Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Das? … Das ist eine zerbrochene Vase. Weiß Gott, es ist eine zerbrochene Vase. Wer sie zerbrochen hat? Ihr fragt mich, wer sie zerbrochen hat? Keine Ahnung.
Aber nein, ich weiß es wirklich nicht! Warum schaut ihr mich denn so zweifelnd an? Bin ich denn eine Katze, ein Tier, das zwischen Blumentöpfen herumstreicht? Habe ich die Gewohnheit, Vasen zu zerbrechen? Auf Tische zu springen? Ihr wißt sehr wohl, daß ich keinerlei Angewohnheiten habe – außer der zu lügen.
Ihr könnt gern mit dem Finger drohen, den Kopf schütteln und dazu sagen: ›Poucette, Poucette! Ich werde die Peitsche nehmen müssen!‹ Es kommt mir wirklich nicht zu, euch aufzuklären. Nehmt nur die Peitsche und schlagt damit zunächst einmal in die Luft … Aber erhofft euch ja nicht, daß mein Gesicht mich verrät, dieses ausdrucksvolle und schwer zu begreifende Gesicht einer verlogenen Hündin!
Ich halte euren forschenden Blicken, unschuldsvoll gefaltet, die harmloseste Bullterrierschnauze der Welt entgegen. Von meinem wulstigen Nacken bis zu meiner kleinen Kuhwamme gibt es keine Falte, Einbuchtung oder Runzel, die nicht Vertrauen einflößte. Und erst die hervorstehenden Augen, gelb wie Gold, frei und offen! Und die gutmütige Lippe, die herabhängende, schwarz glänzende! Und die stolzen Ohren, die Ehrlichkeit und Wachsamkeit ausdrücken! Unter dem Schutz einer so schönen Maske lüge ich.
Ich lüge am Tag und in der Nacht, wenn ich atme und wenn ich esse, wenn ich lache und wenn ich böse bin. Ich lüge, seit ich die Augen aufgeschlagen habe, seit die kurzen Pfoten unter meinem tonnenförmigen Bauch laufen können.
Alle Tiere belügen euch, o schwerfällige Zweifüßler! Glaubt ihr, daß die weiße Windhündin, die wie ein Flammenstrahl über den erhobenen Stock springt, die ganze Kraft ihrer mächtigen Schenkel verschwendet? Ihr werft der Katze den Ball zu, und sie springt absichtlich ungeschickt, damit er unter den Lehnstuhl rollt. Ich winsle vor der geschlossenen Tür, als ob ich nicht mit einem Sprung die Klinke erreichen und herunterdrücken könnte …
Alle Tiere belügen euch. Aus Vorsicht, aus Weisheit, manchmal aus Furcht. Ich aber finde mein Vergnügen daran und lüge mit mehr Geist und Vollendung als andere meinesgleichen. Seit ich hier wohne, ist euer stilles Haus nicht mehr zu erkennen. Eine entzückende Unruhe herrscht darin, sie belebt es vom Boden bis zum Keller. Dank mir fließt der Tag dahin wie ein langes Spiel: Eine heitere Komödie beginnt in der Küche, setzt sich im Eßzimmer durch eine fromme Pantomime fort, verwandelt sich im Garten zum Drama und endet abends am Kamin mit Tränen. Mannigfaltige Schreie, meinen Ohren angenehm wie Gesang, dringen aus den Fenstern, wirbeln die Windungen der Treppe hinauf wie bunte Blumen.
›Wo ist der Kaminbesen? Eben war er noch da! – Hier ist er, aber ohne Borsten. Sie sind abgenagt. Wer hat sie abgenagt? – Die Schäferhündin! – Nein, die heimtückische Lola. – Nein, es war sicher Poucette! – Poucette! Poucette! Wo ist Poucette? – Der Teppich … oh, der Teppich ist naß! Wer hat den Teppich naß gemacht? Schon wieder die Katze? – Nein, die Katze ist oben … Natürlich Poucette! – Aber ich hab' sie doch eben in der Küche gesehen … – Und hier die chinesische Vase, die ist zerbrochen! – Was kümmert mich die chinesische Vase! Das kalte Huhn ist verschwunden …! – Aber wo ist nur Poucette? Poucette! Poucette!‹
O göttliches Geschrei, Gebelle, beleidigtes Miauen, leichte Füße, die von einem Stockwerk nach dem andern laufen! Wenn das Fest seinen Höhepunkt erreicht hat, erscheine ich. Langsam, mit hochgezogenen Augenbrauen, trunken von harmlosem Schlaf und behängt mit irgendeinem herumliegenden Stückchen Decke. Unvorsichtig und erstaunt beschnüffle ich den runden Fleck auf dem Teppich, die Scherben der chinesischen Vase. Welcher Verdacht würde standhalten beim Anblick meines plötzlichen Tanzes, meines kindlich heiteren Spieles mit den Überresten an der Unglücksstelle?
Manchmal seid ihr dennoch im Zweifel und wollt mich bestrafen. Ihr geht ohne mich spazieren … Geht nur, geht! Ich beobachte, wie ihr aufbrecht. Ich jammere nicht. Der Blick, der euch folgt, ist der eines Märtyrers. Aber eines bescheidenen Märtyrers. Ich trage mein Märtyrertum nicht zur Schau … Höchstens, daß ihr mich bei eurer Rückkehr ein wenig matt findet, betrübt und appetitlos … Ich bitte euch, beachtet das nicht! Wenn ich heute abend mein Futter zurückweise, so ist das reiner Zufall …
Am nächsten Tag ruft ihr mich zum Spaziergang, als ob ich drei Kilometer weit weg wäre. Ein Geschrei ist das! ›Poucette! Poucette! Spazierengehen! Spa – zie – ren – gehen!‹ Spazierengehen? Wirklich? Ist euch so sehr darum zu tun? Nun gut, meinetwegen. Aber nicht zu weit. Höchstens bis zum Ende der Allee, bis zu jener Ecke dort … ›Nun, Poucette, komm herüber! Worauf wartest du denn?‹
Worauf ich warte? Ich warte auf den Tod. Flach auf das Pflaster hingestreckt, wie ein Frosch, der von einem Wagen überfahren worden ist, liege ich zitternd zu euren Füßen. Die geringste Bewegung eurer Arme entreißt mir erstickte Schreie. Wenn ihr mich am Halsband zieht, so schleift ihr einen Lappen hinter euch her, eine sterbliche Hülle, aus der fast alles Leben gewichen ist, das Fell einer Bullterrierhündin, die vor Schreck die Besinnung verloren hat.
›Poucette! was hat denn das Tier nur? Was hat sie denn?‹
Und die Stimme einer empörten Volksmenge antwortet euch. Der Lastwagenkutscher, der herumlungernde Bäckerjunge, der Schlosser im blauen Arbeitskittel, der Schuljunge im Regencape, die alte Dame mit gestopften Zwirnhandschuhen, die kleine Frau, die Tiere so sehr liebt, sie alle sind stehengeblieben, neigen sich zu mir herab und sagen in strengem Ton:
›Was das Tier hat? Das ist nicht schwer zu erraten, was es hat … Armes Tier! Besser wäre es, sich keine Hunde zu halten, als sie halb tot zu schlagen! Eine bedauernswerte Kreatur! Manche Leute haben wirklich kein Herz!‹ …
Ich bin abscheulich, was? Ihr seid mir böse? Ach, macht keine traurigen Augen, schüttelt nicht den Kopf: ›Poucette, Poucette …‹ Nehmt mich wie ich bin, erfüllt von teuflischer Bosheit und verlogen, verlogen, verlogen! …
Liebt mich so, wie ich bin. Ich liebe euch auch so, wie ihr seid … Nein? Ihr glaubt mir nicht? Meine warmen Zärtlichkeiten scheinen euch nun auch geheuchelt? … Aber wenn ich euch heute bei eurer Rückkehr mit rauhem Gebelle begrüße und noch lange schmolle, wenn ich euch schließlich zahllose Beweise meiner allertheatralischesten Abneigung gebe, dann werdet ihr doch wenigstens wissen, daß die verlogene Hündin euch liebt?« …