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(Antwerpen, Frühling 1914.)
Der Anblick wilder Tiere im Käfig ist eine Qual. Trotzdem vergißt man im zoologischen Garten von Antwerpen manchmal, sich zu sagen: »Wie sind sie so elend gefangen!« und ruft: »Wie sind sie schön!« Es ist da ein Tigerpaar, dessen Kleid so frisch glänzt, als läge noch der Tau der Dschungel darauf, rot, schneeweiß, mit tiefschwarzen, scharf gezeichneten Streifen bemalt. Starr abstehende Borsten verbreitern die muskeligen Backen, und im steifen Reiher des Schnurrbarts und der Brauen fehlt kein Haar.
Weder traurig, noch in ihr Schicksal ergeben, auch nicht gereizt, nehmen sie eine unaufhörliche Beleidigung hin: den Blick des Menschen. Doch ihre Rache ist, den Menschen zu vergessen. Während einer Zeitspanne von zwei Stunden haben sie nur ein einziges Mal in ein Menschenantlitz geblickt: in das des Wärters, der ihnen Nahrung bringt. Für den Menschen haben sie ein Gesicht ohne Gedanken, ein kaltes, halb geschlossenes Auge. Der prachtvolle Zorn, der darin aufleuchtet, geht über uns hinweg zu dem miauenden Puma gegenüber. Einer der beiden Tiger, das riesenhafte Männchen, erhebt sich vom Boden, drückt sich aufrecht gegen das Gitter, umklammert es. Ein kurzer, wutentbrannter Schrei erklingt durch den Raum – dann erinnert sich das Tier des Gitters und des Menschen, verlischt plötzlich, fällt zurück und legt sich wieder nieder.
Er ist ein wenig verliebt in die Tigerin, seine Frau, aber die Zeit ist noch nicht gekommen. Freundlich und kühl läßt sie es zu, daß er ihre runden Ohren und ihr empfindliches Rückgrat leckt. Mit einem Zittern, einem Brauenrunzeln, das menschlich und vornehm ist, wehrt sie schließlich der Liebkosung. Ihr Knurren klingt ganz leise, wie fernes Donnerrollen. Da entfernt er sich, heuchelt übertriebene Nachgiebigkeit, senkt die gestreifte Stirn und zeigt sich bereit zu warten, bis ihm ein Zeichen – ein seltsames Tigerinnenlächeln, streng und recht verächtlich – die brüderliche Annäherung wieder gestattet …
Ein wenig später dehnen die beiden Tiere ihre Lenden, die großen Pfoten vermengen sich im unschuldigen Spiel junger Katzen, und man könnte die Gefangenschaft, das Elend dieser mächtigen Geschöpfe vergessen, wenn sie nicht immer wieder den Kopf zum Himmel emporhöben – diese trostlose Bewegung ist schlimmer als das krankhafte Hin- und Wiederlaufen von einer Wand zur andern – sie ist ein Ruf an das Licht, an den freien Wind, ist ein Gebet des gefangenen Tieres, das bis zum Tode auf Befreiung hofft …
Die schwarze Pantherin, kleiner, rastlos, läßt sich dazu herab, uns zu bemerken und uns zu fluchen. Wenn ich »Kchch!« mache, erwidert sie »Kchch!« und ohrfeigt ungerechterweise ihren Gatten. Fluchend springt sie plötzlich los, denn sie hat nach dem Käfig der Pumas hinübergeblickt. Den Wärter schnaubt sie zornig an, sie findet, daß er die Stunde der Mahlzeit allzusehr hinausschiebe. Eine fieberhafte Unruhe ist in ihr, eine Gier nach allem, was ihr fehlt. Man träumt bei ihrem Anblick einen einfachen Traum. Man möchte eines Abends ihren Käfig öffnen und zu ihr sagen: »Da …, da …, armer Dämon, da hast du eine helle Nacht und feuchtes Gras, auf dem du wilde Sprünge vollführen kannst, und ein frisch geschlachtetes Schaf, das die Menschen morgen essen sollten, und ein paar dumme Hennen, armer Dämon, damit du endlich weißt, was Wohlsein ist, gesättigtes Schnurren und friedliche Ruhe …«
Friedliche Ruhe … Das ist das Gut derer, die für alle Zeit einen Teil ihres Schicksals gewählt, den anderen aber verworfen haben. Keines unter den Geschöpfen hier hat entsagt, trotz des täglichen Fleisches, des reinen Wassers, der Sägespäne und des Sandes in den wohlgesäuberten Käfigen … Dennoch streckt eine Löwin, auf dem Rücken liegend, ihre weichen Pfoten dem Wärter hin, der ihr die blonde Kehle kraut, blickt ihn mit treuherzigen Augen an …
Drei Leoparden mit samtigem, geflecktem Fell, die im zoologischen Garten geboren sind, rollen fröhlich einen Fußball umher, und eine ganz junge Leopardin kommt zutraulich heran, wenn man mit den Fingern schnalzt … Diese werden nicht von unheilbaren Erinnerungen gequält. Welchen Trost aber gibt es für das Leid des kleinen Blaufuchses, der ohne Unterlaß wimmert und stöhnt, für den Kummer des silbrigen Dachses, für die Traurigkeit der gefleckten Hyäne, die zärtlich Liebkosungen erbettelt?
Um fünf Uhr wird ein Wagen mit rotem Fleisch an die Käfige herangerollt, und die Stimme der Raubtiere übertönt jedes andere Geräusch. Der Geruch des Blutes erinnert sie an Kriegsspiele und geheiligte Tänze. Einer der drei Leoparden schüttelt sein Rippenstück wie einen Pantoffel, und der schwarze Panther züchtigt das seine, als ob es ein ungebärdiges Junges wäre. Die Tigerin aber klagt, daß sie keinen Hunger habe, aus gelangweilter Kehle ertönt ein ganz leises »möh«. Und der Löwe mit der schweren dunklen Mähne liegt auf seiner Beute und streicht, ohne hineinzubeißen, langsam und zart mit seiner rauhen Zunge über das rohe Fleisch …
In dem ganzen großen Raum hört man nun nichts mehr als die Geräusche einer riesenhaften Mahlzeit, knackende Knochen, kauende Zähne, schnalzende Zungen und Lippen. Bald wird die Nacht herabsinken und den Tieren einen raschen, von Träumen durchzitterten Schlummer bringen. Dann aber kommt das Wiedererwachen – das Erwachen im Käfig. Am nächsten Morgen und an allen folgenden, das Erwachen im Käfig. Und diese hier sind noch die glücklichsten unter allen gefangenen Tieren. Gutes Futter, gutes Lager, aber – der Käfig. Auch der Mensch lebt im Käfig? Zugegeben. Ich will gerne auch den Menschen bedauern. Aber der Mensch ist ein kleines Tier, die Wüste der Freiheit blendet und tötet ihn. Und dann ist der Mensch meinesgleichen, während diese hier … Ich kann nicht anders: ich muß mich fragen: »War nichts Besseres anzufangen mit dieser Kraft, dieser Schönheit, der Klugheit, die in diesen ruhigen Augen glüht, als sie in Käfige einzuschließen? Die Feindschaft des wilden Tieres ist vielleicht nur eine Erfindung des Menschen, aber ist sie nicht am Ende auch sein Werk? Der kleine Mensch ist listig, dabei aber wunderlich und von unsicherem Instinkt. Er hat – in eigennütziger Absicht – mit dem Büffel und dem stumpfen Ochsen Freundschaft geschlossen, mit dem Elefanten, dem wilden Hund, dem Wolf, selbst mit dem gefräßigen Schwein … Mehr noch: Die Buschkatze mit dem flachen Schädel und der Raubvogel jagen für ihn, treiben ihm das Wild zusammen. Ich träume zuweilen einen Traum – obgleich ich einmal in einem Zimmer eine gefleckte kleine Tigerkatze vor mir hatte, die nach der Peitsche biß, ohne Zorn, nur um mir zu sagen: »Warum sollte ich nachgeben und nicht du?« – ich träume zuweilen, daß ich der erste kluge Wilde sein könnte, der den Käfig zerschlüge, die Kette zerbräche und einen anderen Weg, den richtigen Weg fände, mit diesen schönen blutdürstigen Fürsten zu unterhandeln …