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Der Bär und die alte Dame

(Frühling 1914.)

Halb eins, die Stunde, da die Mitglieder des Parlaments ihr Mittagbrot einnehmen. In einem Restaurant unweit der Madeleine essen neben uns zwei Herren, deren Namen ich nicht kenne. Doch ist es nicht schwer, vorherzusagen, daß sie nach ihrer Zigarre, sobald sie ihre Tasse Kaffee und ihr Glas Kognak zu sich genommen haben, die Brücke überqueren und sich in das Abgeordnetenhaus jenseits der Seine begeben werden … Korrekt gekleidet, halten sie sich schlecht wie alle Leute, die nur während der Mahlzeiten ein wenig Ruhe genießen. Sie stützen die Ellbogen auf den Tisch, setzen sich quer auf den Stuhl, spielen mit einem Obstmesser, als wäre es ein Papiermesser, und sind völlig gleichgültig gegen alles, was rings um sie vorgeht. Mit vorsichtiger und dabei gelangweilter Miene sprechen sie über Politik, halblaut nur, doch kann ich trotzdem Namen und Wendungen verstehen, die diese Woche hundertmal gedruckt wurden und in aller Munde sind: »Kombination Viviani … Schritt bei Doumergue … Peytral … Ribot … Bourgeois …«

Sie geraten in Hitze, und der Sinn ihres Gespräches wird mir wider Willen klar.

»Verhandlungen! Sie nennen das Verhandlungen! Sie sind sehr höflich …«

»Ich versuche …«

»Von Verhandlungen ist nicht die Rede, mein Lieber. Jeder stellt ein Ultimatum, und das in einem Ton! Die Leute sind erstaunlich! Einer äußert sich entschiedener als der andere. Dieser gibt durchaus nicht zu, jener kann auf keinen Fall dulden. An Soundso eine Frage richten, heißt, ihn tödlich beleidigen. Dingsda droht, man weiß nicht recht, im Namen welcher Person oder Sache; beim geringsten Widerspruch beginnt er zu brüllen, bringt keinerlei Vernunftgründe mehr vor, sondern gefällt sich in einem Kriegstanz oder einem wahnwitzigen Klagegesang. X. drückt sich in Sätzen aus, die sämtlich wie Bannflüche klingen …«

»Und was das Schönste dabei ist: Sähe man nur ein bißchen genauer zu, so würde man entdecken, daß X. im Grunde so gut wie gar keine Rolle spielt, Dingsda keinerlei politische Vergangenheit hat, ja nicht einmal in der Finanzwelt etwas gilt, daß niemand hinter Soundso steht und seine Drohungen hinfällig sind … Aber man sieht nicht genauer zu. Man zittert. Die Schreier haben das Heft in der Hand.«

Ermüdet schweigen die beiden Männer einen Augenblick lang, und in mir steigt der Wunsch auf, mich zudringlich in ihr Gespräch zu mischen. Ich unterdrücke ihn, doch würde ich ihnen zu gerne eine Geschichte erzählen, eine durchaus wahre Geschichte, die mir bei ihren letzten Worten eingefallen ist – die Geschichte von dem Bären und der alten Dame.

Eine alte Dame, Polin, lebte – ich spreche von einer Zeit, die etwa fünfzig Jahre zurückliegt – in einer Gegend Österreichs, in deren dichten alten Wäldern man noch Bären und Wölfe fand. Man fing da eine Bärin, die sich verletzt hatte. Die Dame ließ das Tier bei sich im Hause pflegen, bis es wieder gesund war, und es wurde so zahm, daß es ihr wie ein Hund folgte und auf dem Teppich des Salons schlief.

Eines Tages ging die alte Dame durch den Wald nach einem ihrer Meierhöfe. Plötzlich bemerkte sie, daß Mascha, die zahme Bärin, hinter ihr herlief.

»Nein, Mascha,« sagte sie, »du kannst nicht auf das Gehöft mitkommen. Geh nach Hause zurück.«

Mascha wollte nicht gehorchen, und die alte Dame mußte sie selbst zurückführen, um sie unter guter Obhut im Salon einzuschließen.

Im Walde hört sie aber aufs neue dumpfe Tritte auf den Tannennadeln. Sie dreht sich um und sieht Macha daherlaufen. Im Trab kommt das Tier wieder heran und bleibt vor ihr stehen.

»O Mascha,« ruft die alte Dame, »ich hab' dir doch verboten, mitzukommen! Ich bin sehr böse auf dich! Du gehst sofort nach Hause zurück! Vorwärts, marsch!«

Diese Rede unterstützt sie, tapp-tapp, durch zwei kleine Schläge mit ihrem Sonnenschirm auf Maschas Schnauze. Das Tier betrachtet seine Herrin mit unentschlossenem Blick, macht einen Sprung zur Seite und verschwindet im Wald …

»Das hätte ich nicht tun sollen«, überlegt die alte Dame. »Mascha wird überhaupt nicht mehr nach Hause zurückwollen, ich habe sie geärgert. Sie wird die Schafe und die Rinder in Schrecken versetzen … Ich will noch einmal nach Hause zurückgehen und Mascha suchen lassen.«

Sie kehrt also wieder um. Als sie die Tür des Salons öffnet, sieht sie Mascha–Mascha, die sich nicht von der Stelle gerührt hatte, sondern brav auf dem Teppich schlief! Das Tier im Wald war ganz einfach ein anderer Bär gewesen. Er hatte die alte Dame auffressen wollen. Als er jedoch zwei Schläge mit dem Sonnenschirm bekam und wie ein Hündchen zurechtgewiesen wurde, hatte er sich gesagt:

»Diese strenge Person besitzt offenbar eine geheimnisvolle und unbegrenzte Macht … Fliehen wir!«

Trotzdem: Wenn der andere Bär, der wilde Bär im Walde, gewußt hätte, daß die energische alte Dame in Wirklichkeit nur mit einem Sonnenschirm aus rosa Kattun bewaffnet war … was dann?


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