Weisesten prophezeit hatten. Nun heißt es: vorwärts! Zum zweitenmal frage ich dich, millionenköpfige Pythia: willst du oder willst du nicht? Heute über zwei Jahren müssen zweitausendfünfhundert Männer beisammen sein, wenn unser Reichsverein leben soll. Und wieder schütteln die Weisesten die Köpfe, und ich höre noch immer das »250 ja, 2500 niemals!« Ich warte auf deine Antwort, heilige Pythia. Aus meiner Ruhe aber sollst du mich nicht bringen mit deinem ja oder nein. Das sei für die kommenden zwei Jahre das Zeichen, unter dem ich kämpfe.

Das vergangene Jahr hat mir gezeigt, um was es sich handelt, und welche Klippen in unserm Wege liegen: im Norden und Osten die immer deutlicher hervortretende Gegnerschaft gerade derjenigen, auf die ich in erster Linie gerechnet habe und noch rechnen muß, wenn der Plan Leben gewinnen soll: der Großgrundbesitzer, des Adels. Im Westen, in Westfalen und der Rheinprovinz wollen die katholischen Vereine nichts von einer Gesellschaft wissen, in der für sie keine politische Rolle zu spielen ist. Im Süden sträubt sich der aristokratische, und noch mehr der demokratische Partikularismus gegen alles, was er vor vierzig Jahren mit lautem Geschrei ersehnt hat, und dazu rechnet man ohne alles Bedenken einen unpolitischen Reichsverein für Landwirtschaft. Denn daß etwas leben könne im Deutschen Reich, das nicht Politik treibt oder von Politik getrieben wird, ist all diesen Herren ganz undenkbar, vermutlich weil unser deutsches politisches Leben sein Reifezeugnis in so glänzender Weise bewährt.

Damit aber nicht genug. Die Sache hat auch Freunde. In zahlreichen liebenswürdigen Briefen – wenn ich Euch doch eine Blütenlese aus all dem geben könnte! – versichern sie mich allwöchentlich, daß sie kein Geld, keine Tatkraft, kein Vertrauen ineinander, keinen Gauben in die Zukunft hätten, daß sie alle zu überklug seien, um etwas zustande zu bringen und daß sie infolge dieser Klugheit entdeckt hätten, daß jede Initiative aus Selbstsucht hervorgehe und deshalb zu bekämpfen sei, wo immer sie sich zeige. Überdies sei keiner der klugen Herren, die im Süden geboren seien, fähig, einen aus dem Norden zu verstehen, und nie werde einer aus dem Westen mit einem andern aus dem Osten harmonieren; die Interessen seien so völlig verschieden. Dabei verschnupfe die unerträgliche Schwatzhaftigkeit der einen die andern, während die Unfähigkeit dieser, einen zusammenhängenden Satz zu bilden, jenen ein beständiges Ärgernis bleibe. Wollt Ihr weitere Auszüge haben? Ich denke, es ist genug.

Auf meiner Rückreise nach Bonn besuchte ich in Heidelberg Professor Stengel, eine Leuchte landwirtschaftlicher Gelehrsamkeit, den ich gar zu gern für die Sache gewonnen hätte. Er empfing mich mit der größten Liebenswürdigkeit und sprach wie ein Buch, verzweifelte aber an der Zukunft der Welt, weil sie sich seit drei Jahren in Baden nicht dreht, wie er es wünscht. Es ist merkwürdig, wie viele Leute man hierzuland trifft, die alles Heil vom politischen Leben erhoffen und untröstlich sind, seitdem sie entdeckt haben, daß sich die Menschheit nicht von der politischen Rednerbühne herab kurieren läßt. Warum ist dies anders in England, wo man doch etwas mehr von Politik verstehen sollte? Mein verehrter Professor lächelte mit wirklichem Mitleid über meine Phantasien, wollte sogar mittun, wenn es mir Vergnügen mache; aber Erfolg –! Es war der einzige Satz, den er nicht zu Ende brachte.

Auch in Frankfurt besuchte ich einige Herren der dortigen kleinen landwirtschaftlichen Kreise mit einem Hintergedanken, den ich ihnen noch nicht mitzuteilen wagte: wie wäre es, wenn der neue Reichsverein mit seinen Ausstellungen in der alten Kaiserstadt beginnen würde? Auch dort konnte ich den Präsidenten des Landwirtschaftlichen Vereins, Stadtrat Heinecke, nicht aus dem politischen Volkswirtschaftsnebel herausziehen und mußte wohl oder übel mit ihm ein Stündchen drin spazieren gehen. All diese ersten Besuche führen, wie ich nunmehr aus Erfahrung weiß, zu nichts, als daß die Herren nachträglich in ihren Papierkörben nach meinen früheren Briefen und Drucksachen suchen, sie dann gelegentlich lesen und bei einer späteren Begegnung anfangen, darüber nachzudenken. – Ein Glück ist's, daß ich es noch nicht aufgegeben habe, Geduld für eine Tugend zu halten.

Bei meiner Ankunft in Bonn fand ich einen prächtigen Brief von einem andern landwirtschaftlichen Schriftgelehrten. Er macht mir drei Seiten lang die bittersten Vorwürfe. Mein Plan der Selbständigkeit, der Unabhängigkeit von Staatshilfe sei grundverkehrt. Wer bezahle die Steuern? Zumeist die Bauern. Wem bezahle er sie? Dem Staat. Sei es nicht eine heilige Aufgabe jedes Bürgers dieses großen Deutschen Reichs, dem Staat fort und fort nahezulegen, seine Pflicht zu tun und das Geld des Bauern diesem wieder zuzuführen? Nicht der Bauer sei zu ermahnen, sich selbst, sondern der Staat, dem Bauern zu helfen. Dazu habe er das Geld. – Gut, daß ich noch immer annähernd weiß, wo mir der Kopf steht.

Trotz alldem ist eine Leonidasschar von Zweihundertundfünfzig bereit, fürs Vaterland in den Kampf zu ziehen, und ich konnte mit frohem Mut das neue Jahr antreten. Man darf ein großes Volk nicht nach Einzelerscheinungen beurteilen, wenn sie uns noch so massenhaft begegnen. Sucht man lange genug, so finden sich unter der Masse sicher auch die guten Kernchen, welche überall die Saat der Zukunft bilden. »Nichts bewundern,« heißt ein altes blasiertes lateinisches Sprichwort; »nicht verzweifeln« ein neues deutsches, das ich im Laufe dieses Januars gelernt habe und festhalten will bis zum Januar 1886.

Meine Berliner Freunde sagen mir, im Februar seien große Versammlungen von Landwirten, richtiger gesagt, von Spiritusbrennern in der Reichshauptstadt. Das sei die beste Gelegenheit, auch das Provisorium des Reichsvereins in die Welt zu setzen. Ich kümmere mich deshalb um nichts mehr als um den 13. Februar, an dem das Kreisen beginnen soll. Es ist wohl natürlich, daß mir etwas bange ist.


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