Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Dritter Teil. Meisterjahre
Max Eyth

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97.

Flims, den 26. Juli 1893.

Mache Dich reisebereit, ohne Verzug und Bedenken. Dein Ahnenschloß steht noch; nicht das ganz alte aus dem vierzehnten Jahrhundert, von dem ich keine Spur mehr finde, aber doch ein jüngeres aus dem siebzehnten, das in dieser entarteten Zeit die Enkelin des stolzen Geschlechts derer von Capoll gegen ein Trinkgeld von einem Franken auch im Innern besichtigen kann.

Es packt mich ein eigentümliches Gefühl, das mir selbst bis in die jüngsten Tage unbekannt war, wenn ich in Kirchen, an Stadttoren und auf Grabsteinen entlang dem Oberrhein den fliegenden Pfeil des Geschlechts entdecke, das seinerzeit hier geherrscht hat. Wie alles anders geworden sein muß, seitdem die alten Herren sich nach Ulm, nach Mailand, selbst – und nicht ruhmlos – nach England verloren haben und jetzt zurückkommend – ich gehöre doch auch halb und halb zur Sippe – einen Franken bezahlen, um die Stelle zu sehen, wo die Wiege ihrer Vorfahren gestanden hat.

Doch ist der Himmel noch blau, die Matten grün, die Gletscher silberweiß, wie vor Jahrhunderten; auch ist all das noch heute bereit, uns frischen Mut und neue Lebensfreude einzupflanzen, wie in jenen Zeiten, in denen sie nach alter Schweizer Weise hinausgezogen waren in die weite Welt und zurückkehrten, so oft es ihnen draußen zu unbehaglich geworden war. Genau wie wir heutzutage. Diesmal aber sollst Du mich führen in einer Umgebung, der Du selbst um eine Stufe näher stehst als ich, obgleich Du sie zum erstenmal sehen wirst. Wenn wir dabei die Gegenwart und das ganze neunzehnte Jahrhundert auf ein paar Wochen vergessen, wird uns beiden wohler werden, und die alten Capoll haben ihren späten Nachkommen einen letzten, köstlichen Dienst geleistet. Mach Dich also auf. In drei Tagen kann der Ritt ins Land der alten Romantik, das uns so nahe liegt, losgehen! Nicht jeder, hochwerte Rittersfrau, dampft in seine Sommerfrische mit solchen Aussichten.


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