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Als ich sie kennenlernte, wohnte sie in einem düsteren alten Garten, einem vergessenen Garten zwischen zwei Neubauten, schmal und lang wie eine Schublade. Sie ging nur nachts aus, denn sie fürchtete die Hunde und die Menschen, und dann wühlte sie in den Mülleimern. Wenn es regnete, schlüpfte sie hinter das Gitter eines Kellerfensters und drückte sich an die verstaubten Scheiben. Aber der Regen drang bald bis in ihre Zufluchtsstätte, und sie zog geduldig die Pfoten unter sich, die mageren Pfoten einer herrenlosen Katze, die fein und hart waren wie die eines Hasen.
So verharrte sie lange Stunden. Von Zeit zu Zeit hob sie die Augen gegen den Himmel oder gegen meinen hochgezogenen Fenstervorhang. Sie sah nicht bedauernswert und auch nicht verschreckt aus, denn ihr Elend war nicht die Folge eines unglücklichen Zufalls. Sie kannte mein Gesicht, aber sie bettelte nie. Aus ihrem Blick war nichts anderes zu lesen, als daß Hunger, Kälte und Nässe sie quälten und daß sie geduldig auf die Sonne wartete, die die verlassenen Tiere vorübergehend einschläfert und heilt.
Einige Male drang ich in den Garten ein, wobei ich mir zwischen den Brettern des alten Zaunes den Rock zerriß. Die Katze floh nicht vor mir, aber sie entschlüpfte wie ein Aal, wenn ich sie berühren wollte. Nach meinem Abgang wartete sie heldenmütig darauf, daß der Luftzug in dem alten Garten meinen Geruch und den Widerhall meiner Schritte verwehe. Dann fraß sie das Fleisch, das ich neben das Kellerfenster gelegt hatte. Sie verriet ihre Gier nur durch ein Zucken des Halses und ein Zittern des Rückgrats.
Sie gab dem Schlafbedürfnis gesättigter Tiere nicht gleich nach, sondern versuchte erst, ein wenig Toilette zu machen. Ihr graues Kleid mit schwarzen Streifen, ein ärmliches, borstiges Kleid, war schwer in Ordnung zu bringen, denn wenn Katzen nichts zu fressen haben, mangelt es ihnen an Speichel und sie waschen sich auch nicht …
Es wurde Februar, und der umgitterte, alte Garten sah aus wie ein Käfig voll kleiner Raubtiere. Kater aus den Kellern und von den Dachgiebeln, von den Müllhaufen, von wüsten Plätzen, Kater mit krummem Rücken und schäbigem Hals, verhungerte Kater ohne Ohren und Schwanz, fürchterliche Rivalen der Ratten, Kater der Krämer und Milchfrauen, fett und schwer und schnell außer Atem, schwarze Kater mit seidenem, rotem Halsband, und weiße Kater mit blauem Perlenkollier …
Nachts hörte ich ihre Liebes- und Kampfgesänge … Zarte, melodische Klagen zuerst, langgezogen, sanft und fern. Dann ein ironischer Ruf, die Herausforderung an den Rivalen. Und sofort darauf die Antwort in gleichem Ton. Dies, um ein endloses Zwiegespräch einzuleiten, begleitet von keiner anderen Mimik als dem Spiel der bald aufgestellten, bald zurückgelegten Ohren, der nun geschlossenen, nun wieder geöffneten Augen und des ausdrucksvoll drohenden Lächelns mit gefletschten Zähnen. Zwischen zwei Schreien immer wieder ein lautes Schnauben … Plötzlich ein unvorhergesehenes fürchterliches Crescendo, ein Röcheln, das Gemisch zweier rasender Stimmen in den Lüften, der Stimmen zweier Dämonen, die, von einem Wirbelsturm ergriffen, dahingerollt werden … Dann Stillschweigen. Der nächtliche Wind in dem kleinen Garten, das Geräusch von Krallen, die sich an einem Baumstamm festhaken, und nun der sanfte Gesang der Katze, der gleichgültigen, um deretwillen die Kater einander zerfleischt haben, die Stimme meiner mageren Katze, die ganz erschöpft ist von Liebe und Entkräftung …
Der tragische Sturm der Wollust ließ endlich nach. Ich sah die graue Katze wieder, ausgemergelt, glanzlos, scheuer denn je, beim leisesten Geräusch zusammenzuckend. In dem Sonnenstrahl, der mittags bis in den Grund des dunklen Gartens tauchte, schleppte sie sich dahin mit täglich schwerer werdenden Flanken, bis ich sie eines regnerischen Morgens entdeckte, wie sie, erschöpft und fieberhaft, fünf kräftige Kätzchen stillte, die gleich ihr auf nackter Erde geboren worden waren.
Ich hatte auf diese Stunde gewartet. Sie übrigens auch, denn ich brauchte die Kleinen nur in mein Kleid zu nehmen, und die Mutter folgte mir.
Sie heißt »Prrou« – beim Aussprechen des Namens rolle man die rr, bitte sehr. Sie hat uns nämlich ihren Namen gesagt. Sie schnurrt ihn den ganzen Tag rings um das schwarze Kätzchen, das wir ihr gelassen haben: »Prrou, prrou.«
Sie lebt in der Bretagne, auf der warmen Terrasse, am Rand der Wiese, die sich gegen den Strand hinzieht. Ihr Gebiet, das sie sich selbst abgegrenzt hat, reicht von der Terrasse bis zur blühenden Jasminhecke, hinter der sich eine Ziegelmauer verbirgt. Niemals geht sie weiter als bis zu den großen Linden, die mein Haus aus roten Backsteinen beschatten. Ob sie wohl weiß, daß unterhalb der Terrasse ein rastlos bewegtes Meer wogt, ein Meer von wechselnder Farbe, blau und grün im Sonnenschein, violett unter dem Gewitter, grau in der Morgendämmerung? Ich bezweifle es.
Unsere »Prrou« in ihrem bescheidenen Kleid, von der keiner etwas verlangt, hat es sich in den Kopf gesetzt, uns ein Vorbild der grauesten Tugenden zu sein. Sie ist sauber, sanft, demütig und erzieht ihren einzigen Sohn würdevoll. Sie kann noch mehr: Sie macht uns etwas vor. Mit reizendem Takt und stets wacher Schlauheit spielt sie immer noch die arme Katze, »die so unglücklich gewesen ist«. Fett und rund geworden, hat sie den Blick der hungrigen Katzen beibehalten. Die Köchin nennt sie »armes Tier«.
Sie schläft nun auf einem weichen Kissen, doch stets in der fröstelnden Stellung einer, die im Freien nächtigt. Sie macht uns Platz, wenn wir an ihr vorüber wollen, doch auch wir weichen zurück, das Herz von Mitleid zerrissen, und flehen sie an, sich um Gottes willen nicht stören zu lassen. Es geschieht manchmal, daß ihr jemand ganz leicht auf die Pfoten oder auf das Schwanzende tritt. Dann stößt sie einen kurzen, rauhen Schrei aus, schnurrt aber gleich darauf stoisch, mit dem Ausdruck einer Märtyrerin, so daß wir zu klagen beginnen: »Armes Tier! daß dir auch das noch geschehen mußte, dir, die du so unglücklich gewesen bist!«
Vom niedrigsten Zweig einer Linde hängt an einem Bindfaden ein Kork herab und bewegt sich im Wind. Prrou belauert ihn, und manchmal stürzt sie verrückt, von Spiellust ergriffen, darauf los. Erblickt sie uns aber, so drückt ihr dreieckiges Gesichtchen sofort Entsagung und Bitterkeit aus: »Was tat ich? Zu welch leichtsinniger Handlung habe ich mich hinreißen lassen, ich, die ich so unglücklich gewesen bin? Solche Spiele passen nicht zu meiner gesellschaftlichen Stellung. Ach, fast hätte ich es vergessen!«
Ihren schlecht gekämmten und teuflisch schwarzen Sohn behütet sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit, liebkost ihn und flüstert ihm unzählige Male das einzige Wort zu, das sie sagen kann: Prrou, prrou … Sind wir jedoch in der Nähe, setzt sie eine strenge Miene auf und verabfolgt ihm beim geringsten Anlaß ein Dutzend heftiger Ohrfeigen –: »So muß ein armes Findelkind erzogen werden!«
Bewundert bitte, gleich mir, die durchtriebene Prrou. Seht nur, wie ihr kurzhaariges Kleid die Farbe einer grauen Schnecke oder eines Nachtfalters nachahmt. Ein dreireihiges schwarzes Kollier ziert ihre Brust, der schlichte Schmuck einer würdigen Gouvernante. Schwarz sind auch die Armbänder an ihren feinen Pfoten, ebenso die doppelte Reihe regelmäßig verteilter Flecken, durch die das strenge Kleid am Bauch zugeknöpft zu sein scheint. Prrou ist trefflich gekleidet, oder richtiger gesagt, sie ist verkleidet.
Ihre Haltung ist so bescheiden, ihr Fell so schlicht gefärbt, daß ihr vielleicht gar nicht bemerkt habt, wie hart und grausam ihr Schädel ist, wie bedrohlich ihre kräftigen Pfoten, in denen sich gebogene Krallen verbergen, wohlgepflegt und kampfbereit, wie breit ihre Brust, wie beweglich ihre Lenden, kurz, daß ihr nichts von der verborgenen Schönheit dieses kraftvollen Tieres ahnt, das für Liebe und Kampf geschaffen ist …